Bsw20116/12 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Zoletic u.a. gg. Aserbaidschan, Urteil vom 7.10.2021, Bsw. 20116/12.
Spruch
Art. 4 Abs. 2 EMRK - Fehlende staatliche Maßnahmen gegen Ausbeutung von Arbeitsmigranten.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK in seinem prozessualen Aspekt (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Die 33 Bf. wurden in Bosnien-Herzegowina von Vertretern des Bauunternehmens Serbaz als Arbeiter für Großbaustellen in Aserbaidschan rekrutiert. Die Firma organisierte die Reise der Bf. sowie deren Unterkunft während des meist rund sechs Monate dauernden Aufenthalts. Dieser beruhte in der Regel auf einem Touristenvisum, Beschäftigungsbewilligungen wurden bei den aserbaidschanischen Behörden nicht beantragt.
Nach der Landung in Baku mussten die Bf. ihre Reisepässe an Vertreter von Serbaz abgeben. Sie wurden unter schlechten sanitären Bedingungen in mehreren Häusern untergebracht. Die Firma sorgte für ihren Transport zu den Baustellen und zurück zu ihren Quartieren, die sie nicht ohne Erlaubnis verlassen durften. Verletzungen der strengen Regeln wurden mit Geldbußen, Schlägen und Einsperren geahndet.
Ab Mai 2009 wurde den Bf. ihren Angaben zufolge kein Lohn mehr ausbezahlt. Im Oktober 2009 begannen mehrere NGOs, sich um die Belange der Bf. zu kümmern. Diese unterstützten sie unter anderem mit Lebensmitteln und rechtlicher Beratung. Bis Ende November 2009 verließen alle Bf. Aserbaidschan. Offenbar bezahlte Serbaz zumindest einen Teil der Forderungen, gab die Reisepässe zurück und organisierte den Rückflug.
Nach ihrer Rückkehr brachte ein von den Bf. beauftragter Rechtsanwalt in Aserbaidschan eine Klage gegen Serbaz ein, mit der ausstehende Löhne und Entschädigungen für die rechtswidrige Behandlung geltend gemacht wurden. Das Bezirksgericht wies die Klage am 21.10.2010 mit der Begründung ab, die Bf. hätten nicht für Serbaz gearbeitet, sondern für dessen Mutterunternehmen Acora, an das daher die Forderungen gerichtet werden müssten. Dieses Urteil wurde vom Berufungsgericht Baku und vom Kassationshof bestätigt.
Mittlerweile war in Bosnien-Herzegowina ein Strafverfahren gegen leitende Angestellte von Serbaz wegen des Verdachts der organisierten Kriminalität in Verbindung mit Menschenhandel und Geldwäsche eröffnet worden. Im Zuge dieser Ermittlungen richteten die Behörden Bosnien-Herzegowinas mehrere Rechtshilfeersuchen an Aserbaidschan. Zu deren Beantwortung wurde unter anderem ein Bericht der Abteilung zur Bekämpfung des Menschenhandels des Innenministeriums übermittelt, wonach im Hinblick auf die von Serbaz beschäftigten Arbeiter keine Missstände festgestellt worden wären. 2017 wurden in Bosnien-Herzegowina zwei Angeklagte wegen Menschenhandel und organisierter Kriminalität verurteilt, weil sie als Vertreter von Serbaz Staatsangehörige Bosnien-Herzegowinas dazu gezwungen hatten, auf Baustellen in Aserbaidschan zu arbeiten.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 4 EMRK (hier: Verbot der Zwangsarbeit) durch das Versäumnis der Behörden Aserbaidschans, ihre Interessen zu schützen.
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK
(137) Die Bf. brachten [...] vor, sie wären Opfer von Zwangsarbeit und Menschenhandel gewesen. Sie hätten ohne Dienstverträge und Beschäftigungsbewilligungen in Aserbaidschan gearbeitet, ihnen wären die Reisepässe abgenommen worden und der Arbeitgeber hätte ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zudem wären ihre Löhne ab Mai 2009 [...] nicht mehr ausbezahlt worden. Außerdem brachten sie vor, der belangte Staat hätte es verabsäumt, seinen prozessualen Verpflichtungen nach der Konvention nachzukommen, und die innerstaatlichen Gerichte hätten nicht ausreichend begründete Entscheidungen getroffen.
(138) Der GH erachtet es [...] als angemessen, die Rügen der Bf. ausschließlich unter Art. 4 Abs. 2 EMRK zu prüfen. [...]
1. Zulässigkeit
a. Opferstatus
(140) [...] Jene 19 Bf. [deren Reisepässe keine Visa für Aserbaidschan enthielten oder die keine Kopien vorlegten] lieferten vor dem GH keine Erklärung für ihr Versäumnis, eindeutige Beweise für ihren Aufenthalt in Aserbaidschan vorzulegen oder zumindest konkretere Informationen über den Zeitraum zu liefern, während dem sie dort gearbeitet hatten. Dies wirft die Frage auf, ob diese Bf. ihre Behauptung, Opfer der mutmaßlichen Verletzung geworden zu sein, angemessen untermauert haben.
(141) [...] Alle Bf. einschließlich der 19 oben genannten legten eine gemeinsame Zusammenfassung über die Ereignisse vor [...]. Auf innerstaatlicher Ebene waren sie alle Partei der relevanten Verfahren und die nationalen Gerichte zogen nie ihre Behauptung in Zweifel, alle in Aserbaidschan gearbeitet zu haben. Außerdem behauptete auch Serbaz als Beklagte in diesem Verfahren nicht, dass irgendeiner der Bf. nicht zu den nach Aserbaidschan »entsendeten« Arbeitern gehört hätte. Auch die Regierung hat nicht [...] vorgebracht, dass irgendeiner der Bf. nicht in Aserbaidschan gewesen wäre.
(142) Angesichts dessen können nach Ansicht des GH alle Bf. geltend machen, Opfer der behaupteten Verletzung zu sein.
b. Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 2 EMRK
i. Zu den Begriffen der Zwangs- oder Pflichtarbeit und des Menschenhandels
(147) Der Begriff »Pflichtarbeit« [...] kann sich nicht einfach auf jede Form von rechtlichem Zwang oder rechtlicher Verpflichtung beziehen. So kann beispielsweise eine aufgrund eines frei vereinbarten Vertrags zu erbringende Arbeit nicht als in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fallend angesehen werden, nur weil eine der Parteien sich gegenüber der anderen zur Erbringung dieser Arbeit verpflichtet hat und Sanktionen unterworfen wird, wenn sie dieses Versprechen nicht erfüllt. Was gegeben sein muss, ist eine »unter der Androhung einer Strafe« erbrachte Arbeit, die gegen den Willen der betroffenen Person ausgeführt wird, für die sie sich also »nicht freiwillig angeboten« hat.
(148) Der Begriff der »Zwangs- oder Pflichtarbeit« [...] zielt darauf ab, gegen Fälle schwerwiegender Ausbeutung zu schützen, unabhängig davon, ob unter den konkreten Umständen ein Zusammenhang zum spezifischen Kontext des Menschenhandels besteht.
(149) Im Fall Chowdury u.a./GR [...] betonte der GH, dass wenn ein Arbeitgeber seine Macht missbraucht und die Verletzlichkeit seiner Arbeitnehmer ausnützt um sie auszubeuten, diese sich nicht freiwillig für die Arbeit anbieten. Wie der GH weiters betonte, reicht die vorherige Einwilligung des Opfers nicht aus, um auszuschließen, die Arbeit als Zwangsarbeit anzusehen [...].
(150) Um den Begriff der »Zwangs- oder Pflichtarbeit« iSv. Art. 4 Abs. 2 EMRK klarzustellen möchte der GH darauf hinweisen, dass nicht unbedingt jede Arbeit, die von einer Person unter Androhung einer »Strafe« verlangt wird, eine von dieser Bestimmung verbotene »Zwangs- oder Pflichtarbeit« darstellt. Es müssen insbesondere der Charakter und Umfang der umstrittenen Aktivität berücksichtigt werden. [...]
(152) [...] Menschenhandel beruht schon nach seiner Natur und seinen ausbeuterischen Zielen auf der Ausübung von Macht, wie sie mit dem Eigentumsrecht einhergeht. Er behandelt Menschen wie Güter, die ge- und verkauft und zur [...] Zwangsarbeit herangezogen werden können. Er geht mit einer engen Überwachung der Aktivitäten der Opfer einher, deren Bewegungsfreiheit häufig begrenzt wird. [...]
(154) [...] Wie der GH im Urteil [...] S. M./HR klargestellt hat, fällt das Phänomen des Menschenhandels in allen seinen möglichen Formen in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK insgesamt. Dementsprechend fällt der Begriff des Menschenhandels für den Zweck der Zwangs- oder Pflichtarbeit in den Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 2 EMRK.
ii. Fällt der vorliegende Fall in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK?
(156) [...] Wenn sich eine Rüge wie im vorliegenden Fall im Wesentlichen auf prozessuale Fragen bezieht, muss der GH prüfen, ob die Bf. [...] eine vertretbare Behauptung erhoben haben, einer [durch Art. 4 EMRK] verbotenen Behandlung unterworfen worden zu sein, oder ob dafür prima facie-Beweise vorliegen. Dies entspricht im Wesentlichen dem Zugang des GH in anderen Fällen, die insbesondere Art. 3 EMRK betreffen. [...]
(157) [...] Die Frage, ob eine konkrete Situation alle konstitutiven Elemente des »Menschenhandels« aufweist und/oder eine gesonderte Frage der Zwangs- oder Pflichtarbeit aufwirft, ist eine Tatsachenfrage, die im Lichte aller relevanten Umstände des Falls geprüft werden muss.
(159) Die Bf. beschwerten sich vor den innerstaatlichen Zivilgerichten darüber, dass ihnen [...] die Reisepässe abgenommen wurden, keine Beschäftigungsbewilligungen für sie erlangt worden waren, ihre Lebensbedingungen ärmlich und unhygienisch waren, sie keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung hatten, ihre Bewegungsfreiheit durch ihren Arbeitgeber eingeschränkt wurde, ihre Löhne nicht bezahlt und sie Strafen in Form von Geldbußen, Schlägen und Einsperren unterworfen wurden.
(160) [...] Die Sachverhaltsschilderungen der Bf. vor den nationalen Gerichten und vor dem GH waren [...] kurz und enthielten keine spezifischen Details zu den einzelnen Bf. [...]. Dennoch deutet die allgemeine Beschreibung der Arbeits- und Lebensbedingungen, so knapp sie in der Zivilklage der Bf. auch gewesen sein mag, auf mehrere Indikatoren für eine potentielle Behandlung hin, die mit Art. 4 EMRK unvereinbar war.
(161) Überdies verwiesen die Bf. sowohl vor den nationalen Gerichten als auch vor dem GH auf zusätzliches Material, das ihre Vorbringen unterstützte. Insbesondere verwiesen sie auf den ASTRA-Bericht, der eine detailliertere Schilderung der Vorwürfe betreffend die Behandlung von Arbeitern durch Serbaz bot und zusätzliche Informationen über die potentielle Situation von Zwangs- und Pflichtarbeit sowie Menschenhandel enthielt. (Anm: Dieser von drei NGOs aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien gemeinsam erstellte Bericht vom 27.11.2009 befasst sich eingehend mit von ehemaligen Arbeitern gegen Serbaz erhobenen Vorwürfen. Die dokumentierten Missstände bestätigen die auch von den Bf. geschilderten Lebens- und Arbeitsbedingungen.) [...] Die innerstaatliche Gerichte wurden ausreichend auf den ASTRA-Bericht hingewiesen.
(163) [...] Zwar kann der Bericht einer NGO für sich allein ohne weitere Ermittlungen keinen erheblichen Beweiswert haben. Angesichts des Fachgebiets der NGOs, die ihn erstellt haben, das in der Unterstützung von Wanderarbeitern und der Bekämpfung von Menschenhandel besteht, stellten die darin enthaltenen prima facie-Informationen allerdings Material dar, das die Vorbringen der Bf. untermauert.
(165) Wie der GH überdies feststellt, gab es weitere Informationen [...], die den innerstaatlichen Gerichten und anderen Behörden offensichtlich zur Kenntnis gebracht wurden [...], etwa [...] in den Rechtshilfeersuchen [...]. Sie alle enthielten bekräftigende Informationen betreffend Arbeiter, die sich während derselben Zeit Berichten zufolge in derselben oder einer ähnlichen Situation befanden wie die Bf. [...]
(166) [...] Die oben genannten Behauptungen über physische und andere Formen von Bestrafungen, das Zurückhalten von Dokumenten und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die mit drohenden Festnahmen durch die lokale Polizei wegen des irregulären Aufenthalts in Aserbaidschan (ohne Aufenthalts- und Beschäftigungsbewilligung) erklärt wurden, deuten auf möglichen physischen und mentalen Zwang und auf Arbeit hin, die unter der Androhung einer Strafe gewonnen wurde. Zudem offenbarten Behauptungen über die Nichtzahlung von Löhnen und über Geldbußen in Form von Lohnabzügen in Verbindung mit dem Fehlen von Aufenthalts- und Beschäftigungsbewilligungen eine potentielle Situation der besonderen Verletzlichkeit der Bf. als irreguläre Migranten ohne Ressourcen.
(167) Selbst unter der Annahme, dass die Bf. sich zur Zeit ihrer Rekrutierung freiwillig für die Arbeit angeboten haben und darauf vertrauten, ihre Löhne zu erhalten, deuten die oben genannten Vorwürfe darauf hin, dass sich die Situation später durch das Verhalten ihres Arbeitgebers geändert haben könnte. In diesem Zusammenhang erinnert der GH daran, dass Arbeiter sich nicht freiwillig für eine Arbeit anbieten, wenn ein Arbeitgeber seine Macht missbraucht oder die Verletzlichkeit seiner Arbeitnehmer ausnützt, um sie auszubeuten. Die vorherige Einwilligung des Opfers reicht nicht aus, um die Einordnung der Tätigkeit als Zwangsarbeit auszuschließen. Der GH nimmt auch die Vorwürfe betreffend übermäßig lange Schichten, mangelhafte Verköstigung und medizinische Versorgung und das allgemeine Bild einer von Zwang geprägten und einschüchternden Atmosphäre bei Serbaz zur Kenntnis. Seiner Ansicht nach stellten all diese Vorwürfe zusammengenommen eine vertretbare Behauptung dar, dass die Bf. einer Arbeit unterworfen
wurden, die ihnen unter Androhung einer Strafe abgenötigt wurde und der sie sich nicht freiwillig unterworfen hatten. Es lag folglich eine vertretbare Behauptung einer »Zwangs- oder Pflichtarbeit« iSv. Art. 4 EMRK vor.
(168) Was das Vorliegen eines Falls von Menschenhandel betrifft, erinnert der GH daran, dass dafür alle konstitutiven Elemente des Menschenhandels (Handlung, Mittel, Zweck) vorhanden sein müssen. Was die »Handlung« betrifft, könnte die Tatsache, dass die Bf. in Bosnien-Herzegowina rekrutiert, von einem Privatunternehmen in Gruppen nach Aserbaidschan gebracht und in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht wurden, die sie angeblich nicht ohne Erlaubnis ihres Arbeitgebers verlassen durften, einen Fall von »Rekrutierung, Transport, Transfer, Unterbringung oder Empfang von Personen« dargestellt haben. Was die »Mittel« betrifft, deuten die Informationen im ASTRA-Bericht über die Umstände der Rekrutierung, insbesondere über das Fehlen angemessener Dienstverträge [...] und das Versprechen höherer Löhne als dann tatsächlich bezahlt wurden, auf eine mutmaßliche Situation hin, die eine Rekrutierung mittels Irreführung oder Betrug dargestellt haben könnte. Was den »Zweck« betrifft, zeigt die oben in Rn. 167 gezogene
Schlussfolgerung auch den potentiellen Zweck der Ausbeutung durch Zwangsarbeit.
(169) [...] Die Bf. haben somit [...] in ihren Vorbringen vor den innerstaatlichen Gerichten und dem GH das Bestehen einer »vertretbaren Behauptung« nachgewiesen, dass sie grenzüberschreitendem Menschenhandel und Zwangs- oder Pflichtarbeit in Aserbaidschan unter anderem durch mutmaßliche Täter, die Bewohner dieses Landes waren, unterworfen wurden. Der GH wird unten an der angemessenen Stelle untersuchen, ob sich die Bf. der angemessenen innerstaatlichen Rechtswege bedient haben, um Abhilfe zu erlangen, und ob ihre vertretbare Behauptung unter anderem den zuständigen Strafverfolgungsbehörden »ausreichend zur Kenntnis gebracht« wurde.
(170) Aus den oben genannten Gründen ist Art. 4 Abs. 2 EMRK anwendbar.
iii. Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(171) Die Regierung brachte weiters vor, die Bf. hätten es verabsäumt, die relevanten innerstaatlichen Rechtsmittel zu erschöpfen, weil sie keine strafrechtliche Anzeige [...] erstattet und keine zivilrechtliche Klage [...] gegen die richtige passiv legitimierte Partei erhoben hätten.
(175) [...] Die Frage der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe ist [...] mit der Prüfung in der Sache zu verbinden, da sie eng mit [...] dem behaupteten Versäumnis des belangten Staats zusammenhängt, seinen positiven Verpflichtungen zu entsprechen.
iv. Schlussfolgerung zur Zulässigkeit
(176) […] Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen […] Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2. In der Sache
a. Allgemeine Grundsätze
(180) Der Staat kann gemäß Art. 4 EMRK nicht nur für seine direkten Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch für sein Versäumnis, die Opfer von Sklaverei, Leibeigenschaft oder Zwangs- oder Pflichtarbeit effektiv zu beschützen [...].
(181) Fälle des Menschenhandels [...] betreffen typischerweise [...] die positiven Verpflichtungen des Staates [...]. Tatsächlich sind die Bf. in diesen Fällen üblicherweise Opfer von Menschenhandel oder damit im Zusammenhang stehendem Verhalten anderer Privater, deren Handlungen nicht die direkte Verantwortlichkeit des Staates nach sich ziehen können.
(182) Der allgemeine Rahmen der positiven Verpflichtungen gemäß Art. 4 EMRK umfasst (i) die Pflicht zur Einrichtung eines gesetzlichen und administrativen Rahmens zur Untersagung und Bestrafung des Menschenhandels; (ii) die Pflicht, unter bestimmten Umständen operative Maßnahmen zu ergreifen, um (potentielle) Opfer von Menschenhandel zu beschützen […]; und (iii) eine prozessuale Verpflichtung, Situationen möglichen Menschenhandels zu untersuchen. Im Allgemeinen können die ersten beiden Aspekte [...] als materiell angesehen werden, während der dritte die prozessuale Verpflichtung des Staates umschreibt.
i. Materielle Aspekte der positiven Verpflichtungen
(183) [...] Um zu bestimmen, ob Art. 4 EMRK verletzt wurde, muss der relevante rechtliche und administrative Rahmen berücksichtigt werden.
(184) [...] Damit in einem konkreten Fall eine positive Verpflichtung erwächst, operative Maßnahmen zu ergreifen, muss nachgewiesen werden, dass die staatlichen Behörden wussten oder wissen hätten müssen, dass eine bestimmte Person einer realen und unmittelbaren Gefahr ausgesetzt war, einer [von Art. 4 EMRK verbotenen] Behandlung unterworfen zu werden. Gegebenenfalls liegt eine Verletzung von Art. 4 EMRK vor, wenn es die Behörden verabsäumen, innerhalb ihrer Zuständigkeit angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die betroffene Person aus dieser Situation oder Gefahrenlage zu befreien. [...]
ii. Positive prozedurale Verpflichtung
(185) [...] Die prozessuale Verpflichtung nach Art. 4 EMRK [...] bezieht sich im Wesentlichen auf die Pflicht der innerstaatlichen Behörden, die relevanten strafrechtlichen Mechanismen, die zum Verbot und zur Bestrafung von dieser Bestimmung widersprechendem Verhalten geschaffen wurden, in der Praxis anzuwenden. Dies umfasst die Anforderungen einer effektiven Untersuchung von Behauptungen einer gegen Art. 4 EMRK verstoßenden Behandlung. Der genaue Inhalt der prozessualen Verpflichtung gemäß Art. 4 EMRK ergibt sich aus den [...] entsprechenden Grundsätzen zu Art. 2 und Art. 3 EMRK.
(187) [...] Die Behörden sind in erster Linie verpflichtet [...], Ermittlungen durchzuführen, die geeignet sind, den Sachverhalt festzustellen und die Verantwortlichen zu finden und – wenn angemessen – zu bestrafen. Die Behörden müssen von Amts wegen handeln, sobald ihnen die Angelegenheit bekannt wurde. Insbesondere können sie es nicht der Initiative des Opfers überlassen, [...] Ermittlungsmaßnahmen zu setzen. [...]
(188) Die prozessuale Verpflichtung ist eine der Mittel und keine solche des Resultats. Es gibt kein absolutes Recht, die Strafverfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person zu erlangen [...].
(189) [...] Damit sie ein Problem im Hinblick auf Art. 4 EMRK aufwerfen, müssen mögliche Defekte im Verfahren [...] erhebliche Mängel darstellen. Der GH kümmert sich mit anderen Worten nicht um angebliche Fehler oder isolierte Unterlassungen, sondern nur um wesentliche Versäumnisse im Verfahren, die geeignet sind, die Geeignetheit der Ermittlungen zur Feststellung des Sachverhalts oder der verantwortlichen Person zu untergraben.
(191) [...] Neben der Verpflichtung zur Durchführung einer innerstaatlichen Untersuchung von Ereignissen, die in ihrem eigenen Territorium stattgefunden haben, unterliegen die Mitgliedstaaten auch einer Pflicht, in Fällen von grenzüberschreitendem Menschenhandel effektiv mit den zuständigen Behörden anderer Staaten [...] zusammenzuarbeiten.
b. Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall
(192) [...] Das innerstaatliche Rechtssystem sah zur relevanten Zeit strafrechtliche Mechanismen zum Schutz vor Menschenhandel und Zwangsarbeit vor. Zudem gab es einen gewissen rechtlichen Rahmen zur Regulierung von Unternehmen, die potentiell als Deckmantel für Menschenhandel benützt werden könnten, sowie Einwanderungsbestimmungen, die Bedenken hinsichtlich der Förderung, Erleichterung oder Hinnahme von Menschenhandel ansprechen konnten. Allerdings muss sich der GH nicht näher mit dem innerstaatlichen rechtlichen Rahmen befassen, da die Bf. sich darüber nicht spezifisch beschwert haben. Ihr Vorbringen ist [...] vielmehr prozessualer Art, indem es sich auf das Fehlen einer angemessenen Reaktion der innerstaatlichen Behörden auf ihre Behauptungen bezieht, Zwangs- oder Pflichtarbeit und Menschenhandel unterworfen worden zu sein. Der GH wird seine Einschätzung daher auf diesen prozessualen Aspekt der positiven Verpflichtungen des Staates beschränken.
i. Erwuchs im vorliegenden Fall eine Verpflichtung zu ermitteln?
(193) Wie der GH oben festgestellt hat, stellte die Gesamtheit der Argumente und Vorbringen der Bf. [...] eine »vertretbare Behauptung« einer gegen Art. 4 EMRK verstoßenden Behandlung dar.
(194) Aus den unten dargelegten Gründen ist der GH zudem der Ansicht, dass die Angelegenheit (d.h. die »vertretbare Behauptung«) [...] den zuständigen innerstaatlichen Behörden [...] »ausreichend zur Kenntnis gebracht« wurde und sich daher im vorliegenden Fall eine Verpflichtung zu ermitteln ergab, obwohl die Bf. selbst keine formelle strafrechtliche Anzeige erstattet haben.
(195) Insbesondere kannten die Behörden Aserbaidschans den ECRI-Bericht von 2011, (Anm: Der genannte Bericht der European Commission against Racism and Intolerance bezieht sich auf die 2011 erfolgte Evaluierung Aserbaidschans durch dieses Gremium des Europarats.) dessen Feststellungen später im GRETA-Bericht weiterentwickelt wurden. (Anm: GRETA (Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings) ist ein Gremium des Europarats, das die Einhaltung des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels überwacht. Der genannte Bericht bezieht sich auf die erste Evaluierung der Umsetzung dieses Übereinkommens durch Aserbaidschan.) Demnach griffen viele Arbeitgeber, die Arbeitsmigranten in Aserbaidschan unter anderem im Bausektor beschäftigten, auf illegale Praktiken zurück, weshalb sich illegal beschäftigte Migranten oft schweren Formen des Missbrauchs ausgesetzt sahen. [...] Der in diesen Berichten beschriebene allgemeine Kontext ist [...] nach Ansicht des GH für die Beurteilung des
vorliegenden Falls relevant.
(196) Wie der GH zudem bemerkt, [...] richtete AMC zwei Briefe an das Innenministerium und an die Generalstaatsanwaltschaft [...]. (Anm: Bei AMC (»Aserbaidschanisches Zentrum für Migration«) handelt es sich um eine jener NGOs, von denen die Bf. materiell und rechtlich unterstützt wurden.) AMC beschwerte sich über die Situation bei Serbaz und behauptete, diese würde eine strafrechtliche Untersuchung im Hinblick auf Menschenhandel erfordern. [...] AMC scheint die Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden auch vor den innerstaatlichen Gerichten bekämpft zu haben und seine Rechtsmittel in dieser Angelegenheit gelangten bis zum Obersten Gerichtshof. [...]
(197) In weiterer Folge wandte sich die Staatsanwaltschaft Bosnien-Herzegowinas im April 2010 und dann wieder 2011 und 2012 mit Rechtshilfeersuchen an die Strafverfolgungsbehörden Aserbaidschans, in denen sie die Situation bei Serbaz beschrieb, die sich auf dem Hoheitsgebiet Aserbaidschans ereignete.
(198) [...] Ausreichend detaillierte Informationen in einem Rechtshilfeersuchen, das schwerwiegende Straftaten betrifft, die sich auf dem Territorium des ersuchten Staats möglicherweise ereignet haben, können eine vor den Behörden dieses Staates erhobene »vertretbare Behauptung« darstellen, die dessen Verpflichtung auslöst, die Behauptungen näher zu untersuchen.
(199) Schließlich lieferten die Bf. auch in ihrer im Juli 2010 erhobenen Zivilklage eine Schilderung der relevanten Fakten und der Gründe, warum sie sich als Opfer von Zwangsarbeit empfanden.
(200) Angesichts der obigen Überlegungen wurde die »vertretbare Behauptung« der Bf. ausreichend und wiederholt auf unterschiedlichen Wegen an die innerstaatlichen Behörden herangetragen [...]. Da die Behörden auf die fraglichen Behauptungen, die eine »vertretbare Behauptung« darstellten, »ausreichend aufmerksam gemacht« wurden, mussten diese von Amts wegen [...] eine effektive Ermittlung einleiten und durchführen, selbst wenn es keine formelle strafrechtliche Anzeige durch die Bf. selbst gab.
ii. Wurde eine effektive Ermittlung durchgeführt?
(201) [...] Die Regierung hat keine Informationen über irgendeine innerstaatliche Untersuchung vorgelegt [...] und somit nicht bewiesen, dass eine solche stattgefunden hat.
(202) Der Vollständigkeit halber wird der GH dennoch [...] das ihm vorliegende Material sowie die internationalen Berichte prüfen um zu bestimmen, ob es eine effektive Untersuchung gab. Allerdings [...] sind die diesbezüglichen Informationen unterschiedlich und manchmal widersprüchlich.
(205) [...] Nach dem Schreiben der Abteilung gegen Menschenhandel, das an die Behörden Bosnien-Herzegowinas [...] weitergeleitet wurde, [...] hatte die Abteilung Anfragen betreffend Arbeiter von Serbaz »geprüft«. Das Schreiben bot eine sehr allgemeine Zusammenfassung der Aktivitäten von Serbaz sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter. [...]
(206) Aus dem oben genannten Schreiben geht nicht hervor, dass seitens der Abteilung gegen Menschenhandel irgendeine Ermittlung oder Voruntersuchung formell eingeleitet wurde oder dass irgendwelche effektiven Ermittlungsschritte gesetzt wurden. [...] Es gibt auch keine Informationen über Versuche, die mutmaßlichen [...] Opfer, einschließlich der Bf., zu finden und zu befragen. [...]
(207) Überdies wurde nicht gezeigt, dass irgendwelche Versuche unternommen worden wären, zumindest einzelne jener mutmaßlich beteiligten Personen zu finden und zu befragen, die Bürger Aserbaidschans waren oder dort ihren Wohnsitz hatten. [...]
(208) Insgesamt ergibt sich weder aus den Vorbringen der Parteien noch aus anderem Material im Akt, dass eine effektive strafrechtliche Untersuchung betreffend die von den Bf. erhobenen Vorwürfe über Zwangsarbeit und Menschenhandel durchgeführt wurde.
iii. Schlussfolgerung
(209) Angesichts der Tatsache, dass keine effektive Ermittlung stattgefunden hat, obwohl die Angelegenheit den innerstaatlichen Behörden ausreichend zur Kenntnis gebracht wurde, verwirft der GH die Einrede der Regierung betreffend die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und stellt fest, dass es der belangte Staat verabsäumt hat, seiner prozessualen Verpflichtung zu entsprechen, eine effektive Untersuchung [...] durchzuführen.
(210) Folglich hat eine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK in seinem prozessualen Aspekt stattgefunden (einstimmig).
II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Je € 5.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
van der Mussele/B v. 23.11.1983 = EuGRZ 1985, 477
Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NL 2010, 20
C. N. und V./F v. 11.10.2012 = NLMR 2012, 332
L. E./GR v. 21.1.2016 = NLMR 2016, 20
J. u.a./A v. 17.1.2017 = NLMR 2017, 126
Chowdury u.a./GR v. 30.3.2017 (GK) = NLMR 2017, 132
S. M./HR v. 19.7.2018 = NLMR 2018, 337
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.10.2021, Bsw. 20116/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 422) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.