Bsw20914/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Carter gg. Russland, Urteil vom 21.9.2021, Bsw. 20914/07.
Spruch
Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 38 EMRK - Verantwortung Russlands für die Ermordung Alexander Litwinenkos in London.
Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 2 EMRK (mehrheitlich).
Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 3 EMRK (mehrheitlich).
Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt (6:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellerechtlichen Aspekt (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 100.000,– für immateriellen Schaden; € 22.500,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Die vorliegende Beschwerde wurde von der Witwe des 2006 verstorbenen Alexander Litwinenko erhoben. Dieser war seit 1988 für den russischen Geheimdienst KGB bzw. FSB tätig gewesen, bevor er 1998 entlassen wurde. Anlass für die Beendigung seiner Mitarbeit war die Weigerung gewesen, die Ermordung des russischen Geschäftsmanns Boris Beresowski zu planen. Herr Litwinenko hatte sich den Unmut seiner Vorgesetzten zugezogen, indem er diese Pläne öffentlich machte. 2001 wurde ihm und seiner Familie in Großbritannien politisches Asyl gewährt. 2006 erhielten alle Familienmitglieder, die mittlerweile ihren Namen geändert hatten, die britische Staatsbürgerschaft.
Alexander Litwinenko entfaltete umfangreiche Aktivitäten, die sich vor allem auf die Aufdeckung von Korruption im russischen Geheimdienst und dessen Verbindungen zum organisierten Verbrechen bezogen. Unter anderem veröffentlichte er Bücher über die Machenschaften des FSB und beriet europäische Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden über die Aktivitäten der russischen organisierten Kriminalität.
Nachdem Alexander Litwinenko am 16.10.2006 an einer Besprechung und einem Abendessen mit seinem Geschäftspartner Lugowoi und dessen Mitarbeiter Kowtun teilgenommen hatte, erkrankte er plötzlich. Da er von einer Lebensmittelvergiftung ausging, verzichtete er auf eine ärztliche Behandlung. Später wurden sowohl in dem Besprechungsraum und dem Restaurant als auch im Hotelzimmer von Herrn Lugowoi Spuren radioaktiver Kontamination entdeckt.
Am 1.11.2006 traf Herr Litwinenko erneut mit Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun zusammen. Während ihrer Besprechung in der Hotelbar tranken sie Tee. Am folgenden Tag traten bei Herrn Litwinenko schwere Vergiftungserscheinungen auf, woraufhin er sich in Spitalsbehandlung begab. Am 23.11. verstarb er an einem Multiorganversagen. Wie sich herausstellte, war er mit Polonium 210 vergiftet worden.
Die Londoner Polizei und die britische Anklagebehörde kamen zu dem Ergebnis, dass Alexander Litwinenko am 1.11. von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun vergiftet worden war. Im Mai 2007 wurde ein Haftbefehl ausgestellt und Russland um die Auslieferung ersucht. Diese wurde jedoch verweigert. Die in Russland eingeleitete Untersuchung wurde bis heute nicht abgeschlossen.
2014 entschied der britische Innenminister, eine Untersuchung der Verantwortung für die Ermordung Alexander Litwinenkos und die mögliche Beteiligung des russischen Staates daran einzuleiten. An 43 Verhandlungstagen wurden, zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit, 62 Zeuginnen und Zeugen gehört und zahlreiche, teils als geheim klassifizierte Beweismittel behandelt. Herr Lugowoi wurde als Zeuge geladen, verweigerte aber ein Erscheinen. Das von Russland im Wege der Rechtshilfe für die strafrechtlichen Ermittlungen zur Verfügung gestellte Beweismaterial konnte wegen der verweigerten Zustimmung der russischen Behörden nicht verwendet werden. Der vorsitzende Richter kam zum Ergebnis, dass die Vergiftung Alexander Litwinenkos am 1.11.2006 mit Polonium 210 als erwiesen anzusehen sei. Die tödliche Dosis sei ihm in der Hotelbar in seiner Teetasse verabreicht worden. Bereits am 16.10. habe er eine nicht letale Dosis desselben Gifts zu sich genommen. Dies sei durch wissenschaftliche Beweise, insbesondere die festgestellten Spuren radioaktiver Kontamination in jenen Räumen, in denen sich die Verdächtigen aufgehalten hatten, erwiesen. Alle Beweise würden darauf hindeuten, dass die beiden Täter im Auftrag von jemand anderem gehandelt hatten. Es sei sehr wahrscheinlich, dass der FSB sie dazu angeleitet hatte und wahrscheinlich, dass dies vom Leiter des FSB und dem russischen Staatspräsidenten abgesegnet gewesen sei. Nach Veröffentlichung des Berichts wurden die Vorwürfe von Russland brüsk zurückgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) durch die Ermordung ihres Ehemanns im Auftrag oder mit der Zustimmung der russischen Behörden und durch das Fehlen einer wirksamen Untersuchung des Mordes durch diese.
I. Erfüllung der Verpflichtungen gemäß Art. 38 EMRK
(89) Bevor er die Zulässigkeit und Berechtigung der Rügen der Bf. prüft, muss sich der GH der Frage zuwenden, ob die Regierung ihrer prozessualen Verpflichtung gemäß Art. 38 EMRK nachgekommen ist, dem GH die von ihm erbetenen Beweise vorzulegen. [...]
(90) Bei der Zustellung der Beschwerde ersuchte der GH die Regierung um Übermittlung einer Kopie von Unterlagen, die sich auf die innerstaatliche Untersuchung des Todes von Herrn Litwinenko beziehen. Die Regierung verweigerte dies mit der Begründung, die Ermittlungen wären noch nicht abgeschlossen. Sie verwies auf § 161 der russischen StPO, der ihrer Ansicht nach die Offenlegung jeglichen Materials aus dem Akt [...] ausschloss.
(91) Der GH wiederholte später sein Ersuchen [...], die Regierung verweigerte jedoch die Übermittlung jeglicher Unterlagen unter Verweis auf dieselbe Bestimmung.
(92) [...] Die Verpflichtung, das vom GH erbetene Material zu übermitteln, ist für die belangte Regierung bindend [...]. Ein nicht zufriedenstellend erklärtes Versäumnis seitens einer Regierung, solche in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen vorzulegen, kann nicht nur Rückschlüsse über die Begründetheit der vom Bf. erhobenen Vorwürfe nach sich ziehen, sondern auch eine Missachtung der aus Art. 38 EMRK erwachsenden Verpflichtungen durch die belangte Regierung zeigen.
(93) Im vorliegenden Fall lieferte die Regierung weder die angeforderten Unterlagen noch irgendeine Erklärung für dieses Versäumnis abgesehen von einem Verweis auf eine Bestimmung der StPO [...]. Der GH hat den Verweis der russischen Regierung auf diese Vorschrift in vielen [...] Fällen mit der Begründung zurückgewiesen, dass diese kein absolutes Verbot [...] einer derartigen Offenlegung enthalte. Von Bedeutung ist zudem, dass die Regierung nicht behauptete, die Ermittlungen wären im Zeitpunkt des Ersuchens des GH – rund 15 Jahre nach den umstrittenen Ereignissen – nach wie vor anhängig gewesen. [...]
(94) Dementsprechend hat es der belangte Staat [...] durch seine ungerechtfertigte Verweigerung der Vorlage der erbetenen Unterlagen verabsäumt, seinen Verpflichtungen gemäß Art. 38 EMRK zu entsprechen (einstimmig). [...]
II. Vorbemerkung zur Zulässigkeit des Berichts der Litwinenko-Untersuchung als Beweismittel
(97) Bei der Einschätzung der Zulässigkeit und Relevanz sowie der Aussagekraft der ihm vorliegenden Beweise genießt der GH [...] völlige Freiheit. Er ist weder nach der EMRK noch nach für internationale Tribunale geltenden allgemeinen Grundsätzen an strenge Beweisregeln gebunden [...].
(98) Das Vertrauen des GH in Beweise, die im Zuge einer innerstaatlichen Untersuchung erlangt wurden, und in im innerstaatlichen Verfahren festgestellte Tatsachen war abhängig von der Qualität des nationalen Ermittlungsverfahrens und der Gründlichkeit und Stimmigkeit des fraglichen Verfahrens.
(99) Im vorliegenden Fall bestehen die umstrittenen Beweise in den Feststellungen, die in einer in Großbritannien durchgeführten öffentlichen Untersuchung des Todes von Herrn Litwinenko getroffen wurden.
1. Durchführung der Untersuchung
(100) Die Untersuchung wurde durch den Inquirys Act 2005 eingeführt, der detaillierte Vorschriften enthielt, die darauf abzielten, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Vorsitzenden und der übrigen Mitglieder zu gewährleisten. Ein Richter des High Court mit langjähriger Berufserfahrung wurde zum Vorsitzenden bestellt. Er wurde von einem Team von Juristen unterstützt, einschließlich eines Ermittlungsanwalts, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die Tatsachen unvoreingenommen [...] zu beleuchten und alle Beweise von einem objektiven und unabhängigen Standpunkt aus zu beurteilen.
(101) Die Untersuchung war nicht nur unabhängig, sondern sie entsprach auch den Anforderungen der Transparenz und der öffentlichen Rechenschaft. Die Behandlung der nicht geheimen Beweise und die Zeugenanhörungen erfolgten in öffentlichen Verhandlungen. Die Öffentlichkeit und die Medien hatten uneingeschränkten Zugang zu den Verhandlungen [...]. Beweisunterlagen konnten [...] von der Website der Untersuchung heruntergeladen werden. Der Abschlussbericht der Untersuchung wurde sowohl dem Parlament vorgelegt als auch veröffentlicht.
(102) Vom Vorsitzenden getroffene Entscheidungen unterlagen der richterlichen Überprüfung [...].
(103) Alle Parteien mit einem rechtlichen Interesse konnten einen Beteiligtenstatus beantragen [...]. Die russischen Behörden entschieden sich dazu, dies nicht zu tun [...], ebenso wie Herr Lugowoi und Herr Kowtun [...]. Als Beteiligte hätten sie [...] Stellungnahmen abgeben [...] und Zeugen befragen können. Allerdings wurden selbst in ihrer Abwesenheit Schritte unternommen, um die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten. Wesentlich ist insbesondere, dass der Vorsitzende die Konsequenzen ihrer Entscheidung, sich nicht zu beteiligen, ansprach und entschied, dass aus ihrer Abwesenheit keine Schlüsse gezogen werden dürften.
2. Bedingungen der Untersuchung und Verwendung von Beweisen
(105) Der GH ist davon überzeugt, dass die Untersuchung gründlich und in der Einschätzung der Beweise sorgfältig war. [...] Insgesamt wurden 62 Zeugen in der Verhandlung befragt und die Aussagen weiterer 20 Zeugen verlesen. Der Vorsitzende zog eine große Menge an Beweisen aus unterschiedlichen Quellen heran, konnte jedoch die aus Russland im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweise wegen der verweigerten Zustimmung der russischen Behörden [...] nicht verwenden.
(106) Eine Untersuchung kann weder eine Person für schuldig befinden noch eine zivilrechtliche Haftung feststellen, weil dies nicht zu ihren Aufgaben gehört [...]. Die Regeln gestatteten es jedoch dem Vorsitzenden, Tatsachenfeststellungen zu treffen, aus denen die Wahrscheinlichkeit der Verantwortung hervorgeht, wenn die Beweise dies zulassen [...]. Er durfte darlegen, welche seiner Tatsachenfeststellungen dem strafrechtlichen Beweismaßstab – »über berechtigte Zweifel erhaben« – entsprachen und welche dem zivilrechtlichen Beweismaßstab der »überwiegenden Wahrscheinlichkeit«.
(108) Es trifft zu, dass weder die Parteien noch der GH Zugang zu den als geheim klassifizierten Beweisen hatten [...]. [...] Der GH ist jedoch davon überzeugt, dass die Aufnahme und die Verwendung von als geheim eingestuften Beweisen in dem unter den gegebenen Umständen möglichen Ausmaß von angemessenen Garantien begleitet war.
(109) Schließlich stellt der GH fest, dass die Ergebnisse der Untersuchung [...] mit den Erkenntnissen einer strafrechtlichen Ermittlung [...] übereinstimmen. [...] Die Tatsache, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun letztendlich nicht [...] vor Gericht gestellt wurden, lag nicht an einem Mangel an Beweisen, sondern an der Weigerung Russlands, sie auszuliefern.
3. Schlussfolgerung
(110) Da es keinen Grund für Zweifel an der Qualität des innerstaatlichen Ermittlungsverfahrens oder an der Unabhängigkeit, Fairness und Transparenz der Untersuchung gibt, kann der GH die Feststellungen der Untersuchung über den Tod von Herrn Litwinenko nicht bloß deshalb außer Acht lassen, weil die Behörden des belangten Staats davon Abstand genommen haben, ihr Recht auszuüben, sich an diesen Verfahren zu beteiligen. Dementsprechend ist der Abschlussbericht der Untersuchung als Beweis zuzulassen.
III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK
(111) Die Bf. brachte [...] vor, ihr Ehemann Alexander Litwinenko wäre von Herrn Lugowoi [...] auf besonders qualvolle Weise ermordet worden. Dieser habe im Auftrag der russischen Behörden oder im Einvernehmen mit diesen oder mit deren Wissen und Unterstützung gehandelt. Zudem hätten es die russischen Behörden verabsäumt, eine effektive Untersuchung des Mordes durchzuführen. [...]
1. Allgemeine Grundsätze zur Hoheitsgewalt
a. Allgemeine Überlegungen
(124) Die Ausübung von Hoheitsgewalt ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Mitgliedstaat für ihm zurechenbare Handlungen und Unterlassungen, die Anlass für die Behauptung einer Verletzung [...] der Konvention geben, zur Rechenschaft gezogen werden kann. Während die Hoheitsgewalt eines Staates [...] in erster Linie territorial bestimmt wird, hat der GH eine Reihe von außergewöhnlichen Umständen akzeptiert, die eine Ausübung von Hoheitsgewalt [...] außerhalb der territorialen Grenzen begründen können. [...]
b. Materielle Verpflichtung nach Art. 2 EMRK
(125) Die beiden Hauptkriterien der Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt sind jene der »effektiven Kontrolle eines Staates über ein außerhalb seines Territorium liegendes Gebiet« [...] und jene der »Macht und Kontrolle staatlicher Organe« über Personen [...]. Im vorliegenden Fall ist das zweite dieser Kriterien relevant.
(126) Nach dem personenbezogenen Konzept der Hoheitsgewalt kann »Anwendung von Gewalt durch staatliche Organe, die außerhalb seines Territoriums operieren, ein Individuum, das dadurch unter ihre Kontrolle gebracht wird, der Hoheitsgewalt des Staates unterwerfen« (Al-Skeini u.a./GB). Die Hoheitsgewalt ergibt sich in solchen Fällen nicht nur aus der vom Mitgliedstaat über ein Gebäude, in dem Personen angehalten werden, ausgeübten Kontrolle, sondern vielmehr aus der »Ausübung physischer Macht und Kontrolle über die betroffene Person«. Wann immer der Staat durch seine Organe über eine Person die Kontrolle und damit Hoheitsgewalt ausübt, muss er ihr gemäß Art. 1 EMRK jene durch die Konvention gewährten Rechte garantieren, die für die Situation der betroffenen Person relevant sind. [...]
(127) Der GH erinnert daran, dass ein Staat auch für die Verletzung der Konventionsrechte von Personen verantwortlich gemacht werden kann, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Staates aufhalten, aber durch seine – sei es rechtmäßig oder rechtswidrig – in diesem Staat handelnden Organe unter die Macht und Kontrolle des ersteren Staates gebracht werden. [...] In diesen Fällen war die Kontrolle durch Übergriffe auf und das Anvisieren von bestimmten Personen durch die Streitkräfte oder die Polizei des belangten Staats ausreichend, um die betroffenen Personen unter die Macht bzw. effektive Kontrolle des belangten Staats [...] zu bringen.
(128) Wie der GH festgestellt hat, erwächst die Verantwortlichkeit in solchen Situationen aus der Tatsache, dass Art. 1 EMRK nicht so ausgelegt werden kann, als würde er es einem Mitgliedstaat erlauben, auf dem Territorium eines anderen Staats Konventionsverletzungen zu begehen, die er auf seinem eigenen Gebiet nicht begehen könnte. Gezielte Verletzungen der Menschenrechte einer Person durch einen Mitgliedstaat auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaats untergraben die Wirksamkeit der Konvention sowohl als Wächterin über die Menschenrechte als auch als Garantin von Frieden, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit in Europa.
(129) In seinem [...] Urteil Georgien/RUS (II) bezog sich der GH insbesondere auf Fälle, in denen staatliche Organe Leib und Leben einer Person extraterritorial ins Visier genommen hatten, ohne formal Befugnisse zur Festnahme oder Anhaltung dieser Person auszuüben. Er vertrat die Ansicht, dass diese Fälle, »die isolierte und spezifische Handlungen betrafen, die ein Element der Nähe aufwiesen«, von Situationen bewaffneter Konfrontationen unterschieden werden müssten, in denen feindliche Streitkräfte in einem chaotischen Umfeld danach streben, die Kontrolle über ein Gebiet zu erlangen, was jegliche Form der effektiven Kontrolle über ein Gebiet oder der »Befehlsgewalt und Kontrolle staatlicher Organe« über Personen ausschließt.
(130) Die Fälle, auf die sich die GK bezog, betrafen Handlungen der Streitkräfte der belangten Staaten an oder nahe ihren Grenzen. Allerdings sollte der Grundsatz, wonach ein Staat in Fällen spezifischer Handlungen, die ein Element der Nähe aufweisen, extraterritoriale Hoheitsgewalt ausübt, gleichermaßen in Fällen außerrechtlicher gezielter Tötungen durch staatliche Organe gelten, die außerhalb des Kontexts einer militärischen Operation im Territorium eines anderen Mitgliedstaats handeln. Dieser Zugang steht im Einklang mit dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 2 EMRK, der kein Abweichen von Art. 2 EMRK erlaubt, abgesehen von Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen.
c. Prozessuale Verpflichtung zur Ermittlung
(131) Im Hinblick auf den prozessualen Aspekt von Art. 2 EMRK hat der GH in Fällen, in denen sich der Todesfall in einem anderen Staat ereignet hat als jenem, dessen prozessuale Verpflichtung behauptet wird, festgestellt, dass die Einleitung einer eigenen strafrechtlichen Ermittlung [...] durch die [...] Behörden dieses Staates grundsätzlich ausreicht, um eine hinsichtlich der Hoheitsgewalt relevante Verbindung zwischen diesem Staat und den die Beschwerde erhebenden Angehörigen zu begründen. [...]
(132) Wenn in einem Mitgliedstaat keine Ermittlung und kein Verfahren hinsichtlich eines Todesfalls außerhalb seines Territoriums eingeleitet wurde, muss der GH bestimmen, ob dennoch eine im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung festgestellt werden kann, aufgrund derer die prozessuale Verpflichtung gemäß Art. 2 EMRK für diesen Staat wirksam werden kann. Obwohl die prozessuale Verpflichtung nach Art. 2 EMRK grundsätzlich nur für jenen Mitgliedstaat ausgelöst wird, unter dessen Hoheitsgewalt sich der Verstorbene zum Zeitpunkt seines Todes befunden hat, werden »besondere Merkmale« eines Falls ein Abgehen von diesem Zugang rechtfertigen. Allerdings hat der GH nicht in abstracto definiert, welche »besonderen Merkmale« im Hinblick auf die Ermittlungspflicht gemäß Art. 2 EMRK das Bestehen einer im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevanten Verbindung nach sich ziehen, da diese Merkmale notwendigerweise von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängen [...].
2. Zulässigkeit
a. Verfahrensrechtlicher Aspekt von Art. 2 EMRK
(133) [...] Die russischen Behörden leiteten ihre eigene strafrechtliche Untersuchung des Todes des Ehemanns der Bf. ein. Diese beruhte auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die ihnen die Zuständigkeit zur Untersuchung von Straftaten gegen russische Staatsbürger unabhängig vom Tatort verliehen. Die Durchführung dieses Verfahrens begründete eine ausreichende »im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung« zwischen der Bf. [...] und Russland.
(134) Zudem bemerkt der GH, dass die Verdächtigen [...] russische Staatsangehörige sind, die seit ihrer Rückkehr nach Russland in den Genuss des verfassungsrechtlichen Schutzes vor Auslieferung kamen. Auf diesen Schutz stützten die russischen Behörden die Verweigerung ihrer Auslieferung an Großbritannien. Infolgedessen waren die britischen Behörden daran gehindert, die Strafverfolgung der Verdächtigen weiter zu betreiben. Auch wenn die Möglichkeit, dass ein Staat ein Ersuchen um Auslieferung eines eigenen Staatsbürgers ablehnt, als solche nicht unvereinbar mit der Verpflichtung zur Durchführung einer effektiven Untersuchung ist, stellt die Tatsache, dass die Regierung die exklusive Hoheitsgewalt über eine Person behalten hat, der eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung vorgeworfen wird, ein »besonderes Merkmal« des Falls dar, das die Hoheitsgewalt des belangten Staats [...] im Hinblick auf die Rüge der Bf. unter dem prozessualen Aspekt von Art. 2 EMRK begründet. Jedes andere Ergebnis würde den Kampf gegen die Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen im »Rechtsraum der Konvention« untergraben, indem es die Anwendung der von Großbritannien zum Schutz des Rechts auf Leben seiner Bürger und aller sich unter seiner Hoheitsgewalt befindlichen Personen erlassenen Strafgesetze behindert.
(135) Der GH gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die Einrede der Unvereinbarkeit ratione loci im Hinblick auf den verfahrensrechtlichen Teil des Beschwerdevorbringens zu verwerfen ist (mehrheitlich).
b. Materieller Aspekt von Art. 2 EMRK
(136) Was den materiellen Aspekt von Art. 2 EMRK betrifft, ist der GH der Ansicht, dass die Einrede der Regierung ratione loci – also die Frage, ob Herr Litwinenko sich unter der Kontrolle von Herrn Lugowoi und anderen befand und ob dieser und andere zur gegenständlichen Zeit als Organe des russischen Staats handelten – mit der Begründetheit der Beschwerde zusammenhängt und daher gemeinsam mit der Prüfung in der Sache behandelt werden sollte (mehrheitlich).
c. Schlussfolgerung zur Zulässigkeit
(137) [...] Die Beschwerde wirft schwierige Rechts- und Tatsachenfragen auf, die aufgrund ihrer Komplexität in der Sache geprüft werden müssen. Sie kann daher nicht als offensichtlich unbegründet [...] angesehen werden und es wurde auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund festgestellt. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).
3. In der Sache
a. Prozessuale Verpflichtung gemäß Art. 2 EMRK
(139) [...] Die russischen Ermittlungsbehörden eröffneten im Dezember 2006, rund zwei Wochen nach dem Tod von Herrn Litwinenko, eine Untersuchung [...]. Die Frage ist allerdings [...], ob diese Untersuchung effektiv war und ob die Behörden entschlossen waren, die [...] Verantwortlichen zu finden und strafrechtlich zu verfolgen.
(140) [...] Im April 2007 reiste ein stellvertretender Generalstaatsanwalt in Begleitung einiger Ermittler nach London, wo sie einige Befragungen durchführten. Zudem bezog sich die Regierung in ihrer Stellungnahme auf eine Reihe weiterer Elemente, wie Tests zum Nachweis von Polonium 210 im Flugzeug, in dem Herr Lugowoi und Herr Kowtun gereist waren, an diesen selbst und an ihnen gehörenden Gegenständen. [...] Allerdings [...] wurden keine sich darauf beziehenden Unterlagen an den GH übermittelt.
(141) Spezifische Nachfragen des GH [...] blieben unbeantwortet. [...]
(142) [...] Der GH ersuchte die Regierung um Übermittlung von Kopien jener Dokumente, auf die sich [...] ihre Behauptungen stützten. Diese Ersuchen wurden jedoch ohne Rechtfertigung abgelehnt.
(143) [...] Angesichts der ungerechtfertigten Weigerung der Regierung, die angeforderten Unterlagen vorzulegen, hat es diese nach Ansicht des GH verabsäumt, ihrer Beweislast nachzukommen und zu belegen, dass die russischen Behörden eine effektive Untersuchung durchgeführt haben, die geeignet war, den Sachverhalt festzustellen und die für die Ermordung von Herrn Litwinenko Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
(144) Es hat auch den Anschein, dass die russischen Behörden versuchten, die Bemühungen der britischen Ermittler um Klärung des Sachverhalts zu vereiteln. Sie weigerten sich, das Flugzeug, mit dem Herr Lugowoi und Herr Kowtun von Moskau nach London gereist waren, für Tests auf radioaktive Kontamination zur Verfügung zu stellen. [...]
(146) Es bleibt noch das Argument der belangten Regierung [...], jeglicher Misserfolg seitens der russischen Behörden wäre auf das Versäumnis der britischen Behörden zurückzuführen, ihren Rechtshilfeersuchen zu entsprechen. [...] Aus den folgenden Gründen akzeptiert der GH nicht, dass die Handlungen der britischen Behörden die Schlussfolgerung verdrängen würden, wonach es die russischen Behörden verabsäumten, eine effektive Untersuchung [...] durchzuführen.
(147) Da die Regierung weder den Akt der strafrechtlichen Ermittlungen noch die an das Vereinigte Königreich gerichteten Rechtshilfeersuchen vorgelegt hat, hat sie nicht nachgewiesen, dass das vom Vereinigten Königreich erbetene Material tatsächlich für den Fortschritt ihrer eigenen Untersuchung notwendig war. Von besonderer Relevanz ist diese Unterlassung angesichts der Tatsache, dass die russischen Behörden zur Zeit der Rechtshilfeersuchen bereits zum Schluss gelangt waren, dass aus der russischen Anlage, in der Polonium 210 produziert wird, nichts abhanden gekommen war, sie Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun bereits »entlastet« und festgestellt hatten, dass sich die Ermittlungen auf keine anderen Verdächtigen bezogen.
(148) Angesichts dessen ist der GH der Ansicht, dass [...] eine Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 2 EMRK stattgefunden hat (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
b. Materielle Verpflichtung gemäß Art. 2 EMRK
(149) Als er vergiftet wurde, befand sich Herr Litwinenko in Großbritannien und damit nicht in einem Gebiet, über das Russland »effektive Kontrolle« ausübte. Es ist daher zu prüfen, ob Russland unter dem personenbezogenen Konzept der Hoheitsgewalt für die behauptete Verletzung seines Rechts auf Leben verantwortlich gemacht werden kann.
(150) Im Licht der oben in Rn. 126-130 zusammengefassten Rechtsprechung des GH hängt das Schicksal der Beschwerde über die Ermordung des Ehemanns der Bf. von den Antworten auf zwei zusammenhängende Fragen ab: (i) ob der Mordanschlag auf Herrn Litwinenko eine Ausübung physischer Macht und Kontrolle über sein Leben in einer Situation eines unmittelbaren Anvisierens darstellte und (ii) ob er von Personen ausgeführt wurde, die als staatliche Organe handelten. Der GH wird den Sachverhalt anhand der im Akt verfügbaren Beweise feststellen.
i. Einschätzung der Beweise durch den GH
(151) In Fällen einer angeblichen Verletzung des Rechts auf Leben hat der GH bei der Beurteilung von Beweisen den Standard des »über vernünftige Zweifel erhabenen« Beweises angewendet. Allerdings hat er diesen Maßstab nicht von nationalen Rechtssystemen entlehnt, die ihn verwenden, da seine Aufgabe nicht darin besteht, über strafrechtliche Schuld oder zivilrechtliche Haftung zu entscheiden, sondern über die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten unter der Konvention. [...] Im Verfahren vor dem GH gibt es keine im Vorhinein festgelegten Formeln für die Beweiswertung. Er zieht jene Schlüsse, die seiner Ansicht nach durch eine freie Würdigung aller Beweise [...] unterstützt werden.
(152) Zusätzlich kann das Verhalten der Parteien in Bezug auf die Bemühungen des GH um die Erlangung von Beweisen ein zu berücksichtigendes Element darstellen. [...] Wo er aus Gründen, die objektiv den staatlichen Behörden zuzurechnen sind, nicht in der Lage ist, die genauen Umstände eines Falls festzustellen, ist es Sache der belangten Regierung, den Ablauf der Ereignisse in zufriedenstellender und überzeugender Weise zu erklären und solide Beweise vorzulegen, die die Behauptungen des Bf. widerlegen können.
(153) Der GH hat eine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt, wo die Tötung einer Person durch staatliche Organe glaubhaft gemacht wurde und es die Regierung verabsäumt hat, eine andere zufriedenstellende und überzeugende Erklärung für die Ereignisse zu liefern. [...] Er hat allerdings in Fällen keine Verletzung festgestellt, in denen die Behauptungen des Bf. vertretbar sind, aber die Umstände des Todes dennoch eine Angelegenheit von Spekulationen und Vermutungen bleiben.
ii. Feststellung des Sachverhalts
(154) Im vorliegenden Fall sind die Umstände des Todes von Herrn Litwinenko nicht länger eine »Angelegenheit von Spekulationen und Vermutungen«. Es wurde mit einem über vernünftige Zweifel erhabenen Maßstab festgestellt, dass er mit Polonium 210, einem seltenen radioaktiven Isotop, vergiftet wurde. Es wurde weiters [...] festgestellt, dass das Gift von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun verabreicht wurde.
(155) Primäre Kontamination – also ein Beweis für direkten Kontakt zwischen der radioaktiven Substanz und einer Oberfläche [...] – wurde in den Hotelzimmern gefunden, in denen Herr Lugowoi und Herr Kowtun [...] wohnten, aber auch im Besprechungsraum, in dem das erste Treffen mit Herrn Litwinenko stattfand, sowie in der Teekanne, aus der dessen Tee eingeschenkt worden war. Sekundäre Kontamination – die von einem Transfer primärer Kontamination durch die Hand oder den Fuß einer Person herrührt – wurde an den meisten Orten entdeckt, die Herr Lugowoi und Herr Kowtun während ihres Aufenthalts in London [...] besucht hatten, sowie im Flugzeug, in dem sie gereist waren. Im Gegensatz dazu waren die anderen untersuchten Orte, einschließlich der Wohnung von Herrn Litwinenko, und den Büros von Herrn Beresowski [...] frei von Spuren direkten Kontakts mit der radioaktiven Substanz.
(156) Das Muster der Kontamination in den von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun bewohnten Hotelzimmern, wo die höchsten Werte im Abfalleimer im Bad und im Waschbecken gemessen wurden, deuten auf Versuche hin, das Gift durch Wegwerfen oder Wegschütten loszuwerden. [...]
(157) Unter diesen Umständen weist der GH die Behauptung der Regierung zurück, die Täter [...] wären nicht identifiziert worden. Angesichts der von den Parteien vorgelegten [...] Beweise erachtet es der GH [...] als in einem »über vernünftige Zweifel erhabenen« Maß erwiesen an, dass der Mordanschlag von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun verübt wurde.
- Wurde durch Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun physische Macht und Kontrolle über das Leben von Herrn Litwinenko in einer Situation unmittelbaren Anvisierens ausgeübt?
(158) Wie oben in Rn. 150 ausgeführt, wird sich der GH zunächst der Frage zuwenden, ob der Mordanschlag auf Herrn Litwinenko die Ausübung physischer Macht und Kontrolle über sein Leben in einer Situation unmittelbaren Anvisierens darstellte.
(159) Die Beweise für die Vorsätzlichkeit weisen stark darauf hin, dass der Tod von Herrn Litwinenko die Folge einer geplanten und komplexen Operation war, die das Beschaffen eines seltenen tödlichen Gifts, die Reisevorbereitungen für Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun und mehrere Versuche umfasste, das Gift zu verabreichen. Herr Litwinenko war kein zufälliges Opfer [...], sondern vielmehr das Ziel einer geplanten Operation zu seiner Ermordung.
(160) [...] Es wurde [...] bewiesen, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun wussten, dass sie ein tödliches Gift verwendeten, und nicht bloß ein Wahrheitsserum oder ein Schlafmittel. Als sie das Gift in die Teekanne gaben, aus der sich Herr Litwinenko eine Tasse einschenkte, wussten sie, dass ihn das Gift, einmal eingenommen, töten würde. Letzterer konnte nichts tun, um der Situation zu entkommen. In diesem Sinn war er unter der physischen Kontrolle von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun, die Macht über sein Leben ausübten.
(161) Nach Ansicht des GH stellte das Verabreichen von Gift an Herrn Litwinenko durch Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun die Ausübung physischer Macht und Kontrolle über dessen Leben in einer Situation unmittelbaren Anvisierens dar. Sofern diese Handlung dem belangten Staat zurechenbar war, war sie daher nach Ansicht des GH geeignet, in die Hoheitsgewalt dieses Staates zu fallen [...].
- Handelten Herr Lugowoi und Herr Kowtun als staatliche Organe?
(163) Es wurde bereits als erwiesen festgestellt, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun nicht aus eigener Initiative handelten, als sie Herrn Litwinenko ermordeten, sondern auf Anweisung von jemand anderem. Es gab keine Hinweise darauf, dass einer der beiden einen persönlichen Grund gehabt hätte, Herrn Litwinenko zu töten und es ist nicht plausibel, dass sie im Fall eines Handelns aus eigener Initiative Zugang zu dem seltenen radioaktiven Isotop gehabt hätten [...]. Die Verwendung von Polonium 210 deutet stark darauf hin, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun mit Unterstützung einer staatlichen Organisation handelten, die ihnen die Beschaffung des Gifts ermöglichte. Ein radioaktives Isotop wäre ein unwahrscheinliches Mordwerkzeug für gewöhnliche Kriminelle und es konnte nur aus einem staatlich kontrollierten Reaktor stammen.
(164) Nicht nur die Mittel, mit denen die Tötung erfolgte, sondern auch die Motive wiesen auf eine staatliche Beteiligung hin. Die öffentliche Untersuchung prüfte und verwarf verschiedene Theorien über die Organisationen, die möglicherweise den Tod von Herrn Litwinenko wünschten. Die Theorie einer staatlichen Beteiligung blieb als einzig haltbare übrig. Der Abschlussbericht nannte zudem unterschiedliche Gründe, warum Organisationen und Einzelpersonen in Russland einen Anschlag auf Herrn Litwinenko gewünscht haben könnten. Nach Prüfung aller ihm vorliegenden Beweise kam der Vorsitzende zu dem Ergebnis, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun, als sie Herrn Litwinenko vergifteten, mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Anweisung des russischen Geheimdiensts handelten.
(165) Im Fall einer extraterritorialen außerrechtlichen Tötung können die Behörden des Staates, auf dessen Gebiet diese durchgeführt wurde, nicht viel mehr als Folgendes tun. Sie können und müssen, sofern es die Umstände erlauben, die Täter [...] und die Elemente identifizieren, durch die diese mit dem mutmaßlich verantwortlichen Staat verbunden sind. Dies haben die Behörden Großbritanniens im vorliegenden Fall getan. Die Ermittlung der Täter [...] und die Bezeichnung ihrer Verbindungen zu den Behörden des belangten Staats begründeten einen starken prima facie-Beweis dafür, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun im Auftrag und unter der Kontrolle der russischen Behörden handelten.
(166) Während eine theoretische Möglichkeit bestand, dass die Ermordung [...] eine »Tat von Schurken« ohne staatliche Beteiligung gewesen sein könnte, befinden sich die zur Untermauerung dieser Theorie benötigten Informationen ausschließlich oder zum großen Teil in den Händen der russischen Behörden, die zudem durch die Berufung auf den verfassungsrechtlichen Schutz vor Auslieferung die ausschließliche Hoheitsgewalt über Herr Lugowoi und Herr Kowtun in Anspruch nahmen. Unter diesen Umständen verlagerte sich die Beweislast zu den Behörden des belangten Staats, von denen erwartet werden konnte, eine gründliche Untersuchung dieser Möglichkeit durchzuführen, die an der Operation beteiligten Personen zu ermitteln und zu bestimmen, ob das Verhalten von Herr Lugowoi und Herr Kowtun durch irgendeine staatliche Organisation oder einen Amtsträger angeleitet oder kontrolliert wurde [...].
(167) Die Regierung hat allerdings keine ernsthaften Versuche unternommen, um entweder den Sachverhalt zu erhellen oder den Feststellungen der britischen Behörden zu widersprechen. Tatsächlich haben sie es verabsäumt, sich an irgendwelchen Bemühungen um eine Feststellung der Fakten zu beteiligen [...]. [...]
(168) Am erheblichsten ist jedoch, dass es die russischen Behörden [...] verabsäumten, selbst eine effektive Untersuchung durchzuführen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich die russischen Behörden, die nach deren Rückkehr [...] vollen Zugang zu Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun hatten, um eine Bestätigung jener Tatsachen bemüht hätten, die durch die britische Untersuchung bereits festgestellt worden waren und die – wie der GH oben befunden hat – die Verantwortung von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun für die Ermordung von Alexander Litwinenko zeigten. [...]
(169) Folglich können aus der Weigerung des belangten Staats, irgendwelche sich auf die innerstaatliche Ermittlung beziehenden Dokumente vorzulegen, [...] nachteilige Schlüsse gezogen werden. Angesichts des Versäumnisses der Regierung, den prima facie-Beweis für eine staatliche Beteiligung zu widerlegen, muss der GH zur Schlussfolgerung gelangen, dass Herr Litwinenko von Herrn Lugowoi und Herrn Kowtun vergiftet wurde und diese als Organe des belangten Staats handelten. Die in Beschwerde gezogene Handlung ist diesem Staat zurechenbar.
iii. Schlussfolgerung hinsichtlich des materiellen Aspekts der Beschwerde
(170) [...] Der GH hat anerkannt, dass Herr Lugowoi und Herr Kowtun als Organe des belangten Staats handelten, als sie Herrn Litwinenko vergifteten, und damit in einer Art und Weise physische Macht und Kontrolle über sein Leben ausübten, die ausreicht, um eine im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung [...] herzustellen. Folglich ist die Einrede der Unzulässigkeit ratione loci zu verwerfen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
(171) Da die Regierung nicht versucht hat darzulegen, dass die Tötung von Herrn Litwinenko durch eine der in Art. 2 Abs. 2 EMRK genannten Ausnahmen gerechtfertigt sein könnte, stellt der GH eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen Aspekt fest (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
(174) [...] Die übrigen Beschwerdepunkte sind offensichtlich unbegründet und müssen daher [als unzulässig] [...] zurückgewiesen werden (mehrheitlich).
V. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 100.000,– für immateriellen Schaden; € 22.500,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
Vom GH zitierte Judikatur:
Issa u.a./TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 286
Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463
Al-Skeini u.a./GB v. 7.7.2011 (GK) = NLMR 2011, 219
Janowiec u.a./RUS v. 21.10.2013 (GK) = NLMR 2013, 352
Güzelyurtlu u.a./CY und TR v. 29.1.2019 (GK) = NLMR 2019, 13
Georgien/RUS (II) v. 21.2.2021 (GK) = NLMR 2021, 20
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.9.2021, Bsw. 20914/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 405) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.