JudikaturAUSL EGMR

Bsw43447/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Juli 2021

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Reczkowicz gg. Polen, Urteil vom 22.7.2021, Bsw. 43447/19.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Mangelnde Unabhängigkeit des polnischen Landesjustizrats zieht Verletzungen von Art. 6 EMRK nach sich.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden, € 420,– für Kosten und Auslagen. Im Übrigen wird der Antrag auf gerechte Entschädigung abgewiesen (einstimmig).

Text

Begründung:

Das vorliegende Urteil bezieht sich auf einen Aspekt der umstrittenen polnischen Justizreform, nämlich die Besetzung des Landesjustizrats (Krajowa Rada Sadownictwa) und dessen Mitwirkung an der Bestellung von Richtern.

Zum Hintergrund

Im Zuge der Reorganisation der polnischen Justiz durch die von der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwosc, PiS) dominierte Regierung wurden unter anderem auch die Besetzung des Landesjustizrats geändert und die Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof eingeführt.

Der 1989 eingeführte Landesjustizrat hat gemäß der polnischen Verfassung die Aufgabe, die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter sicherzustellen. Er besteht aus 25 Mitgliedern: den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs und des Obersten Verwaltungsgerichts, 15 gewählten Richtern, vier Abgeordneten des Sejm (Anm: Der Sejm ist neben dem Senat eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung.), zwei Mitgliedern des Senats, dem Justizminister und einer vom Staatspräsidenten entsandten Person. Bis Ende 2017 wurden die richterlichen Mitglieder von Versammlungen der Richter unterschiedlicher Ebenen der Gerichtsbarkeit gewählt. Das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat vom 8.12.2017 übertrug die Zuständigkeit für die Wahl der richterlichen Mitglieder des Justizrats an den Sejm. Dieser wählte am 6.3.2018 15 Richter, die an die Stelle der bisherigen Mitglieder traten.

Mit dem Gesetz über den Obersten Gerichtshof vom 8.12.2017 wurde dessen Organisation insbesondere durch die Einführung einer Disziplinarkammer und einer Kammer für außerordentliche Rechtsmittel und öffentliche Angelegenheiten geändert. Die Disziplinarkammer wurde ausschließlich mit neu gewählten Richtern besetzt.

Nachdem der Staatspräsident im Mai 2018 vakante Stellen am Obersten Gerichtshof im Amtsblatt ausgeschrieben hatte, erließ der Landesjustizrat im August mehrere Resolutionen, mit denen Kandidaten für die Besetzung dieser Richterposten vorgeschlagen wurden. Der Staatspräsident folgte diesen Vorschlägen und bestellte die genannten Personen.

Aufgrund der von einigen nicht berücksichtigten Bewerbern erhobenen Rechtsmittel entschied das Oberste Verwaltungsgericht zunächst, eine Vorabent-scheidung des EuGH einzuholen. (Anm: EuGH 2.3.2021, C-824/18 (A. B. u.a. gg. Krajowa Rada Sadownictwa) = NLMR 2021, 188.) Mit Urteil vom 6.5.2021 hob es die angefochtene Resolution des Landesjustizrats auf, die sich auf die Bestellung von sieben Richtern für die Zivilrechtskammer des Obersten Gerichtshofs bezog. Es stellte fest, dass es dem Justizrat bei der Bestellung von Richtern an der gebotenen Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive mangle. Zudem bemerkte es, dass es der Justizrat verabsäumt hatte, die von mehreren Kandidaten eingebrachten Rechtsmittel an ihn weiterzuleiten.

Zur innerstaatlichen Rechtsprechung

Die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Obersten Gerichtshofs ersuchte den EuGH in drei Verfahren um eine Vorabentscheidung darüber, ob die Disziplinarkammer den aus Art. 47 GRC resultierenden Anforderungen der Unabhängigkeit entsprach. Nachdem der EuGH am 19.11.2019 die entsprechenden unionsrechtlichen Vorgaben klargestellt hatte, (Anm: EuGH 19.11.2019, C-585/18 u.a. (A. K. gg. Krajowa Rada Sadownictwa u.a.).) erließ der Oberste Gerichtshof am 5.12.2019 ein Urteil, in dem er zum Schluss gelangte, der Landesjustizrat sei kein von der Legislative und der Exekutive unabhängiges Gremium.

Die Kammer für außerordentliche Rechtsmittel und öffentliche Angelegenheiten erließ daraufhin am 8.1.2020 eine Resolution, in der sie die Konsequenzen der Vorabentscheidung des EuGH vom 19.11.2019 eng auslegte. Demnach wäre die Unabhängigkeit des Landesjustizrats nur zu prüfen, wenn dies von einem Rechtsmittelwerber geltend gemacht werde und dieser nachweise, dass sich die mangelnde Unabhängigkeit nachteilig auf den Inhalt der ihn betreffenden Entscheidung ausgewirkt hat.

Diese Auffassungsunterschiede veranlassten drei Kammern des Obersten Gerichtshof dazu, am 23.1.2020 eine gemeinsame Resolution zu beschließen, in der die im Urteil vom 5.12.2019 vertretenen Ansichten bekräftigt wurden. Demnach war die Disziplinarkammer aufgrund der Bestellung ihrer Mitglieder unter Beteiligung des nicht ausreichend unabhängigen Landesjustizrats kein gebührend besetztes Gericht.

Das Verfassungsgericht erließ am 20.6.2017 auf Antrag des Justizministers ein Urteil, in dem es einige Bestimmungen über die Wahl der richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats für verfassungswidrig erklärte. Insbesondere erkannte es eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung der Richter unterer Instanzen gegenüber ihren an Berufungsgerichten tätigen Kollegen bei der Kandidatur für den Landesjustizrat.

Zum Verfahren im Fall der Bf.

Gegen die als Rechtsanwältin tätige Bf. wurde am 12.7.2017 von einem Disziplinargericht der Rechtsanwaltskammer eine Disziplinarstrafe verhängt. Diese Entscheidung wurde vom Disziplinarobergericht der Anwaltskammer am 12.5.2018 bestätigt, woraufhin sich die Bf. mit einer Kassationsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof wandte.

Ein mit drei Richtern (K. W., P. Z. und T. P.) besetzter Ausschuss der Disziplinarkammer wies dieses Rechtsmittel am 14.2.2019 ohne Begründung ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), weil mit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs in ihrer Rechtssache kein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht entschieden habe.

Vorbemerkungen

(177) Die vorliegende Rechtssache gehört zu einer Gruppe von 38 zwischen 2018 und 2021 gegen Polen erhobenen Beschwerden, die sich auf verschiedene Aspekte der 2017 begonnenen Reorganisation der polnischen Gerichtsbarkeit beziehen. [...] Angesichts der Bandbreite an rechtlichen und faktischen Fragen, die von dieser Gruppe von Beschwerden aufgeworfen werden, möchte der GH eingangs betonen, dass seine Aufgabe im vorliegenden Fall nicht darin besteht, die Legitimität der Reorganisation der polnischen Gerichtsbarkeit insgesamt einzuschätzen. Er muss vielmehr jene Umstände beurteilen, die für den Vorgang der Bestellung von Richtern der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs nach Inkrafttreten des Gesetzes von 2017 [...], mit dem diese Kammer geschaffen wurde, relevant sind.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf das Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht

(179) Die Bf. brachte [...] vor, die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die in ihrem Fall entschieden hatte, wäre kein »auf Gesetz beruhendes Gericht« iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK gewesen. [...]

Zulässigkeit

(183) Nach der ständigen Rechtsprechung des GH betreffen Disziplinarverfahren, in denen es um das Recht geht, einen Beruf weiter auszuüben, »Streitigkeiten« über zivilrechtliche Ansprüche iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dieser Grundsatz wurde im Bezug auf Verfahren vor unterschiedlichen Disziplinargremien von Berufsvertretungen und [...] insbesondere im Hinblick auf Richter und Rechtsanwälte [...] angewendet.

(184) Im vorliegenden Fall ist die Bf. Rechtsanwältin, die in Folge des Disziplinarverfahrens vorübergehend [...] suspendiert wurde. Der GH [...] sieht keine Grundlage dafür festzustellen, dass das Disziplinarverfahren gegen die Bf. eine strafrechtliche Anklage gegen sie betroffen hätte [...].

(185) Folglich ist Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt auf das umstrittene Verfahren vor der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs anwendbar.

(186) [...] Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(216) In ihrem jüngsten Urteil Guðmundur Andri Ástráðsson/IS stellte die GK den Umfang und die Bedeutung des Konzepts des »auf Gesetz beruhenden Gerichts« klar. Der GH bekräftigte, dass der Zweck dieser Anforderung [...] darin besteht sicherzustellen, dass die Organisation der Gerichtsbarkeit [...] nicht vom Ermessen der Exekutive abhängt, sondern durch ein vom Parlament erlassenes Gesetz geregelt wird. [...]

(217) [...] Dem Begriff des »Gerichts« sei [...] auch inhärent, dass ein »Gericht« aus Richtern besteht, die aufgrund ihrer Verdienste ausgewählt werden, also aus Richtern, die den Anforderungen der fachlichen Kompetenz und der moralischen Integrität entsprechen. [...]

(218) Zum Ausdruck »beruhend« (established) verwies der GH auf den Zweck dieser Anforderung, der darin besteht, die Gerichtsbarkeit vor unrechtmäßigem äußerem Einfluss zu schützen, insbesondere seitens der Exekutive, aber auch seitens des Gesetzgebers [...]. Wie er in diesem Kontext festhielt, stellt der Prozess der Richterbestellung ein inhärentes Element des Konzepts des »Beruhens auf Gesetz« dar, der eine strenge Prüfung verlangt. Verstöße gegen das den Prozess der Richterbestellung regelnde Recht können die Teilnahme des betroffenen Richters an der Prüfung einer Rechtssache »irregulär« machen.

(219) Zur dritten Komponente, »auf Gesetz«, stellte der GH klar, dass dies auch »ein im Einklang mit dem Gesetz errichtetes Gericht« bedeutet. [...]

(220) Zum Wechselspiel zwischen der Anforderung des Bestehens eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts« und den Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stellte der GH [...] fest, dass obwohl das Recht auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« ein eigenständiges Recht [...] wäre, in der Rechtsprechung des GH eine sehr enge Beziehung zwischen diesem spezifischen Recht und den Garantien der »Unabhängigkeit« und »Unparteilichkeit« formuliert worden sei. Die institutionellen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK teilten den gemeinsamen Zweck der Wahrung der fundamentalen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung. Der GH stellte fest, dass die Prüfung unter der Anforderung des »auf Gesetz beruhenden Gerichts« systematisch zu untersuchen hätte, ob die behauptete Unregelmäßigkeit in einem konkreten Fall von einer solchen Schwere war, dass die genannten fundamentalen Prinzipien untergraben und die Unabhängigkeit des fraglichen Gerichts beeinträchtigt wurden.

(221) Um zu beurteilen, ob die Unregelmäßigkeiten bei einem bestimmten Richterbestellungsverfahren von einer solchen Schwere waren, dass sie eine Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht begründeten, [...] entwickelte der GH einen Schwellentest, der drei kumulativ anzuwendende Kriterien umfasst.

(222) Als erstes muss grundsätzlich ein insofern offenkundiger Verstoß gegen innerstaatliches Recht vorliegen, als er objektiv und wirklich als solcher erkennbar sein muss. [...]

(223) Zweitens muss der fragliche Verstoß im Licht des Ziels und Zwecks des Erfordernisses eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts« beurteilt werden, nämlich die Fähigkeit der Gerichtsbarkeit sicherzustellen, ihre Aufgaben ohne ungebührliche Einflussnahme wahrzunehmen und dadurch die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltentrennung zu wahren. [...]

(224) Drittens spielt eine etwaige von nationalen Gerichten durchgeführte Überprüfung der rechtlichen Folgen – in Bezug auf die Konventionsrechte des Einzelnen – eines Verstoßes gegen eine innerstaatliche Regel über die Richterbestellung eine erhebliche Rolle bei der Entscheidung, ob ein solcher Verstoß eine Verletzung des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« begründete. [...]

Anwendung auf den vorliegenden Fall

Vorbemerkungen

(225) Im vorliegenden Fall betrifft die behauptete Verletzung des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, wie sie nach der jüngsten Reorganisation des polnischen Justizsystems eingerichtet wurde. Insbesondere behauptete die Bf., dass die Richter dieser Kammer vom polnischen Staatspräsidenten auf Vorschlag des Landesjustizrats in offenkundiger Verletzung des innerstaatlichen Rechts und der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit bestellt wurden.

(226) Dementsprechend wird der GH prüfen, ob die Tatsache, dass die Rechtssache der Bf. von der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs – einem Gericht, dessen Richter alle in dem umstrittenen Verfahren bestellt wurden – entschieden wurde, eine Verletzung des Rechts der Bf. auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« begründete. Er wird dies im Licht des im Fall Guðmundur Andri Ástráðsson/IS dargelegten dreistufigen Tests tun.

Gab es einen offenkundigen Verstoß gegen das innerstaatliche Recht?

(227) Nach dem ersten Element des Tests muss der GH bestimmen, ob im Verfahren zur Bestellung der Richter der Disziplinarkammer [...] gegen das einschlägige innerstaatliche Recht verstoßen wurde.

Die Parteien sind sich in dieser Hinsicht uneinig. Zur Untermauerung ihrer Argumente stützten sie sich auf entgegengesetzte Ansichten, die einerseits vom Obersten Gerichtshof und andererseits vom Verfassungsgericht [...] zum Ausdruck gebracht wurden.

(228) Die Bf. berief sich vor allem auf die Schlussfolgerungen des Obersten Gerichtshofs in seinem Urteil vom 5.12.2019 und seiner auslegenden Resolution vom 23.1.2020. Sie betonte, dass dieses Gericht eindeutig eine fundamentale Verletzung von innerstaatlichem und internationalem Recht sowie der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Zuge des Verfahrens zur Bestellung der Richter der Disziplinarkammer festgestellt hatte. [...]

(229) Die Regierung ihrerseits versicherte, dass die Reform des Landesjustizrats und des Obersten Gerichtshofs in Übereinstimmung mit der Verfassung und dem nationalen Recht erfolgt sei. Sie betonte, dass die Änderung der rechtlichen Bestimmungen über die Organisation des Justizrats, die dem Sejm die Kompetenz zur Wahl seiner richterlichen Mitglieder einräumte, [...] erfolgt sei, um das Urteil des Verfassungsgerichts vom 20.6.2017 umzusetzen, mit dem [...] die Art der Wahl der richterlichen Mitglieder des Justizrats [...] für verfassungswidrig erklärt worden war. [...]

(230) Angesichts der beiden fundamental entgegengesetzen Ansichten der polnischen Höchstgerichte über das Vorliegen eines offenkundigen Verstoßes gegen das innerstaatliche Recht, mit denen der GH konfrontiert ist, möchte er betonen [...], dass er in der Regel der Ansicht der nationalen Gerichte über das Vorliegen eines offenkundigen Verstoßes gegen das innerstaatliche Recht [...] folgt, solange die Feststellungen des innerstaatlichen Gerichts nicht als willkürlich oder offensichtlich unsachlich angesehen werden können.

Sobald allerdings ein Verstoß gegen die einschlägigen innerstaatlichen Regeln festgestellt wurde, muss die Beurteilung der rechtlichen Wirkungen eines solchen Verstoßes durch die nationalen Gerichte auf der Grundlage der relevanten Rechtsprechung zur EMRK und der daraus abgeleiteten Grundsätze vorgenommen werden. Wo die nationalen Gerichte die Tatsachen und die Beschwerdevorbringen im Licht der Konventionsstandards gebührend beurteilt, die auf dem Spiel stehenden widerstreitenden Interessen angemessen gegeneinander abgewogen und die gebotenen Schlüsse gezogen haben, würde der GH gewichtige Gründe dafür brauchen, die Einschätzung der nationalen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen. [...]

(231) Die Aufgabe des GH besteht somit im vorliegenden Fall nicht darin, die bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu lösen oder die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Einschätzung der geltenden Bestimmungen durch seine eigene zu ersetzen, sondern darin, im Licht der oben genannten Grundsätze zu prüfen, ob die polnischen Gerichte in ihren jeweiligen Urteilen den gebotenen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen auf dem Spiel stehenden Interessen getroffen und bei der Erfüllung dieser Aufgabe [...] die von einem »auf Gesetz beruhenden Gericht« verlangten Konventionsstandards gebührend berücksichtigt und geachtet haben.

(232) Was die auf die Richterbestellungen anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen betrifft, herrscht Einigkeit darüber, dass diese in der Verfassung, im Gesetz über den Landesjustizrat von 2011 in der Fassung der Änderung von 2017 und im Gesetz von 2017 über den Obersten Gerichtshof enthalten sind. Gemäß diesen in ihrer Gesamtheit gelesenen Regeln werden Richter auf allen Ebenen und an allen Arten von Gerichten einschließlich des Obersten Gerichtshofs vom polnischen Staatspräsidenten auf Empfehlung des Landesjustizrats ernannt. Diese Empfehlung wird vom Justizrat nach einem kompetitiven Auswahlverfahren erlassen, in dem er die Kandidaten beurteilt und nominiert. Der Vorschlag des Justizrats an den Staatspräsidenten ist eine unabdingbare Voraussetzung für jede Richterernennung. Der Präsident kann niemanden zum Richter ernennen, der nicht auf diese Art vorgeschlagen wurde. Zugleich steht es ihm aber frei [...], eine vorgeschlagene Person nicht zu ernennen.

(233) Der Landesjustizrat selbst ist ein in der Verfassung vorgesehenes Gremium, dessen Hauptaufgabe [...] darin besteht, die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern sicherzustellen. [...] Seine Organisationsstruktur, der Umfang seiner Aktivitäten und seine Arbeitsweise sowie die Art der Auswahl seiner Mitglieder sind gesetzlich geregelt.

(234) [...] Das zentrale Argument der Bf. besteht darin, dass der erste offenkundige Verstoß gegen das innerstaatliche Recht seinen Ursprung im Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat von 2017 hat [...], da dieses dazu geführt hätte, dass dieses Gremium nicht länger von der Exekutive und der Legislative unabhängig ist.

(235) Der GH möchte einleitend darauf hinweisen, dass das umstrittene Gesetz einen Bestandteil der Gesetzgebung über die von der Regierung 2017 angestoßene Reorganisation der polnischen Gerichtsbarkeit bildet und als solches nicht isoliert zu betrachten ist, sondern im Kontext koordinierter Änderungen des polnischen Rechts zu diesem Zweck und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ihre Auswirkungen auf das polnische Justizsystem die Aufmerksamkeit und Besorgnis zahlreicher internationaler Organisationen und Gremien erregt haben sowie zum Gegenstand mehrerer Verfahren vor dem EuGH wurden.

(236) Gemäß dem Vorbringen der Regierung erfolgte die Gesetzesänderung von 2017 zur Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts vom 20.6.2017, wonach die Bestimmungen über das Verfahren zur Wahl der richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats [...] verfassungswidrig waren [...]. [...] Die Regierung argumentierte wie das Verfassungsgericht damit, dass [...] die frühere Ungleichbehandlung bei der Wahl von Richtern auf verschiedenen Ebenen der Gerichtsbarkeit beseitigt werden musste, weil diese Richter der niedrigeren Gerichte diskriminiert hätte [...].

(237) Der GH anerkennt, dass das verfolgte Ziel und die allgemeinen Gründe für das neue Modell der Wahl der richterlichen Mitglieder des Justizrats auf den ersten Blick als legitim berücksichtigt werden könnten. Allerdings kann diese Rechtfertigung für sich alleine nicht als ausreichend angesehen werden, um die völlige Abkehr des Verfassungsgerichts von seiner früheren Rechtsprechung zu tragen, ohne dass diese wie oben betont auf einer von der EMRK verlangten gebührenden Einschätzung unter Abwägung der berührten widerstreitenden Interessen beruht.

(238) Wie der GH in diesem Zusammenhang bemerkt, setzte sich das Verfassungsgericht abgesehen von seiner Feststellung, wonach »das Verfassungsgericht in seiner derzeitigen Zusammensetzung nicht mit der Ansicht [des Verfassungsgerichts] in seinem Urteil [vom 18.7.2007] übereinstimmt, dass die richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats nach der Verfassung von Richtern zu wählen sind«, nicht mit den in diesem früheren Urteil enthaltenen rechtlichen Argumenten auseinander. (Anm: In seinem Urteil vom 18.7.2007 hatte das Verfassungsgericht Bestimmungen über die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im Landesjustizrat mit bestimmten anderen Funktionen zu beurteilen. Im Zuge dessen stellte es auch fest, dass die richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats nach der Verfassung von Richtern zu wählen sind.) Zwar trifft es zu, dass das Urteil nach einer Änderung der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts durch die Wahl von fünf Richtern im Dezember 2015 (siehe dazu Xero Flor w Polscee sp. z o.o./PL) erlassen wurde, doch kann dies alleine nicht als Grund für die Schaffung einer neuen und abweichenden Auslegung der Verfassung dienen. Auch sollte dies für die Richter des Verfassungsgerichts kein Hindernis dafür sein, eine überzeugende Begründung zu liefern oder seine spezifischen rechtlichen Überlegungen zu erklären, wenn sie von einem rechtskräftigen, in seiner Geltung universell bindenden und seit zehn Jahren gültigen Urteil abgehen, das von ihren Vorgängern erlassen wurde.

(239) [...] Der GH kann in dem Urteil keinen Versuch seitens des Verfassungsgerichts entdecken zu erklären, warum und wie das neue Wahlmodell den Interessen der Gerichtsbarkeit und der Chancengleichheit besser entsprechen würde [...]. Auch scheinen in seinen Überlegungen weder die Rechtsprechung zur EMRK noch die fundamentalen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit eine Rolle gespielt zu haben, obwohl diese auch in der polnischen Verfassung verankert sind und im Kontext der neuen Auslegung offensichtlich relevant waren.

Wie die späteren Entwicklungen sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene zeigen, scheint das Verfassungsgericht außerdem mit seiner Auffassung und Einschätzung der Notwendigkeit und Legitimität der Änderung des Verfahrens zur Wahl der richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats isoliert gewesen zu sein.

(240) Zunächst erregte der Vorschlag, [...] wonach die richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats vom Sejm gewählt werden sollten, schon sehr früh Besorgnis hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den europäischen Standards und seiner Auswirkungen auf die Unabhängigkeit dieses Gremiums und der polnischen Gerichtsbarkeit insgesamt. [Entsprechende Bedenken wurden unter anderem von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, der OSZE, der Venedig-Kommission und dem Beirat europäischer Richterinnen und Richter geäußert.]

(244) Weitere internationale Berichte, die auf das Inkrafttreten der Gesetzesänderung folgten, stimmten mit dieser Einschätzung überein. [Diese stammten vom UN-Sonderberichterstatter über die Unabhängigkeit von Richtern und Rechtsanwälten, der Menschenrechtskommissarin des Europarats und der Staatengruppe gegen Korruption.]

(245) Am 17.9.2018 suspendierte das Europäische Netzwerk der Räte für die Justiz die Mitgliedschaft des Landesjustizrats wegen Verstoßes gegen die Regel, wonach Mitglieder unabhängig von der Exekutive sein müssen [...].

(246) Zur gleichen Zeit wurde [...] die Reorganisation des polnischen Justizsystems von den Institutionen der EU als Schaffung eines »klaren Risikos eines schwerwiegenden Verstoßes gegen die in Art. 2 AEUV genannten Werte« durch Polen und eine »systemische Bedrohung« der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit beurteilt. (Anm: Empfehlung (EU) 2016/1374 der Kommission vom 27.7.2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (ABl. L 2016/217, 53); Empfehlung (EU) 2017/146 der Kommission vom 21.12.2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung zur Empfehlung (EU) 2016/1374 (ABl. L 2017/22, 65); Empfehlung (EU) 2017/1520 der Kommission vom 26.7.2017 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung der Empfehlungen (EU) 2016/1374 und (EU) 2017/146 (ABl. L 2017/228, 19); Empfehlung (EU) 2018/103 der Kommission vom 20.12.2017 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung der Empfehlungen (EU) 2016/1374, (EU) 2017/146 und (EU) 2017/1520, ABl. L 2018/17, 50.)

(247) Wie im Fall der Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat äußerte die Venedig-Kommission ihre Besorgnis über das Gesetz von 2017 über den Obersten Gerichtshof bereits vor dessen Inkrafttreten [...]. Demnach würde die beabsichtigte Einrichtung neuer Kammern [...] »nicht nur die Unabhängigkeit der Richter des Obersten Gerichtshofs gefährden, sondern auch eine schwerwiegende Gefahr für die Rechtssicherheit schaffen«. [...]

(248) Auf innerstaatlicher Ebene gaben dieselben Sorgen und ernsten Zweifel hinsichtlich der Disziplinarkammer [...] in drei Fällen Anlass für Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH durch die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Obersten Gerichtshofs. [...]

(249) Am 19.11.2019 kam der EuGH [...] zu dem Ergebnis, dass die Disziplinarkammer nicht den in Art. 47 GRC enthaltenen Anforderungen der Unabhängigkeit entsprach. Er erinnerte daran, dass die Auslegung von Art. 47 GRC auf der Rechtsprechung des GH zu Art. 6 Abs. 1 EMRK beruht und erließ eine Vorabentscheidung, in der er die Elemente in Erinnerung rief, die für die eigene Beurteilung des vorlegenden Gerichts entscheidend sind. [...]

(251) Die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Obersten Gerichtshofs erließ am 5.12.2019 ein Urteil im ersten der drei Fälle, in denen sie eine Vorabentscheidung eingeholt hatte. [...] Darin unternahm sie eine ausführliche Analyse der innerstaatlichen Gesetzgebung im Lichte der Vorgaben des EuGH und der Rechtsprechung des GH zu Art. 6 EMRK.

(252) Zu den Umständen der Schaffung des Landesjustizrats und dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 20.6.2017, das Anlass für die Änderung des Wahlverfahrens gegeben hatte, bemerkte der Oberste Gerichtshof, dass das Verfassungsgericht angesichts des Fehlens einer Verfassungsänderung nicht die in dem Urteil von 2007 vertretene Position geändert, sondern vielmehr ein Abweichen in seiner Rechtsprechung geschaffen hatte [...]. Die neue Auslegung fand seiner Ansicht nach keine Unterstützung durch die Rechtstheorie und das Urteil selbst war Ausdruck der Verfassungskrise in Polen, da es in einer Zusammensetzung erlassen worden war, die zwei unrechtmäßig bestellte Mitglieder einschloss.

(253) Er stellte weiters fest, dass nach der Gesetzesänderung von 2017 [...] der Gesetzgeber und die Exekutive beinahe ein Monopol zur Besetzung des Justizrats erlangt hatten, da 23 der 25 Mitglieder von ihnen und nicht von der Gerichtsbarkeit bestimmt wurden. Folglich sei der Grundsatz der Gewaltentrennung [...] missachtet worden.

(254) [...] Unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände kam der Oberste Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Landesjustizrat bei der Richterbestellung nicht über ausreichende Garantien der Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive verfügte.

(255) Was die Disziplinarkammer betrifft, folgte der Oberste Gerichtshof den Anleitungen des EuGH und nahm unterschiedliche Elemente in Betracht. [...] Zusammengenommen führten diese dazu [...] dass die Disziplinarkammer eindeutig kein »Gericht« oder »Tribunal« iSv. Art. 47 GRC, Art. 6 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der polnischen Verfassung wäre.

(256) Die obigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der fehlenden Unabhängigkeit und der fehlenden Eigenschaft der Disziplinarkammer als »Tribunal« wurden von einer Versammlung des Obersten Gerichtshofs, die sich aus 59 Mitgliedern der Zivil-, Straf- und Sozialversicherungskammern zusammensetzte, in einer auslegenden Resolution vom 23.1.2020 vollumfänglich bekräftigt. [...] Diese Resolution resultierte aus einer Uneinheitlichkeit in der Judikatur des Obersten Gerichtshofs, die insbesondere durch eine Resolution der Kammer für außerordentliche Rechtsmittel und öffentliche Angelegenheiten verursacht wurde, mit der die Folgen der Vorabentscheidung des EuGH vom 19.11.2019 entgegen dem Urteil vom 5.12.2009 eng ausgelegt wurden.

(257) Die vereinigten Kammern stellten fest, dass es dem Landesjustizrat [...] an der notwendigen Unabhängigkeit von der legislativen und der exekutiven Gewalt fehlte und dass ein richterlicher Senat, dem eine aufgrund seiner Empfehlung bestellte Person angehörte, [...] nicht dem Gesetz entsprach und eine Verletzung von Art. 47 GRC, Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung begründete.

Diese in einer ausführlichen Begründung erklärten Schlussfolgerungen wurden nach einer sorgfältigen und gründlichen Einschätzung aller Elemente, die für ein »unabhängiges, auf Gesetz beruhendes Gericht« relevant sind, und im Licht der Verfassungsprinzipien [...] getroffen.

(258) Die Regierung brachte vor, die auslegende Resolution des Obersten Gerichtshofs wäre durch ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 20.4.2020 »entfernt« worden, wonach Entscheidungen des Staatspräsidenten über die Ernennung von Richtern keiner Überprüfung unterzogen werden könnten [...] und diese Resolution unvereinbar mit einer Reihe von Verfassungsgrundsätzen [...] sei.

(260) In diesem Kontext bekräftigt der GH, dass das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK im Licht der Präambel [...] auszulegen ist, welche die Rechtsstaatlichkeit [...] zum gemeinsamen Erbe der Mitgliedstaaten erklärt. Das Recht auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« ist Ausdruck eben dieses Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und spielt als solcher eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit und Legitimität der Gerichtsbarkeit, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.

Zu erinnern ist auch daran, dass es sich zwar beim Recht auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« um ein eigenständiges Recht [...] handelt, es jedoch eine sehr enge Wechselwirkung zwischen diesem spezifischen Recht und den Garantien der »Unabhängigkeit« und »Unparteilichkeit« gibt. Während jedes dieser drei Elemente [...] spezifischen Zwecken dient, hat der GH insofern eine Gemeinsamkeit der institutionellen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erkannt, als sie alle von dem Ziel geleitet werden, die fundamentalen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltentrennung zu bewahren.

(261) Was den vorliegenden Fall betrifft, ist der GH nicht davon überzeugt, dass die Resolution des Obersten Gerichtshofs durch das von der Regierung ins Treffen geführte Urteil des Verfassungsgerichts seiner Bedeutung oder Wirkungen für die Entscheidung des GH über das Vorliegen eines »offenkundigen Verstoßes gegen das innerstaatliche Recht« [...] beraubt würde. Dieses Urteil scheint sich hauptsächlich darauf zu konzentrieren, die verfassungsrechtliche Befugnis des Präsidenten zur Bestellung von Richtern und den Status quo des Justizrats zu schützen. Die für die Einschätzung des Obersten Gerichtshofs entscheidenden Fragen werden hingegen nicht angesprochen [...].

(262) Angesichts des augenfälligen Fehlens einer nachvollziehbaren, ausgewogenen und sachlichen Analyse der ihm vorliegenden Umstände [...] muss die Beurteilung durch das Verfassungsgericht nach Ansicht des GH als willkürlich angesehen werden. Ihr kann daher bei der vom GH zu treffenden Schlussfolgerung, ob es zu einem offenkundigen Verstoß gegen das die Ernennung von Richtern für die Disziplinarkammer regelnde innerstaatliche Recht gekommen ist, der objektiv und aufrichtig als solcher identifiziert werden kann, kein Gewicht zukommen.

(263) Überdies muss dieses Urteil nach Ansicht des GH in Verbindung mit dem allgemeinen Kontext gesehen werden, in dem das Verfassungsgericht seit Ende 2015 agiert, sowie mit dessen Handlungen, die darauf abzielten, die Feststellung in der Resolution des Obersten Gerichtshofs zu untergraben, wonach das innerstaatliche und das internationale Recht durch das mangelhafte Verfahren zur Bestellung der richterlichen Mitglieder des Justizrats verletzt würden.

Diese Aktivitäten begannen mit einer noch nie dagewesenen einstweiligen Verfügung vom 28.1.2020, mit der die Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs zum Erlass von Resolutionen ausgesetzt wurde, die sich auf die Vereinbarkeit der Zusammensetzung des Justizrats, des von diesem durchgeführten Verfahrens zur Richterbestellung und der Befugnis des Präsidenten zur Ernennung von Richtern mit dem internationalen Recht und der Rechtsprechung internationaler Gerichte bezogen. Ein derartiger Eingriff in ein Gericht, der darauf abzielt, ihm die Ausübung seiner rechtsprechenden Funktion bei der Anwendung und Auslegung der EMRK und anderer internationaler Verträge unmöglich zu machen, muss als Affront gegen die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit gesehen werden.

Die endgültige Entscheidung des Verfassungsgerichts in dieser Angelegenheit schrieb diesen Zustand fort, indem sie festhielt, der Oberste Gerichtshof habe »keine Zuständigkeit« dafür, Resolutionen über die Auslegung von rechtlichen Bestimmungen zu erlassen, die zu einer »Anpassung der rechtlichen Situation betreffend die Organisationsstruktur der Gerichtsbarkeit« führen könnten.

Nebenbei möchte der GH anmerken, dass der Senat des Verfassungsgerichts, der alle diese Entscheidungen [...] erließ, Richter M. M. einschloss, dessen eigene Bestellung [...] Zweifel hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit aufwarf [...] und Gegenstand einer Beurteilung hinsichtlich der Anforderungen an ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« durch den GH war (Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL).

(264) Angesichts all dieser Überlegungen und insbesondere der überzeugenden und eindringlichen Argumente des Obersten Gerichtshofs in seinem Urteil vom 5.12.2019 und seiner Resolution vom 23.1.2020 sowie der – nach einer gründlichen und sorgfältigen Beurteilung des relevanten polnischen Rechts aus der Perspektive der grundlegenden Standards der Konvention und in Anwendung der Anleitungen und der Rechtsprechung des EuGH getroffenen – Schlussfolgerungen dieses Gerichts über die Gesetzwidrigkeit des Verfahrens zur Bestellung der Mitglieder der Disziplinarkammer erachtet es der GH als erwiesen, dass im vorliegenden Fall ein offenkundiger Verstoß gegen das innerstaatliche Recht im Sinne des ersten Schritts des Ástráðsson-Tests erfolgt ist.

Bezogen sich die Verstöße gegen das innerstaatliche Recht auf eine grundlegende Regel über das Verfahren zur Ernennung von Richtern?

(266) Um zu entscheiden, ob ein bestimmter Defekt im richterlichen Bestellungsvorgang von einer solchen Schwere war, dass er eine Verletzung des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« begründete, muss unter anderem der Zweck der verletzten Bestimmung berücksichtigt werden, also ob sie darauf abzielte, jede unangemessene Einmischung der Exekutive oder der Legislative in die Gerichtsbarkeit zu verhindern, und ob der fragliche Verstoß den Wesenskern des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« beeinträchtigte.

(267) Das Verfahren zur Bestellung von Richtern kann solchen unangemessenen Einmischungen ausgesetzt sein, weshalb es einer strengen Überprüfung bedarf. Zudem ist offenkundig, dass Verstöße gegen das die Richterbestellung regelnde Recht die Teilnahme des betroffenen Richters an der Behandlung einer Rechtssache »irregulär« machen können, da ein Zusammenhang zwischen dem Verfahren zur Bestellung eines Richters und der Rechtmäßigkeit des Senats besteht, dem ein solcher Richter in weiterer Folge angehört.

(268) In diesem Kontext möchte der GH auch auf die Feststellungen des EuGH in seiner Vorabentscheidung vom 19.11.2019 verweisen, [wonach] der Grad der vom Landesjustizrat [...] genossenen Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive relevant werden kann, wenn es darum geht zu beurteilen, ob die von ihm ausgewählten Richter den sich aus Art. 47 GRC ergebenden Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entsprechen können.

(269) Was den Grad der Unabhängigkeit des Landesjustizrats und die Frage unangemessener Einmischungen seitens der legislativen und der exekutiven Gewalt in das Bestellungsverfahren betrifft, verweist der GH zunächst auf die verschiedenen – und in der Sache einstimmigen – Ansichten der internationalen Organisationen und Gremien [...], wonach die [...] 2017 erfolgten Änderungen beim Verfahren zur Wahl der richterlichen Mitglieder des Justizrats dazu führten, dass dieser nicht länger unabhängig war und seine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Sicherstellung der Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern nicht mehr erfüllen konnte.

(270) In diesem Kontext erachtet es der GH auch als wichtig, die Umstände zu berücksichtigen, unter denen der neue Landesjustizrat konstituiert wurde.

(271) Nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung [...] am 17.1.2018 [...] wählte der Sejm am 6.3.2018 die 15 richterlichen Mitglieder [...]. Wie der polnische Menschenrechtskommissar als Drittbeteiligter vorbrachte, wurden diese Wahlen [...] offenkundig boykottiert, bewarben sich doch nur 18 Kandidaten für die 15 Stellen [...]. Wie die Internationale Juristenkommission [...] darlegte, waren sechs der 15 vom Parlament bestellten Mitglieder in den vergangenen sechs Monaten vom Justizminister als Präsidenten oder Vizepräsidenten verschiedener Gerichte ernannt worden. Von der Menschenrechtskommissarin des Europarats [...] wurde die Besorgnis geäußert, dass die meisten der Mitglieder des aktuellen Justizrats entweder der herrschenden Partei angehören, ein Regierungsamt innehaben oder vom Parlament aufgrund einer Empfehlung der Regierungspartei ausgewählt wurden.

(272) Der Oberste Gerichtshof stellte in seinem Urteil vom 5.12.2019 fest, dass die Mehrheit der Kandidaten für die Wahl der richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats durch Personen vorgeschlagen wurde, die direkt oder indirekt der Exekutive unterstanden. In seiner Resolution vom 23.1.2020 hielt er fest, dass der Justizminister, der zugleich Generalstaatsanwalt ist, einen erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Landesjustizrats ausübte.

(274) [...] Durch die 2017 erfolgte Gesetzesänderung, die der Judikative das ihr nach der früheren Rechtslage zukommende und von internationalen Standards anerkannte Recht entzog, die richterlichen Mitglieder des Justizrats zu nominieren und zu wählen, erlangten die legislative und die exekutive Gewalt nach Ansicht des GH entscheidenden Einfluss auf dessen Zusammensetzung. Das Gesetz beseitigte nicht nur das frühere repräsentative System, sondern auch die Garantien der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit in diesem Bereich. Dies erlaubte es der Exekutive und der Legislative, direkt oder indirekt in das Verfahren zur Bestellung der richterlichen Mitglieder einzugreifen. Von dieser Möglichkeit wurde [...] auch Gebrauch gemacht [...].

(275) Zugleich wurde die erste Präsidentin des Obersten Gerichtshofs durch das Gesetz von 2017 über den Obersten Gerichtshof ihres Vorrechts beraubt, vakante Stellen an diesem Gericht auszuschreiben [...]. Dies führte zu einer weiteren Schwächung der Gerichtsbarkeit im Verfahren der Bestellung von Richtern, insbesondere jenen des Obersten Gerichtshofs.

(276) Alle diese Umstände gemeinsam betrachtend findet der GH, dass der von ihm oben festgestellte Verstoß gegen das innerstaatliche Recht, der sich aus der Missachtung des Grundsatzes der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ergab, das umstrittene Bestellungsverfahren inhärent getrübt hat, weil der Vorschlag von Kandidaten für die Bestellung von Richtern für die Disziplinarkammer – der eine unabdingbare Voraussetzung für die Ernennung durch den Staatspräsidenten bildet – in Folge dieses Verstoßes dem Landesjustizrat anvertraut war, bei dem es sich um ein Gremium handelt, dem die nötige Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive fehlt. Ein Verfahren zur Bestellung von Richtern, das wie im vorliegenden Fall einen unangemessenen Einfluss der legislativen und der exekutiven Gewalt [...] aufweist, ist per se unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 EMRK und stellt als solches eine grundlegende Irregularität dar, die den gesamten Vorgang beeinträchtigt und die Legitimität eines mit auf diese Weise bestellten Richtern besetzten Gerichts kompromittiert.

(277) Insgesamt betrachtet waren die Verstöße im Verfahren zur Bestellung von Richtern für die Disziplinarkammer von einer solchen Schwere, dass sie den Wesenskern des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« beeinträchtigten.

Wurden die Vorwürfe hinsichtlich des Rechts auf ein »auf Gesetz beruhendes Gericht« von den nationalen Gerichten effektiv überprüft?

(278) [...] Weder die Regierung noch der Bf. brachten vor, dass es nach polnischem Recht ein Verfahren gegeben hätte, in dem die Bf. die behaupteten Mängel bei der Bestellung von Richtern für die Disziplinarkammer [...] geltend machen hätte können.

(279) Der GH stellt fest, dass für die Bf. kein solches Verfahren verfügbar war. Folglich wurden keine Rechtsbehelfe geboten.

Gesamtschlussfolgerung

(280) Wie der GH festgestellt hat, kam es zu einem offenkundigen Verstoß gegen das innerstaatliche Recht, der die grundlegenden Regeln über das Verfahren zur Bestellung von Richtern für die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs negativ beeinträchtigte, da die Bestellung aufgrund eines Vorschlags des aufgrund der Gesetzesänderung von 2017 eingerichteten Landesjustizrats getätigt wurde – einem Gremium, das nicht länger ausreichende Garantien der Unabhängigkeit von den legislativen oder exekutiven Gewalten bot.

Die Unregelmäßigkeiten beim Bestellungsverfahren kompromittierten die Legitimität der Disziplinarkammer in einem solchen Ausmaß, dass es dieser nach einem inhärent mangelhaften Verfahren der Bestellung ihrer Richter an den Eigenschaften eines iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK »auf Gesetz beruhenden Gerichts« mangelte und nach wie vor mangelt. Der Wesenskern des in Rede stehenden Rechts wurde somit beeinträchtigt.

(281) In diesem Lichte und in Anbetracht seiner oben dargelegten Gesamtbeurteilung nach dem dreistufigen Test kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die den Fall der Bf. geprüft hat, kein »auf Gesetz beruhendes Gericht« war.

(282) Folglich hat [...] eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht

(284) [...] Den Beschwerdebehauptungen betreffend das »auf Gesetz beruhende Gericht« und das Erfordernis der »Unabhängigkeit und Unparteilichkeit« liegt dasselbe Problem eines inhärent mangelhaften Verfahrens zur Bestellung der Richter für die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs zugrunde. [...]

Die Frage, ob [die festgestellten Unregelmäßigkeiten] auch die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit [...] beeinträchtigten, wurde bereits beantwortet und bedarf keiner weiteren Prüfung.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden; € 420,– für Kosten und Auslagen. Im Übrigen wird der Antrag auf gerechte Entschädigung abgewiesen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Helmut Blum/A v. 5.4.2016 = NLMR 2016, 129

Baka/H v. 23.6.2016 (GK) = NLMR 2016, 267

Guðmundur Andri Ástráðsson/IS v. 1.12.2020 (GK) = NLMR 2020, 468

Xero Flor w Polsce sp. z o.o./PL v. 7.5.2021 = NLMR 2021, 240

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.7.2021, Bsw. 43447/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 322) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise