Bsw62903/15 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Kurt gg. Österreich, Urteil vom 15.6.2021, Bsw. 62903/15.
Spruch
Art. 2 EMRK - Staatliche Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit der Tötung eines Achtjährigen durch seinen Vater.
Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (10:7 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die 1978 geborene Bf. und E. heirateten 2003. 2004 wurde ihr gemeinsamer Sohn A. geboren, 2005 ihre gemeinsame Tochter B.
Am 10.7.2010 rief die Bf. die Polizei und gab an, dass ihr Mann sie geschlagen hätte. Sie erklärte, dass Letzterer ihr gegenüber bereits seit Jahren gewalttätig wäre, sich dies aber noch verschlimmert hätte, seit er spielsüchtig und verschuldet sei und seinen Job verloren hätte. Die Polizei ordnete gegenüber E. ein Betretungsverbot und eine Wegweisung zum Schutz vor Gewalt in Wohnungen entsprechend § 38a SPG in seiner damaligen Fassung (im Folgenden: »Betretungsverbot«) an. Dadurch wurde er verpflichtet, der ehelichen Wohnung sowie der Wohnung der Eltern der Bf. und der jeweiligen Umgebung für zwei Wochen fernzubleiben. (Anm: Bis zum Inkrafttreten der Änderung des § 38a SPG im September 2013, die den Ereignissen des gegenständlichen Falles geschuldet war, war die Anordnung eines Betretungsverbotes nur für den Wohnbereich und dessen Umkreis vorgesehen. Danach konnte es auch für Schulen únd Kinderbetreuungseinrichtungen erlassen werden.) Es scheint, dass E. sich an das Verbot hielt. Das LG für Strafsachen Graz verurteilte ihn am 10.1.2011 wegen gegenüber der Bf. begangener Körperverletzung und gegenüber seinem Bruder und seinem Neffen geäußerter gefährlicher Drohungen zu drei Monaten Haft auf Bewährung.
Am 22.5.2012 reichte die Bf. beim BG St. Pölten die Scheidung ein. Sie begründete diesen Schritt damit, dass E. ihr gegenüber nach wie vor gewalttätig wäre und sie ständig bedrohen würde. Am gleichen Tag zeigte sie ihren Mann wegen gefährlicher Drohung und Vergewaltigung bei der Polizei an. Zu der Vergewaltigung wäre es am 19.5. gekommen, als sie ihm ihre Trennungsabsichten offenbart hätte. Außerdem hob sie hervor, dass er sie seit März 2012 täglich mit Äußerungen wie »Ich werde dich töten«, »Ich werde unsere Kinder vor deinen Augen töten«, »Ich werde dir so weh tun, dass du mich bitten wirst, dich zu töten« und Ähnlichem bedroht hätte. Sie gab an, dies bislang nicht angezeigt zu haben, weil sie befürchtet hätte, dass er die Drohungen sonst wahrmachen würde. E. bestritt die Vorwürfe bei seiner sofort vorgenommenen Befragung, zeigte sich insgesamt aber kooperativ. Die Polizei verhängte gegen ihn schließlich erneut ein Betretungsverbot nach § 38a SPG für die gemeinsame eheliche Wohnung, die Wohnung der Eltern der Bf. und die jeweilige Umgebung. Auch wurden ihm die Schlüssel für die eheliche Wohnung abgenommen. Im Polizeibericht wurden mehrere Faktoren festgehalten, die für eine erhöhte Gefährlichkeit von E. sprachen: frühere Gewalthandlungen; Eskalation der Gewalt; aktuelle Stressfaktoren wie Arbeitslosigkeit, Scheidung und/oder Trennung; und eine starke Tendenz bei E. zur Bagatellisierung von Gewalt. Noch am selben Tag leitete die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Vergewaltigung, Körperverletzung und gefährlichen Drohung ein Strafverfahren gegen E. ein. Sofort wurden die Kinder einvernommen, die bestätigten, dass E. sie selbst und ihre Mutter immer wieder geschlagen hätte. Der zuständige Staatsanwalt erhielt von der Polizei einen Bericht über den bisherigen Stand der Ermittlungen, worin sich allerdings keine Informationen zu den festgestellten Hinweisen auf eine erhöhte Gefährlichkeit fanden. Der Bf. wurde ein Informationsblatt für Gewaltopfer ausgehändigt, in dem sie auf die Möglichkeit der Ausweitung des Betretungsverbots durch die Beantragung einer einstweiligen Verfügung nach § 382b EO (Schutz vor Gewalt in Wohnungen) und § 382e EO (Allgemeiner Schutz vor Gewalt) hingewiesen wurde.
Nach einer weiteren Befragung durch die Polzei am 24.5.2012 wurde E. zusätzlich nach § 92 StGB angezeigt, da sich der Verdacht erhärtet hatte, dass er seine Kinder misshandelte.
Am 25.5.2012 begab sich E. zur Schule seiner Kinder. Dort ersuchte er eine Lehrerin, kurz alleine mit seinem Sohn sprechen zu dürfen. Die Lehrerin, die über die familiäre Situation nicht informiert worden war, gewährte ihm den Wunsch. E. begab sich daraufhin mit A. in den Keller der Schule und schoss ihm dort vor den Augen von B. in den Kopf. Am 27.5.2012 erlag A. im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. E. wurde später tot in seinem Wagen aufgefunden. Er hatte Selbstmord begangen.
Im Februar 2014 erhob die Bf. eine Amtshaftungsklage, da sie der Ansicht war, dass die Staatsanwaltschaft bereits am 22.5.2012 die Untersuchungshaft gegen E. verhängen hätte sollen. Es hätte ihrer Ansicht nach nämlich ein reales und unmittelbares Risiko bestanden, dass er erneut Straftaten gegen seine Familie begehen würde. Das auf den Wohnbereich beschränkte Betretungsverbot hätte diesbezüglich keinen ausreichenden Schutz geboten. Das LG St. Pölten wies die Klage am 14.11.2014 ab. Es begründete seine Entscheidung damit, dass auf Basis der den Behörden zur betreffenden Zeit verfügbaren Informationen keine Hinweise auf ein unmittelbares Risiko für das Leben von A. erkennbar gewesen wären. Insbesondere hätte die Staatsanwaltschaft korrekterweise die Rechte von E. nach Art. 5 EMRK berücksichtigt und insgesamt nicht rechtswidrig oder schuldhaft gehandelt, indem sie gegen ihn keine Untersuchungshaft angeordnet hätte. Die Berufung der Bf. gegen diese Entscheidung wurde vom OLG Wien am 30.1.2015 abgewiesen, das die Entscheidung des LG im Wesentlichen bestätigte. Der OGH wies eine außerordentliche Revision der Bf. am 23.4.2015 zurück.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügte eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), da es die Behörden verabsäumt hätten, sie und ihre Kinder vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu schützen. Zudem wäre auch der rechtliche Rahmen zum Schutz von Kindern im Kontext häuslicher Gewalt unzureichend gewesen, da ein Betretungsverbot zur betreffenden Zeit nicht auf Kinderbetreuungseinrichtungen ausgeweitet werden hatte können.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK
Zur Einrede der Regierung
(105) Die Regierung wiederholte die Einrede, die sie bereits vor der Kammer erhoben hatte [...], wonach die Rüge wegen des angeblich unzureichenden rechtlichen Rahmens zum Schutz der Kinder der Bf. aufgrund der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig wäre. [...] Es wäre der Bf. [ihrer Ansicht nach nämlich] offengestanden, beim zuständigen BG eine einstweilige Verfügung nach den §§ 382b und 382e EO zu beantragen. [...]
(108) Die Kammer befand, dass ein Antrag gemäß § 382b oder § 382e EO [...] kein wirksames Rechtsmittel gegen die im vorliegenden Fall behauptete Gefahr dargestellt hätte und wies die Einrede der Regierung daher zurück.
(109) [...] Die GK, die einen anderen Ansatz verfolgt als die Kammer, befindet, dass die Einrede der Regierung nicht unbedingt die Frage der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel betrifft. Der Zweck der fraglichen Bestimmungen liegt nämlich in der Vermeidung eines zukünftigen Schadens und nicht darin, den Schaden wiedergutzumachen, der bereits eingetreten ist. Diese Frage ist daher untrennbar mit jener der Eignung des rechtlichen Rahmens, der Bf. und ihren Kindern ausreichenden Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewähren, sowie mit jener nach der möglichen Sorgfaltspflicht der Behörden verbunden ist. Sie ist deshalb mit der Entscheidung in der Sache zu verbinden [...].
Allgemeine Grundsätze
Zu den positiven Verpflichtungen unter Art. 2 EMRK generell
(157) [...] Art. 2 Abs. 1 1. Satz verpflichtet den Staat [...] auch dazu, angemessene Schritte zu setzen, um das Leben der seiner Hoheitsgewalt Unterworfenen zu schützen. [...]
(158) Unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten bei der Überwachung moderner Gesellschaften, der Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens und der operativen Entscheidungen, die im Sinne der Prioritäten und Ressourcen getroffen werden müssen, ist die Reichweite der positiven Verpflichtungen auf eine Weise auszulegen, die den Behörden keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt. Nicht jede behauptete Gefahr für das Leben kann daher für die Behörden eine konventionsrechtliche Verpflichtung mit sich bringen, operative Maßnahmen zu setzen um zu verhindern, dass sich diese Gefahr realisiert. Damit diese positive Verpflichtung entsteht, muss belegt werden, dass die Behörden zur betreffenden Zeit wussten oder hätten wissen müssen, dass durch strafbare Handlungen eines Dritten eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben eines bestimmten Individuums existierte, und sie es verabsäumten, im Rahmen ihrer Befugnisse Maßnahmen zu setzen, die von ihnen angemessenerweise erwartet werden konnten, um diese Gefahr abzuwehren (sogenannter Osman-Test).
(159) Die Verpflichtung zur Setzung präventiver operativer Maßnahmen [...] begründet dabei eine Pflicht im Hinblick auf die Mittel, nicht aber im Hinblick auf das Ergebnis. Wenn die Behörden daher einer realen und unmittelbaren Gefahr für das Leben gewahr werden, die ihre Handlungspflicht auslöst, und auf die festgestellte Gefahr reagiert haben, indem sie im Rahmen ihrer Befugnisse angemessene Maßnahmen gesetzt haben um zu vermeiden, dass sich diese Gefahr realisiert, kann der Umstand, dass solche Maßnahmen nicht das gewünschte Ergebnis gebracht haben, für sich nicht die Feststellung einer Verletzung der präventiven operativen Verpflichtungen des Staates unter Art. 2 EMRK rechtfertigen. Auf der anderen Seite bemerkt der GH, dass in diesem Kontext die Einschätzung der Natur und des Grads der Gefahr einen integralen Bestandteil der Verpflichtung darstellt, präventive operative Maßnahmen zu setzen, wenn das Bestehen einer Gefahr dies verlangt. Daher erfordert eine Untersuchung der Einhaltung dieser Verpflichtung unter Art. 2 EMRK durch den Staat eine Analyse sowohl der Angemessenheit der von den innerstaatlichen Behörden vorgenommenen Risikoeinschätzung als auch – wenn eine entsprechende Gefahr, die die Handlungspflicht auslöst, erkannt wurde oder erkannt werden hätte müssen – der Angemessenheit der gesetzten Präventivmaßnahmen.
(160) Es reicht aus, dass ein Bf. zeigt, dass die Behörden nicht alles getan haben, was von ihnen angemessenerweise erwartet werden konnte, um zu verhindern, dass sich eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben realisiert, von der sie wussten oder hätten wissen müssen. Diese Frage kann nur im Lichte aller Umstände eines konkreten Falles beurteilt werden. [...] Der Fall, in dem sich eine reale und unmittelbare Gefahr realisiert hat, muss dabei auf der Basis dessen beurteilt werden, was den zuständigen Behörden zur betreffenden Zeit bekannt war.
Positive Verpflichtungen unter Art. 2 EMRK im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt
Allgemeine Überlegungen
(164) Die Existenz einer realen und unmittelbaren Gefahr für das Leben [...] muss unter gebührender Berücksichtigung des Kontextes häuslicher Gewalt beurteilt werden. In einer solchen Situation geht es zunächst darum, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich aufeinanderfolgende Gewaltepisoden innerhalb der Familie mit der Zeit wiederholen. Der GH erachtet es daher für notwendig klarzustellen, was es bedeutet, unter dem Osman-Test den speziellen Kontext und die spezielle Dynamik häuslicher Gewalt zu berücksichtigen.
Erfordernis, unmittelbar auf Vorwürfe häuslicher Gewalt zu reagieren
(165) Der GH wiederholt zunächst, dass von den Behörden eine sofortige Reaktion auf Vorwürfe häuslicher Gewalt verlangt wird. In den Fällen, in denen er festgestellt hat, dass die Behörden es verabsäumt hatten, rasch zu handeln, nachdem bei ihnen eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt eingegangen war, ist er zum Schluss gekommen, dass dieses Versäumnis eine solche Anzeige jeder Wirksamkeit beraubt und eine Situation der Straflosigkeit schafft, die die Wiederholung von gewalttätigen Handlungen fördert.
(166) Zudem bestätigt der GH, dass von den Behörden besondere Sorgfalt verlangt wird, wenn sie sich mit Fällen häuslicher Gewalt befassen.
Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Risikoeinschätzung
(167) Das verfügbare rechtsvergleichende Material zeigt, dass in allen untersuchten Mitgliedstaaten eine Risikoeinschätzung vorgenommen wird um zu bestimmen, ob ein Opfer von häuslicher Gewalt der Gefahr weiterer Gewalt ausgesetzt ist. Der GH bemerkt zudem, dass die Einschätzung der Gefahr für Leib und Leben, der Schwere der Situation sowie der Gefahr von wiederholter Gewalt gemäß Art. 51 der Istanbul-Konvention (Anm: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.5.2011, StF. BGBl. III 164/2014.) ein entscheidendes Element für die Prävention häuslicher Gewalt ist [...]. Laut der Expertengruppe des Europarats für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (GREVIO) müssen die zuständigen Behörden eine solche Risikoeinschätzung für Opfer ab Einlangen einer Anzeige vornehmen, idealerweise indem sie standardisierte, international anerkannte und forschungsbasierte Instrumente mit vorher festgelegten Fragen verwenden, welche die Behörden systematisch stellen und beantworten sollten. Das eingerichtete System sollte Exekutivbeamten klare Richtlinien und Kriterien für Handlungen oder Interventionen in sensiblen Situationen bieten [...].
(168) Der GH erachtet diesen Ansatz als für die positiven Verpflichtungen der Mitgliedstaaten unter Art. 2 EMRK im Kontext häuslicher Gewalt relevant. Um erkennen zu können, ob eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben eines Opfers von häuslicher Gewalt besteht [...], unterliegen die Behörden einer Verpflichtung, eine autonome, proaktive und vollständige Einschätzung des Risikos für Leib und Leben vorzunehmen.
(169) Die Begriffe »autonom« und »proaktiv« beziehen sich auf die Verpflichtung der Behörden, sich nicht nur auf die Wahrnehmung der Gefahr durch das Opfer zu stützen, sondern diese durch ihre eigene Beurteilung zu ergänzen. Angesichts der außergewöhnlichen psychischen Situation, in der sich Opfer häuslicher Gewalt befinden, existiert auf Seiten der den Fall prüfenden Behörden eine Verpflichtung, einschlägige Fragen zu stellen, um alle relevanten Informationen zu erhalten – auch von anderen staatlichen Einrichtungen –, und sich nicht darauf zu verlassen, dass das Opfer alle relevanten Details liefert. [...]
(170) [...] Jede Risikoeinschätzung oder Entscheidung über zu setzende Maßnahmen darf daher nicht allein von den Aussagen des Opfers abhängen. Während der GH der Ansicht ist, dass die Wahrnehmung der Gefahr [...] durch die Opfer relevant ist und von den Behörden als Ausgangspunkt berücksichtigt werden muss, befreit dies Letztere im Einklang mit ihrer Verpflichtung, die Vorwürfe von häuslicher Gewalt von Amts wegen zu untersuchen, nicht davon, proaktiv Informationen zu allen relevanten Risikofaktoren und Elementen des Falles zu sammeln und zu beurteilen.
(171) [...] [Zur »Vollständigkeit«] befindet der GH, dass – während in jedem einzelnen Fall die Beurteilung durch gut geschulte Exekutivbeamte wesentlich ist – die Verwendung von standardisierten Checklisten, die konkrete Risikofaktoren anführen und auf der Basis von fundierter kriminologischer Forschung und Best Practice in Fällen häuslicher Gewalt entwickelt wurden, zur Vollständigkeit der Risikoeinschätzung durch die Behörden beitragen kann [...]. Das rechtsvergleichende Material hat gezeigt, dass die Mehrheit der untersuchten Mitgliedstaaten standardisierte Instrumente zur Risikoeinschätzung verwendet.
(172) Der GH anerkennt, dass es wichtig ist, dass Behörden, die sich mit Opfern häuslicher Gewalt befassen, regelmäßige Schulungen erhalten und eine Sensibilisierung – insbesondere im Hinblick auf Instrumente zur Risikoeinschätzung – erfolgt, damit sie die Dynamiken häuslicher Gewalt verstehen und es ihnen somit möglich ist, eine bestehende Gefahr besser zu beurteilen und zu bewerten, angemessen zu reagieren und einen raschen Schutz sicherzustellen [...].
(173) Zudem muss jede Risikoeinschätzung, wenn mehrere Personen – sei es direkt oder indirekt – von häuslicher Gewalt betroffen sind, geeignet sein, alle potentiellen Opfer systematisch zu identifizieren und alle Fälle zu behandeln [...]. Bei der Vornahme ihrer Beurteilung sollten die Behörden bedenken, dass sich als Ergebnis ein unterschiedlicher Grad an Gefahr für jedes von ihnen ergeben kann.
(174) Angesichts dessen, dass Interventionen durch Exekutivbeamte und Staatsanwälte im Kontext häuslicher Gewalt oft in dringlichen Situationen erfolgen, und angesichts der Notwendigkeit, relevante Informationen unter allen beteiligten Behörden auszutauschen, befindet der GH, dass eine grundlegende Dokumentation der Durchführung der Risikoeinschätzung wichtig ist. Er wiederholt, dass der Zweck der Risikoeinschätzung darin liegt, es den zuständigen Behörden zu ermöglichen, die festgestellte Gefahr unter Kontrolle zu bringen und den Opfern koordinierte Sicherheit und Unterstützung zu gewähren. Das bedeutet, dass Exekutivbeamte Informationen zu Gefahren teilen und die Unterstützung mit den anderen maßgeblichen Akteuren koordinieren sollten, die regelmäßig mit gefährdeten Personen in Kontakt kommen, einschließlich mit Lehrern, wenn es um Kinder geht [...]. Nach Ansicht des GH sollten die Behörden die Opfer vom Ergebnis ihrer Risikoeinschätzung informieren und – falls notwendig – Beratung und Anleitung zu verfügbaren rechtlichen und operativen Schutzmaßnahmen gewähren.
(175) Zur Auslegung des Begriffs »unmittelbar« iSd. Osman-Tests befindet der GH, dass die Anwendung dieses Standards in diesem Kontext die speziellen Merkmale von Fällen häuslicher Gewalt und die Art und Weise berücksichtigen muss, wie sie sich von isolierten Vorfällen wie jenem in Osman/GB unterscheiden. Der GH wiederholt, dass häusliche Gewalt allgemein in aufeinanderfolgenden Zyklen stattfindet und ihre Häufigkeit, ihre Intensität und die Gefahr, die sie darstellt, in vielen Fällen mit dem Verlaufe der Zeit zunimmt [...]. Der Erläuternde Bericht zu Art. 52 der Istanbul-Konvention stellt klar, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff »unmittelbare Gefahr« jede Situation häuslicher Gewalt bezeichnet, in der ein Schaden unmittelbar bevorsteht oder sich bereits realisiert hat und die Gefahr besteht, dass er sich wiederholt. Der GH hat in zahlreichen anderen Fällen festgehalten, dass ein Täter mit einer Vorgeschichte häuslicher Gewalt eine bedeutende Gefahr für weitere – möglicherweise tödliche – Gewalt darstellt. Aufgrund dessen, was heute über die Dynamiken häuslicher Gewalt bekannt ist, mag das Verhalten des Täters in Situationen leichter vorhersehbar sein, in denen es zu einer klaren Eskalation solcher Gewalt kommt. Dieses allgemeine Wissen über häusliche Gewalt und die umfassende Forschung, die in diesem Bereich verfügbar ist, müssen von den Behörden gebührend berücksichtigt werden, wenn sie die Gefahr einer weiteren Eskalation der Gewalt beurteilen – auch nach dem Erlass eines Betretungsverbots.
(176) Der Begriff »unmittelbar« lässt sich nicht genau definieren. [...] In seiner bisherigen Rechtsprechung [im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt] hat der GH das Konzept der »unmittelbaren Gefahr« bereits auf eine flexiblere Weise angewendet als in traditionellen Situationen wie in Osman/GB und den üblichen Eskalationsverlauf in solchen Fällen berücksichtigt, auch wenn die exakte Zeit und der exakte Ort eines Angriffs in einem konkreten Fall nicht vorhergesagt werden konnte. Der GH betont jedoch, dass den Behörden keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt werden darf.
Verpflichtungen im Zusammenhang mit operativen Maßnahmen
(177) [...] Wenn die Behörden festgestellt haben, dass eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben eines oder mehrerer Menschen besteht, wird ihre positive Verpflichtung ausgelöst, operative Maßnahmen zu setzen.
(178) Solche operativen Präventiv- und Schutzmaßnahmen dienen dazu, eine gefährliche Situation so rasch wie möglich abzuwehren. [...]
(179) Die Frage, ob den Behörden zum Zeitpunkt der Entscheidung, wie auf eine Situation häuslicher Gewalt reagiert werden muss, in Recht und Praxis ausreichende operative Maßnahmen zur Verfügung standen, ist eng mit der Frage der Angemessenheit des rechtlichen Rahmens [...] verbunden. Mit anderen Worten muss das Repertoire an verfügbaren rechtlichen und operativen Maßnahmen den beteiligten Behörden eine Reihe von ausreichenden Maßnahmen bieten, aus denen sie auswählen können und die im Hinblick auf den Grad der festgestellten (tödlichen) Gefahr angemessen und verhältnismäßig sind. Der GH muss insgesamt gesehen überzeugt sein, dass der rechtliche Rahmen angemessen war, um in einem konkreten Fall Schutz gegen gewalttätige Handlungen von Privatpersonen zu gewähren.
(180) Der GH hält ferner fest, dass sich Pläne zum Risikomanagement und koordinierte Unterstützungsdienstleistungen für Opfer häuslicher Gewalt in der Praxis als wertvoll erwiesen haben, um es den Behörden zu ermöglichen, angemessene präventive operative Maßnahmen zu setzen, wenn eine Gefahr festgestellt wurde. Das umfasst den raschen Austausch von Informationen unter den maßgeblichen Akteuren. Wenn Kinder betroffen sind oder festgestellt wird, dass sie einer Gefahr ausgesetzt sind, sollten die Kinderschutzbehörden sowie Schulen und/oder Kinderbetreuungseinrichtungen so rasch wie möglich informiert werden (siehe Art. 51 der Istanbul-Konvention [...]). Eine geeignete präventive Reaktion verlangt oft die Abstimmung zwischen mehreren Behörden [...].
(181) Als zusätzliche präventive Maßnahme erachtet der GH Behandlungsprogramme für Täter für wünschenswert. Gemäß dem verfügbaren rechtsvergleichenden Material haben sieben der untersuchten Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen zur Unterweisung von Tätern häuslicher Gewalt in gewaltfreiem Verhalten getroffen. Art. 16 der Istanbul-Konvention erlegt den Vertragsstaaten eine Verpflichtung auf, präventive Interventions- und Behandlungsprogramme zu entwickeln, um Tätern dabei zu helfen, ihre Einstellung und ihr Verhalten zu ändern, und so weitere Akte häuslicher Gewalt zu verhindern.
(182) Als nächstes befindet der GH, dass die Entscheidung der Behörden, welche operativen Maßnahmen sie setzen, sowohl auf der Ebene der allgemeinen Strategie als auch auf der individuellen Ebene unvermeidbar eine sorgfältige Abwägung der auf dem Spiel stehenden widerstreitenden Rechte und der anderen relevanten Verpflichtungen erfordern wird. Der GH hat in Fällen häuslicher Gewalt die zwingende Notwendigkeit betont, die Menschenrechte der Opfer auf Leben und physische und psychische Integrität zu schützen [...]. Gleichzeitig ist es nötig sicherzustellen, dass die Polizei ihre Befugnisse zur Eindämmung und Verhinderung von Verbrechen auf eine Weise ausübt, die das vorgeschriebene Verfahren und andere Garantien vollkommen achtet, die den Spielraum ihrer Handlungen legitimerweise begrenzen, einschließlich jener, die in Art. 5 und Art. 8 EMRK enthalten sind.
(183) [...] Im Zusammenhang mit Schutz- und Präventivmaßnahmen ist es allgemein unvermeidbar, dass ein Eingriff durch die Behörden insbesondere in das Privat- und Familienleben des mutmaßlichen Täters notwendig sein kann, um das Leben und andere Rechte der Opfer von häuslicher Gewalt zu schützen und gegen das Leben oder die Gesundheit der Opfer gerichtete strafbare Handlungen zu verhindern. Die Natur und Schwere der festgestellten Gefahr wird stets ein wichtiger Faktor im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit einer zu setzenden Schutz- und Präventivmaßnahme sein, sei es im Rahmen von Art. 8 EMRK oder gegebenenfalls von Beschränkungen der durch Art. 2 4. Prot. EMRK verbürgten Freiheit [...]. Was Maßnahmen anbelangt, die eine Freiheitsentziehung mit sich bringen, erlegt Art. 5 EMRK jedoch besondere Einschränkungen auf [...].
(184) [...] Damit eine Freiheitsentziehung unter Art. 5 EMRK zulässig ist, muss sie mit dem innerstaatlichen Recht des Staates und den in Abs. 1 erschöpfend aufgezählten Haftgründen im Einklang stehen. [...]
(185) [...] Zu Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK [...] hat der GH stets festgehalten, dass eine Verpflichtung, keine Straftat zu begehen, lediglich als »spezifisch und konkret« angesehen werden kann, wenn Ort und Zeit der unmittelbar bevorstehenden Begehung der Straftat und ihre potentiellen Opfer ausreichend konkretisiert wurden. [...] Der betreffenden Person muss die konkrete Handlung bewusst gemacht werden, von der sie Abstand nehmen sollte, und sie muss sich unwillig zeigen, davon tatsächlich Abstand zu nehmen. [...]
(186) [...] Der GH hat anerkannt, dass der zweite Teil [von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK] einen separaten Haftgrund vorsieht, der unabhängig vom Bestehen eines »hinreichenden Verdachts ist, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat«. Er findet somit auf Präventivhaft außerhalb von Strafverfahren Anwendung (S., V. und A./DK, Rn. 114-116). Der GH hat allerdings auch im Zusammenhang mit dieser Komponente des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK festgehalten, dass die Bestimmung keine Politik allgemeiner Prävention im Hinblick auf Individuen gestattet, von denen die Behörden annehmen, dass sie aufgrund ihrer Neigung zu Straftaten gefährlich sind. Dieser Haftgrund gewährt den Vertragsstaaten lediglich ein Mittel zur Verhinderung einer insbesondere im Hinblick auf Ort und Zeit der Begehung und der Opfer konkrete und spezifische Straftat. Damit eine Haft unter dem zweiten Teil des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gerechtfertigt sein kann, müssen die Behörden überzeugend nachweisen, dass die betreffende Person aller Wahrscheinlichkeit nach an der konkreten und spezifischen Straftat beteiligt gewesen wäre, wenn deren Begehung durch die Haft nicht verhindert worden wäre (S., V. und A./DK, Rn. 89 und 91). Der GH hat eine solche Präventivhaft in seiner Rechtsprechung [...] lediglich für sehr kurze Zeiträume zugelassen (vier Stunden in Ostendorf/D und acht Stunden in S., V. und A./DK).
(187) Was den ersten Teil von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK angeht, welcher die Untersuchungshaft regelt, wiederholt der GH, dass diese Bestimmung nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren angewendet werden kann, das sich auf eine bereits begangene Straftat bezieht. Daher kann Untersuchungshaft nur in dem Ausmaß als Präventivmaßnahme fungieren, in dem sie durch einen hinreichenden Verdacht im Hinblick auf eine bereits erfolgte Straftat gerechtfertigt ist, die Gegenstand eines anhängigen Strafverfahrens ist. Die Verhinderung weiterer Straftaten mag somit ein Nebeneffekt [...] sein und die Gefahr erneuter Straffälligkeit kann bei der Beurteilung der Gründe für die Verhängung oder Verlängerung der Untersuchungshaft als ein Element berücksichtigt werden [...].
(188) [...] Während Untersuchungshaft nie als reine Präventivmaßnahme eingesetzt werden kann, bemerkt der GH, dass die Beurteilung der Wiederholungsgefahr [...] die Fakten und Ergebnisse jeder Risikoeinschätzung berücksichtigen kann, die mit Blick auf die mögliche Notwendigkeit präventiver operativer Maßnahmen vorgenommen wird.
Zusammenfassung der den Behörden im Kontext häuslicher Gewalt obliegenden Verpflichtungen
(190) Zusammenfassend wiederholt der GH, dass von den Behörden eine sofortige Reaktion auf Vorwürfe häuslicher Gewalt verlangt wird. Sie müssen feststellen, ob eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben eines oder mehrerer festgestellter Opfer häuslicher Gewalt besteht, indem sie eine autonome, proaktive und vollständige Risikoeinschätzung vornehmen. Die Tatsächlichkeit und Unmittelbarkeit der Gefahr müssen unter gebührender Berücksichtigung des speziellen Kontexts von Fällen häuslicher Gewalt beurteilt werden. Wenn das Ergebnis der Risikoeinschätzung ergibt, dass eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben besteht, wird die Verpflichtung der Behörden ausgelöst, präventive operative Maßnahmen zu setzen. Diese müssen im Hinblick auf den Grad des festgestellten Risikos angemessen und verhältnismäßig sein.
Anwendung der obigen Grundsätze auf den vorliegenden Fall
Reagierten die Behörden sofort auf die Vorwürfe häuslicher Gewalt?
(191) Zunächst betont der GH, dass es im vorliegenden Fall [...] bei der Reaktion der Behörden auf die Vorwürfe häuslicher Gewalt [...] zu keinen Verzögerungen kam und diese nicht untätig blieben. Ganz im Gegenteil: Sowohl 2010 als auch 2012 reagierten die Behörden sofort auf die Vorwürfe der Bf., nahmen Beweise auf und erließen Betretungsverbote. In diesem Zusammenhang bemerkt der GH, dass die Polizei über eine Checkliste mit speziellen Risikofaktoren verfügte, die im Falle einer Intervention nach § 38a SPG geprüft werden mussten [...].
(193) Zudem hält der GH fest, dass die Polizei die Bf. zur Familienwohnung begleitete, nachdem diese ihre Anzeige gemacht hatte, um sicherzustellen, dass sie ihrem Mann nicht alleine begegnete [...]. Die Polizei informierte sie auch durch ein Informationsblatt über die weiteren Optionen, die ihr offenstanden, um sich vor E. zu schützen, nämlich die Beantragung einer einstweiligen Verfügung nach § 382b oder § 382e EO. Die Beamten nahmen den Ehemann dann zur Befragung mit auf die Polizeistation und beschlagnahmten seine Schlüssel für die Familienwohnung. Zusätzlich begrüßt der GH den Umstand, dass [...] die Polizistin, welche die Vorwürfe häuslicher Gewalt durch die Bf. behandelte, im Hinblick auf [...] häusliche Gewalt speziell geschult und erfahren war [...].
(194) Die oben genannten Maßnahmen zeigen, dass die Behörden bei ihrer unmittelbaren Reaktion auf die Vorwürfe der Bf. [...] die notwendige spezielle Sorgfalt an den Tag legten.
Zur Qualität der Risikoeinschätzung
(196) Zunächst ist der GH überzeugt davon, dass die Risikoeinschätzung durch die Behörden autonom und proaktiv erfolgte, da sich die Polizei dabei nicht lediglich auf die Schilderungen der Ereignisse durch die Bf. stützte, [...] sondern mehrere andere Faktoren und Beweisgegenstände heranzog. Noch am Tag der Anzeige der Bf. befragte die Polizei alle direkt beteiligten Personen, nämlich die Bf. selbst, ihren Ehemann und die gemeinsamen Kinder, und erstellte detaillierte Protokolle ihrer Aussagen. Sie [...] fertigte auch Bilder von den sichtbaren Verletzungen der Bf. an. Letztere unterzog sich zudem einer ärztlichen Untersuchung.
(197) Die Polizei führte weiters [in einer zentralen elektronischen Datenbank] eine Recherche [...] betreffend frühere gegen E. erlassene Betretungsverbote und einstweilige Verfügungen durch. Sie war sich bewusst, dass er bereits wegen häuslicher Gewalt und gefährlicher Drohung verurteilt und zwei Jahre zuvor gegen ihn ein Betretungsverbot verhängt worden war. Außerdem überprüfte die Polizei, ob in [E.s] Namen [...] irgendwelche Waffen registriert waren. Diese Überprüfung verlief negativ. In diesem Zusammenhang wiederholt der GH, dass es für die Behörden wichtig ist zu prüfen, ob ein mutmaßlicher Täter Zugang zu Schusswaffen hat oder solche besitzt [...].
(198) Zweitens berücksichtigte die von der Polizei vorgenommene Risikoeinschätzung bedeutende bekannte Risikofaktoren [...], insbesondere [...], dass eine Vergewaltigung angezeigt worden war; dass die Bf. sichtbare Anzeichen von Gewalt [...] aufwies; dass sie den Tränen nahe und sehr verängstigt war; dass ihr gedroht und auch gegenüber den Kindern Gewalt angewendet worden war. Die Polizei notierte ausdrücklich eine Reihe von weiteren relevanten Risikofaktoren, nämlich bekannte angezeigte und nicht angezeigte frühere Gewalthandlungen, Eskalation, aktuelle Stressfaktoren wie Arbeitslosigkeit, Scheidung und/oder Trennung, und eine starke Tendenz bei E. zur Bagatellisierung von Gewalt. Sie berücksichtigte ferner E.s Verhalten, nämlich den Umstand, dass er leicht erregt gewesen war, sich aber kooperativ gezeigt und die Beamten freiwillig zur Polizeistation begleitet hatte. Die Polizei hielt auch fest, dass in E.s Namen keine Schusswaffen registriert waren.
(199) [...] Indem sie die oben genannten speziellen Faktoren identifizierten, zeigten die Behörden, dass sie dem Kontext häuslicher Gewalt bei ihrer Risikoeinschätzung im vorliegenden Fall gebührend Rechnung trugen.
(200) Was die von E. geäußerten Drohungen – und insbesondere die Todesdrohungen – angeht, bemerkt der GH, dass diese alle gegen die Bf. gerichtet waren, sei es direkt oder indirekt. Er drohte dabei damit, ihr, ihren Nächsten oder sich selbst wehzutun oder sie oder sich zu töten. Der GH wiederholt in diesem Zusammenhang, dass (Todes-)Drohungen ernst genommen und im Hinblick auf ihre Glaubwürdigkeit beurteilt werden müssen. Er hält fest, dass die Polizei nicht übersah, dass E. gegenüber der Bf. Todesdrohungen geäußert und sie gewürgt hatte [...].
(201) Der GH befindet, dass auch der [...] Staatsanwalt über die maßgeblichsten Tatsachen zum Fall verfügte, als er über die nächsten zu setzenden Schritte entschied. Er wurde noch am selben Tag telefonisch über die gegen E. erhobenen Anschuldigungen und die Umstände des Erlasses des Betretungsverbots informiert, nämlich sofort nach dessen Verhängung. In seiner Aktennotiz fasste er die wesentlichen Elemente des Falles zusammen, ordnete weitere Ermittlungsschritte (Befragung der Kinder, Vorlage der Ermittlungsberichte) an und leitete ein Strafverfahren gegen E. wegen der Verbrechen ein, derer dieser verdächtigt wurde. Noch am selben Abend erhielt der [...] Staatsanwalt die erbetenen Berichte.
(202) Der GH ist daher überzeugt davon, dass die von den Behörden im Hinblick auf die Bf. vorgenommene Risikoeinschätzung – auch wenn sie keinem standardisierten Verfahren folgte – [...] autonom, proaktiv und vollständig war. [...]
Wussten die Behörden, dass eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben des Sohnes der Bf. bestand oder hätten sie davon wissen müssen?
(204) Auf der Basis der [vorhandenen] Beweise kamen die Behörden zum Schluss, dass die Bf. Gefahr lief, weiterer Gewalt ausgesetzt zu werden, und verhängten gegen E. ein Betretungsverbot nach § 38a SPG. Der GH hält in diesem Zusammenhang fest, dass Polizisten mit einschlägiger Erfahrung und Ausbildung an der Vornahme dieser Beurteilung beteiligt waren, die vom GH nicht einfach im Nachhinein in Frage gestellt werden sollte.
(205) Während es zutrifft, dass im Hinblick auf die Kinder keine separate Risikoeinschätzung durchgeführt wurde, befindet der GH, dass eine solche die Situation auf der Grundlage der zur betreffenden Zeit verfügbaren Informationen nicht geändert hätte [...].
(206) [...] Die Kinder der Bf. wurden vom Vater geschlagen und waren der psychischen Belastung ausgesetzt, dass sie Zeuge von Gewalt gegenüber ihrer Mutter wurden. Das darf keinesfalls unterschätzt werden. Gemäß der Informationen, über welche die Behörden im vorliegenden Fall verfügten, waren die Kinder jedoch nicht das Hauptziel von E.s Gewalt oder Drohungen. Letztere waren alle – sei es direkt oder indirekt – gegen die Bf. gerichtet. Der vorrangige Grund für die Anzeige der Bf. bei der Polizei am 22.5.2012 waren die angebliche Vergewaltigung und das angebliche Würgen am Wochenende davor sowie die andauernde häusliche Gewalt und wiederholten Drohungen ihr gegenüber. Zudem stimmt der GH der Regierung zu, dass obwohl der Polizeibericht zum Erlass des Betretungsverbots die Kinder nicht ausdrücklich als gefährdete Personen iSd. § 38a SPG anführte, sie der Bericht zur strafrechtlichen Ermittlung, der dem Staatsanwalt am selben Tag [...] weitergeleitet wurde, ausdrücklich als »Opfer« der angegebenen Verbrechen erwähnte. Zusätzlich wurden diesem Bericht ihre Zeugenaussagen
beigeschlossen. Die Behörden konnten berechtigterweise annehmen, dass die Kinder durch das Betretungsverbot im häuslichen Umfeld vor potentiellen nicht tödlichen Formen von Gewalt und Drangsalierung durch ihren Vater im selben Ausmaß geschützt waren wie die Bf. Es gab keine Hinweise auf eine – und schon gar nicht eine tödliche – Gefahr für die Kinder in der Schule. Es scheint zudem – auch wenn dies für sich nicht entscheidend ist – dass die Bf. und ihre Begleiterin vom Gewaltschutzzentrum selbst nicht der Ansicht waren, dass der Grad an Bedrohung es rechtfertigte, ein vollständiges Kontaktverbot zwischen dem Vater und den Kindern zu beantragen.
(207) Zum Argument der Bf., wonach die Schwere der gegen sie verübten Gewalt in Verbindung mit E.s Drohungen mit weiterer und möglicherweise tödlicher Gewalt ausreichend gewesen wäre, dessen Untersuchungshaft zu rechtfertigen, bemerkt der GH, dass die Behauptung der Bf. [...] mit E.s angeblichen jüngsten Straftaten sowie der von ihm angesichts seines Strafregisters ausgehenden Gefahr, erneut straffällig zu werden, begründet wurde. E.s Drohungen wurden von den Behörden nicht als ausreichend ernst oder glaubwürdig erachtet, um auf eine tödliche Gefahr hinzuweisen, die eine Untersuchungshaft oder andere strengere Präventivmaßnahmen als das Betretungsverbot gerechtfertigt hätte. Der GH sieht keinen Grund, um die Einschätzung der Behörden in Frage zu stellen, wonach es auf der Basis der ihnen zur betreffenden Zeit zur Verfügung stehenden Informationen nicht wahrscheinlich erschien, dass E. eine Schusswaffe erlangen, sich an die Schule seiner Kinder begeben und seinem eigenen Sohn in einer solchen raschen Eskalation der Ereignisse das Leben nehmen würde.
(208) Schließlich hält der GH fest, dass die Behörden dem ruhigen Auftreten des Ehemanns der Bf. gegenüber der Polizei einiges Gewicht beigemessen zu haben scheinen. Dies erachtet er in einem Kontext häuslicher Gewalt als potentiell irreführend und sollte daher bei einer Risikoeinschätzung nicht entscheidend sein. Der GH ist allerdings nicht überzeugt davon, dass dieses Element [...] ausreicht, um die Schlussfolgerung in Zweifel zu ziehen, dass zum betreffenden Zeitpunkt für die Kinder kein tödliches Risiko erkennbar war. Ähnlich war es für die Behörden – während es rückblickend wünschenswert gewesen wäre, die Schule der Kinder oder die Kinderschutzbehörden rasch mit Informationen zu versorgen – zur Zeit der Ereignisse nicht vorhersehbar, dass eine solche Maßnahme erforderlich war, um einen tödlichen Angriff auf A. zu verhindern. Daher kann die Unterlassung dieser Information, deren Teilen zur Zeit der Ereignisse unter innerstaatlichem Recht nicht vorgesehen war, im Zusammenhang mit den positiven Verpflichtungen der Behörden unter dem Osman-Test nicht als eine Verletzung ihrer speziellen Sorgfaltspflicht angesehen werden.
(209) Aus den oben genannten Gründen stimmt der GH der Regierung zu, dass es auf der Basis dessen, was den Behörden zur betreffenden Zeit bekannt war, keine Hinweise auf eine reale und unmittelbare Gefahr für weitere – und schon gar nicht tödliche – Gewalt gegenüber dem Sohn der Bf. außerhalb der Bereiche gab, für die ein Betretungsverbot erlassen worden war. Die Behörden stellten im Zuge ihrer Beurteilung im Zusammenhang mit der vom Vater verübten häuslichen Gewalt, deren primäres Ziel die Bf. war, einen gewissen Grad an nicht tödlicher Gefahr für die Kinder fest. Die [...] angeordneten Maßnahmen scheinen vor dem Hintergrund der Risikoeinschätzung angemessen gewesen zu sein, um eine Gefahr weiterer Gewalt gegen die Kinder einzudämmen. Die Behörden waren bei der Setzung aller notwendigen Schutzmaßnahmen sorgfältig und gewissenhaft. Es war unter dem Osman-Test in seiner Anwendung im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt keine reale und unmittelbare Gefahr eines Angriffs auf das Leben der Kinder erkennbar. Deshalb unterlagen die Behörden keiner Verpflichtung – sei es im privaten oder öffentlichen Bereich –, weitere präventive operative Maßnahmen insbesondere im Hinblick auf die Kinder der Bf. zu setzen wie den Erlass eines Betretungsverbots für die Schule der Kinder.
(210) Außerdem erkennt der GH unter Berücksichtigung der Anforderungen aus dem nationalen Strafrecht und aus Art. 5 EMRK [...] keinen Grund, die Feststellung der österreichischen Gerichte in Frage zu stellen, wonach die Behörden rechtmäßig gehandelt hätten, indem sie E. nicht in Untersuchungshaft genommen hatten. [...]
Ergebnis
(211) Der GH kommt zum Schluss, dass die Behörden die erforderliche spezielle Sorgfalt an den Tag legten, indem sie rasch auf die Behauptungen von häuslicher Gewalt [...] reagierten und den besonderen Kontext häuslicher Gewalt [...] gebührend berücksichtigten. Sie nahmen eine autonome, proaktive und vollständige Risikoeinschätzung vor, deren Ergebnis sie zum Erlass eines Betretungsverbots führte. Die Risikoeinschätzung wies jedoch auf keine reale und unmittelbare tödliche Gefahr für den Sohn der Bf. hin. Daher wurde keine Verpflichtung ausgelöst, diesbezüglich präventive operative Maßnahmen zu setzen.
(212) Demgemäß erfolgte keine Verletzung von Art. 2 EMRK [...] (10:7 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Turkovic, Lemmens, Harutyunyan, Elósegui, Felici, Pavli und Yüksel; abweichendes Sondervotum von Richterin Elósegui; gemeinsames im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Koskelo, gefolgt von den Richterinnen und Richtern Lubarda, Ravarani, Kucsko-Stadlmayer, Polackova, Ilievski, Wennerström und Sabato).
(213) Angesichts dieser Schlussfolgerung erachtet es der GH nicht für notwendig, über die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zu entscheiden (mehrheitlich; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Turkovic, Lemmens, Harutyunyan, Elósegui, Felici, Pavli und Yüksel).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK
(214) Die Bf. behauptete, durch das Versäumnis, sie gegen häusliche Gewalt zu schützen, hätte der Staat sie als Frau diskriminiert [...]. Der GH hält jedoch fest, dass die Bf. diese Rüge in ihrer ursprünglichen Beschwerde an den GH am 16.12.2015 nicht vorbrachte, sondern erstmals in ihrer Stellungnahme vor der GK am 10.1.2020.
(215) Da der Bf. die letzte innerstaatliche Entscheidung am 16.6.2015 zugestellt wurde, wurde diese Rüge außerhalb der sechsmonatigen Frist nach Art. 35 Abs. 1 EMRK erhoben und muss daher für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Osman/GB v. 28.10.1998 (GK) = NL 1998, 221
Kontrová/SK v. 31.5.2007 = NL 2007, 133
Opuz/TR v. 9.6.2009 = NL 2009, 154
Ostendorf/D v. 7.3.2013 = NLMR 2013, 86 = EuGRZ 2013, 489
Talpis/I v. 2.3.2017
S., V. und A./DK v. 22.10.2018 (GK) = NLMR 2018, 409
Volodina/RUS v. 9.7.2019 = NLMR 2019, 319
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.6.2021, Bsw. 62903/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 221) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.