Bsw38263/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Georgien gg. Russland (II), Urteil vom 21.1.2021, Bsw. 38263/08.
Spruch
Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 38 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK, Art. 2 1. Prot. EMRK, Art. 2 4. Prot. EMRK - Verantwortung Russlands für Menschenrechtsverletzungen im Georgien-Krieg 2008.
Unzulässigkeit der Beschwerde, soweit sie sich auf die Phase der aktiven Kampfhandlungen (8.8.-12.8.2008) zwischen Russland und Georgien bezieht (11:6 Stimmen).
Zulässigkeit der Beschwerde, soweit sie sich auf die Phase der Okkupation nach Einstellung der Kampfhandlungen bezieht (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK sowie von Art. 1 1. Prot. EMRK durch das systematische Niederbrennen und Plündern von Dörfern in Südossetien (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 3 EMRK durch die Misshandlung von Kriegsgefangenen (16:1 Stimmen).
Verletzung Art. 2 4. Prot. EMRK (16:1 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 38 EMRK (16:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegende Beschwerde bezieht sich auf den bewaffneten Konflikt zwischen Georgien und Russland, der im August 2008 nach anhaltenden Spannungen und gegenseitigen Provokationen ausgebrochen ist.
Die militärischen Auseinandersetzungen ereigneten sich vor allem rund um Zchinwali, die Hauptstadt Südossetiens, und im Gebiet von Gori, das in der unbestritten zu georgischem Territorium zählenden »Pufferzone« liegt. Der Vormarsch der georgischen Truppen in Südossetien wurde rasch durch die russische Armee und südossetische Milizen gestoppt. Ab 10.8.2008 zogen sich die georgischen Soldaten wieder zurück. Daraufhin drangen russische Truppen in einige Gebiete Georgiens ein, unter anderem in Abchasien, Südossetien und die »Pufferzone« einschließlich der an Südossetien und Abchasien angrenzenden Zone.
Am 12.8.2008 wurde unter Vermittlung der EU ein Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien abgeschlossen. Zwei Wochen später wurden Südossetien und Abchasien von Russland als unabhängige Staaten anerkannt. Im September folgten »Freundschafts- und Kooperationsabkommen«, die unter anderem die Stationierung russischer Soldaten vorsahen. Am 10.10.2008 zog Russland den Großteil seiner Soldaten aus der »Pufferzone« ab. Nur im Dorf Perevi, das auf unbestrittenem georgischem Hoheitsgebiet liegt, blieben bis 18.10.2010 russische Truppen stationiert.
Rechtliche Beurteilung
Die bf. Regierung brachte vor, Russland habe – durch unterschiedslose und unverhältnismäßige Angriffe seiner Armee bzw. separatistischer Kräfte unter seiner Kontrolle auf Zivilisten und deren Eigentum auf dem Territorium Georgiens – eine Verwaltungspraxis erlaubt oder herbeigeführt, die eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung) und Art. 2 4. Prot. EMRK (Freizügigkeit) begründet hätte.
Vorfragen
(75) Die von der belangten Regierung erhobenen Einreden betreffend die Beschwerdefrist und die Litispendenz [...] wurden vom GH in seiner ZE vom 13.12.2011 verworfen. Die Einreden der Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione loci und ratione materiae und der fehlenden Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe wurden mit der Entscheidung in der Sache verbunden.
(76) Um die Behandlung der vorliegenden Beschwerde zu erleichtern, wird der GH mit einem allgemeinen Überblick über die Vorfragen beginnen [...]. Er wird dann mit einer Prüfung dieser Vorfragen hinsichtlich der einzelnen [...] Aspekte der Beschwerde fortfahren.
Hoheitsgewalt
(77) Der GH muss als erstes die Frage beantworten, ob die Opfer der behaupteten Verletzungen iSv. Art. 1 EMRK in die Hoheitsgewalt Russlands fielen.
(78) Die bf. Regierung [...] behauptete erstens, dass die Gebiete von Zchinwali/Südossetien und Abchasien während aller fraglichen Zeiträume unter der effektiven Kontrolle Russlands gestanden wären. Russland hätte schon vor dem Konflikt den Großteil dieser Regionen sowohl direkt durch seine Streitkräfte als auch indirekt durch die Kontrolle und Unterstützung der de facto-Regierungen Südossetiens und Abchasiens sowie der separatistischen Milizen kontrolliert. Zwischen 7./8.8. und 22.8.2008 hätten russische Truppen den Rest Südossetiens und Abchasiens besetzt [...] und damit die effektive Kontrolle über die letzten Teile Südossetiens und Abchasiens übernommen [...]. Die bf. Regierung brachte zweitens vor, Russland hätte während des Konflikts die effektive Kontrolle über andere Gebiete, einschließlich der »Pufferzone«, übernommen. Kumulativ mit oder alternativ zu der Ausübung von effektiver Kontrolle über die genannten Gebiete unterstütze auch das Kriterium der Autorität und Kontrolle durch staatliche Organe die Behauptung, dass die Verantwortlichkeit Russlands durch die Handlungen und Unterlassungen seiner Streitkräfte und aller Organe, über die es Autorität und Kontrolle ausübt – einschließlich der Milizen und separatistischen Kräfte – gegeben sei. Insbesondere wäre Russland für die Bombardierungen auf georgischem Staatsgebiet [...] verantwortlich.
(79) Die belangte Regierung entgegnete, [...] Russland habe zu keinem Zeitpunkt durch seine Streitkräfte die »effektive Kontrolle« über Südossetien oder Abchasien hergestellt. [...] Auch habe Russland [...] keine Kontrolle über die betroffenen Individuen ausgeübt, die nicht seine staatlichen Organe wären. [...] Außerdem habe Russland nie eine effektive Kontrolle durch die Regierungen Südossetiens oder Abchasiens oder durch deren Unterstützung ausgeübt. Beide hätten den legitimen Status unabhängiger Entscheidungsträger, die nicht »untergeordnet« wären.
Allgemeine Grundsätze zur Hoheitsgewalt
(81) Die allgemeinen Grundsätze wurden unter anderem in Al-Skeini/GB dargelegt:
[...] Die Hoheitsgewalt ist in erster Linie territorial bestimmt. [...] Der GH hat in seiner Rechtsprechung anerkannt, dass sich die Hoheitsgewalt eines Konventionsstaats, als Ausnahme vom Grundsatz der Territorialität, auf Handlungen seiner Behörden erstrecken kann, die außerhalb seines eigenen Hoheitsgebiets Wirkungen entfalten. [...] Erstens fallen darunter Handlungen der diplomatischen und konsularischen Organe, die sich auf fremdem Territorium aufhalten, wenn diese Organe Befehlsgewalt und Kontrolle über andere ausüben. Zweitens [...] kann ein Staat extraterritoriale Hoheitsgewalt ausüben, indem er nach Zustimmung, Aufforderung oder Einwilligung der Regierung eines Gebiets alle oder einige der öffentlichen Gewalten ausübt, die normalerweise von der Regierung ausgeübt werden. [...] Daneben kann unter bestimmten Umständen die Anwendung von Gewalt durch staatliche Organe, die außerhalb seines Territoriums operieren, ein Individuum, das dadurch unter ihre Kontrolle gebracht wird, der Hoheitsgewalt des Staates unterwerfen. Entscheidend ist in diesen Fällen die Ausübung physischer Macht und Kontrolle über die betroffene Person. [...] Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der territorialen Beschränkung der Hoheitsgewalt liegt vor, wenn ein Staat in Folge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger militärischer Handlungen effektive Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Territoriums ausübt. [...]
Im vorliegenden Fall angewendete Methode
(82) Wie der GH im selben Urteil ausgeführt hat [...] muss die Frage, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, die es rechtfertigen und erfordern, dass der GH die Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt durch den Staat feststellt, im Hinblick auf die besonderen Umstände beantwortet werden.
(83) Im vorliegenden Fall muss nach Ansicht des GH unterschieden werden zwischen den militärischen Operationen, die während der Phase aktiver Kampfhandlungen durchgeführt wurden, und den anderen Ereignissen, die er im Kontext des vorliegenden internationalen bewaffneten Konflikts prüfen muss, einschließlich jener, die sich während der Phase der Okkupation nach Beendigung der Kampfhandlungen ereigneten, sowie der Anhaltung und Behandlung von Zivilisten und Kriegsgefangenen, der Bewegungsfreiheit vertriebener Personen, dem Recht auf Bildung und der Ermittlungspflicht.
(84) Er wird daher im Hinblick auf jeden dieser Aspekte der Beschwerde untersuchen, ob er in die Hoheitsgewalt Russlands fiel, bevor er ihn in der Sache prüft.
Verhältnis zwischen den Bestimmungen der EMRK und den Regeln des humanitären Völkerrechts
Allgemeine Grundsätze
(92) Der GH [...] hat die komplexe Frage des Verhältnisses zwischen dem Recht der Konvention und dem humanitären Völkerrecht in einigen an ihn herangetragenen Fällen behandelt.
(93) Zu verweisen ist unter anderem auf das von der Rechtsprechung des IGH inspirierte Urteil Hassan/GB, insbesondere auf die folgenden Passagen:
»[...] Das Fehlen einer förmlichen Derogation nach Art. 15 EMRK hindert den GH nicht daran, bei der Auslegung und Anwendung von Art. 5 EMRK den Kontext und die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts zu berücksichtigen. Allerdings bleiben die Garantien der EMRK selbst in Situationen eines internationalen bewaffneten Konflikts anwendbar [...]. Auch wenn der GH [...] eine formelle Derogation nicht für erforderlich hält, wird er die Bestimmungen des Art. 5 EMRK nur dann im Licht der einschlägigen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts auslegen und anwenden, wenn der belangte Staat ein dahingehendes Vorbringen erstattet. [...]«
Im vorliegenden Fall angewendete Methode
(94) Wie in Hassan/GB ausgeführt, ist die Konvention im Einklang mit anderen Regeln des Völkerrechts auszulegen [...]. Dies gilt auch für das humanitäre Völkerrecht.
(95) Im vorliegenden Fall wird der GH daher die Wechselwirkungen zwischen den beiden rechtlichen Regimen im Hinblick auf jeden einzelnen Aspekt der Rechtssache und jeden geltend gemachten Artikel der EMRK prüfen. [...]
Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(99) Die Frage der Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe hängt eng zusammen mit dem von der bf. Regierung behaupteten Bestehen von Verwaltungspraktiken. Der GH wird diese Fragen daher gemeinsam behandeln.
Begriff der »Verwaltungspraxis«
(100) Die bf. Regierung brachte [...] vor, die individuellen Verletzungen wären Beispiele für Verwaltungspraktiken [...]. [...]
(101) Der GH ist daher aufgerufen zu prüfen, ob mit [...] der EMRK unvereinbare »Verwaltungspraktiken« bestanden [...].
(102) Er verweist in diesem Kontext auf die Definition des Begriffs der Verwaltungspraxis, wie er in Georgien/RUS (I) dargelegt wurde:
Eine Verwaltungspraxis umfasst zwei Elemente: die Wiederholung von Handlungen und die offizielle Duldung. Die »Wiederholung von Handlungen« wird vom GH als eine Häufung identischer oder ähnlicher Verletzungen beschrieben, die ausreichend zahlreich und zusammenhängend sind, um nicht bloß isolierten Zwischenfällen oder Ausnahmen zu entsprechen, sondern einem Muster oder System.
Mit »offizieller Duldung« ist gemeint, dass rechtswidrige Handlungen toleriert werden, indem die Vorgesetzten der unmittelbar Verantwortlichen, obwohl ihnen diese Handlungen bekannt sind, nichts unternehmen, um sie zu bestrafen oder einer Wiederholung vorzubeugen; oder dass eine höhere Autorität trotz zahlreicher Anschuldigungen Gleichgültigkeit zeigt, indem sie eine angemessene Untersuchung ihres Wahrheitsgehalts verweigert; oder dass in gerichtlichen Verfahren über solche Beschwerden ein faires Verfahren verweigert wird.
(103) Allerdings ist anzumerken, dass diese Kriterien zwar einen allgemeinen Rahmen definieren, aber nicht anzeigen, welche Zahl von Vorfällen erforderlich ist, um auf das Bestehen einer Verwaltungspraxis schließen zu können. Diese muss der GH im Hinblick auf die besonderen Umstände jedes einzelnen Falls prüfen.
Phase der aktiven Kampfhandlungen des fünftägigen Kriegs (8.8. bis 12.8.2008)
(105) Die bf. Regierung brachte vor, die militärischen Operationen (Bombardements und Beschuss) durch die russischen Streitkräfte und/oder südossetische Truppen während des Konflikts hätten gegen Art. 2 EMRK verstoßen.
(109) Der GH bemerkt zunächst, dass Russland [...] im August 2008 zweifellos militärische Operationen in Südossetien und in Gebieten durchgeführt hat, die unbestritten zum Territorium Georgiens zählten.
(110) Er muss als erstes bestimmen, ob die Ereignisse während der Phase aktiver Kampfhandlungen in die Hoheitsgewalt Russlands fielen. Dazu muss er den Charakter der Kontrolle prüfen, die von Russland während der durch seine Truppen im Zuge des fünftägigen Krieges durchgeführten Militäroperationen ausgeübt wurde. Da alle bis auf zwei Beschwerdepunkte [...] nur Südossetien und die »Pufferzone« betreffen, kann sich der GH im Hinblick auf diese Zeitspanne darauf beschränken zu prüfen, ob Russland in diesen beiden Gebieten Hoheitsgewalt ausgeübt hat.
(111) [...] Die Frage nach dem Charakter der Kontrolle, die Russland in Südossetien vor Beginn der aktiven Kampfhandlungen ausgeübt hat, ist für den vorliegenden Fall nicht von Belang, da die Kämpfe überwiegend in Gebieten stattfanden, die zuvor von Georgien kontrolliert worden waren [...]. [...]
(112) Die vier beispielhaften Vorfälle, die der GH im vorliegenden Fall ermittelt hat, betreffen die mutmaßlichen Luftangriffe auf das Dorf Eredvi, das im früher von Georgien kontrollierten Gebiet Südossetiens liegt, und auf die Stadt Gori sowie die Dörfer Karbi und Tortiza, die alle in unumstrittenem georgischen Territorium liegen.
Allgemeine Grundsätze zur extraterritorialen Hoheitsgewalt
(113) Im vorliegenden Fall ist der GH erstmals seit der Entscheidung in Bankovic u.a./B u.a. wieder dazu aufgerufen, die Frage der Hoheitsgewalt im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts zu prüfen, dessen Bestehen zwischen den Parteien unumstritten ist.
(114) Allerdings hat sich die Rechtsprechung des GH zum Konzept der extraterritorialen Hoheitsgewalt seit dieser Entscheidung insofern weiterentwickelt, als der GH unter anderem zu verstehen gegeben hat, dass die Konventionsrechte geteilt und zugeschnitten (divided and tailored) werden können, und das Konzept des »Rechtsraums« der Konventionsstaaten um eine Abstufung ergänzt wurde. Zudem hat er eine Reihe von Kriterien für die Ausübung von extraterritorialer Hoheitsgewalt festgehalten, die weiterhin die Ausnahme bleiben muss.
(115) Die beiden vom GH in dieser Hinsicht festgelegten Kriterien sind jenes der »effektiven Kontrolle« eines Staates über ein Gebiet (räumliches Konzept der Hoheitsgewalt) und jenes der »Befehlsgewalt und Kontrolle« (authority and control) über Personen durch staatliche Organe (personenbezogenes Konzept der Hoheitsgewalt).
Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
(125) Im vorliegenden Fall muss der GH prüfen, ob die in seiner Rechtsprechung zur Bestimmung der Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt durch einen Staat angewendeten Voraussetzungen im Hinblick auf militärische Operationen während eines internationalen bewaffneten Konflikts als erfüllt angesehen werden können.
(126) In diesem Zusammenhang kann zunächst davon ausgegangen werden, dass im Fall militärischer Operationen – einschließlich beispielsweise bewaffneter Angriffe, Bombardements oder Artilleriebeschuss –, die während eines internationalen bewaffneten Konflikts durchgeführt werden, im Allgemeinen nicht von effektiver Kontrolle über ein Gebiet gesprochen werden kann. Schon die Realität von bewaffneten Konfrontationen und Kämpfen zwischen verfeindeten Streitkräften, die in einem chaotischen Umfeld danach streben, die Kontrolle über ein Gebiet zu erlangen, bedeutet, dass es keine Kontrolle über ein Gebiet gibt. Dies gilt auch im vorliegenden Fall, wo der Großteil der Kämpfe in Gebieten stattfand, die zuvor von Georgien kontrolliert worden waren.
(127) Daher muss beurteilt werden, ob im vorliegenden Fall der Judikatur des GH entsprechend durch staatliche Organe »Befehlsgewalt und Kontrolle« über Personen ausgeübt wurde und was genau diese Begriffe umfassen.
(128) Der GH erinnert [...] als allererstes daran, dass Handlungen, die von Konventionsstaaten außerhalb ihres Territoriums ausgeübt werden oder dort Wirkungen entfalten, nur unter außergewöhnlichen Umständen eine Ausübung von Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK darstellen können.
(130) In den meisten der Fälle, die der GH seit seiner Entscheidung in Bankovic u.a./B u.a. geprüft hat, war der entscheidende Faktor für die Bejahung von »Befehlsgewalt und Kontrolle« durch staatliche Organe über Personen jenseits der Grenzen des Staates die Ausübung physischer Macht und Kontrolle über die betroffenen Personen.
(131) In anderen Fällen zu gezielten Schüssen durch die Streitkräfte bzw. Polizei der betroffenen Staaten hat der GH zugegebenermaßen das Konzept der »Befehlsgewalt und Kontrolle« durch staatliche Organe über Personen auf Szenarien angewendet, die über die physische Macht und Kontrolle, wie sie im Kontext von Festnahme und Anhaltung ausgeübt werden, hinausgehen.
(132) Allerdings betrafen diese Fälle isolierte und spezifische Handlungen, die ein Element der Nähe aufwiesen.
(133) Die aktive Phase von Feindseligkeiten, die der GH im vorliegenden Fall im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts untersuchen muss, unterscheidet sich davon erheblich, weil sie die Bombardierung und den Artilleriebeschuss durch russische Truppen betrifft, die versuchten, die georgische Armee außer Gefecht zu setzen und die Kontrolle über Gebiete zu erlangen, die einen Teil Georgiens bildeten.
(134) [...] In Bankovic u.a./B u.a. stellte der GH fest, dass sich der Wortlaut von Art. 1 EMRK nicht mit der Theorie verträgt, wonach »jeder, der von einer einem Vertragsstaat zurechenbaren Handlung negativ beeinträchtigt wird, wo auch immer diese Handlung vorgenommen wird oder ihre Folgen spürbar werden, automatisch der Hoheitsgewalt dieses Staates unterstehen würde«. Er fügte hinzu, dass eine solche Auslegung [...] darauf hinauslaufen würde, die Frage, ob jemand der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaats unterliegt, mit der Frage zu verwechseln, ob diese Person als Opfer einer Verletzung der durch die EMRK garantierten Rechte angesehen werden kann [...].
(136) Es gibt keinen Grund, im vorliegenden Fall anders zu entscheiden. Die Verpflichtung, die Art. 1 EMRK den Konventionsstaaten auferlegt [...], hängt eng zusammen mit dem Begriff der »Kontrolle«, sei es die »Befehlsgewalt und Kontrolle staatlicher Organe« über Personen oder die »effektive Kontrolle« eines Staates über ein Gebiet.
(137) In diesem Zusammenhang misst der GH der Tatsache entscheidendes Gewicht bei, dass die Realität bewaffneter Auseinandersetzungen und Kämpfe zwischen feindlichen Streitkräften, die in einem chaotischen Umfeld danach streben, die Kontrolle über ein Gebiet zu erlangen, nicht nur bedeutet, dass es wie oben dargelegt (Rn. 126) keine »effektive Kontrolle« über ein Gebiet gibt, sondern auch jede Form der »Befehlsgewalt und Kontrolle staatlicher Organe« über Personen ausgeschlossen ist.
(138) Somit wurden die Voraussetzungen, die der GH in seiner Rechtsprechung angewendet hat um zu entscheiden, ob eine Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt durch einen Staat stattgefunden hat, im Hinblick auf die militärischen Operationen während der Phase aktiver Feindseligkeiten im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts, die er im vorliegenden Fall untersuchen muss, nicht erfüllt.
(139) Diese Schlussfolgerung wird durch die Praxis der Vertragsstaaten bestätigt, in Situationen, in denen sie sich an einem internationalen bewaffneten Konflikt außerhalb ihres Territoriums beteiligen, keine Derogationserklärungen gemäß Art. 15 EMRK abzugeben. Dies kann nach Ansicht des GH dahingehend verstanden werden, dass die Vertragsstaaten davon ausgehen, in solchen Situationen keine Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK auszuüben [...].
(140) [...] Dem GH ist bewusst, dass eine solche Auslegung des Begriffs der »Hoheitsgewalt« in Art. 1 EMRK für die mutmaßlichen Opfer von Handlungen und Unterlassungen eines Vertragsstaats während der Phase aktiver Kampfhandlungen im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts außerhalb seines Territoriums, aber innerhalb des Territoriums eines anderen Konventionsstaats, sowie für den Staat, in dem die Feindseligkeiten stattgefunden haben, unbefriedigend erscheinen mag.
(141) Angesichts insbesondere der großen Zahl mutmaßlicher Opfer und umstrittener Vorfälle, des Umfangs der vorgelegten Beweise, der Schwierigkeit bei der Feststellung der relevanten Umstände und der Tatsache, dass solche Situationen in erster Linie von anderen Regeln als jenen der EMRK (insbesondere dem humanitären Völkerrecht oder dem Kriegsrecht) erfasst werden, ist der GH allerdings der Ansicht, dass er nicht in der Lage ist, seine Rechtsprechung über das heute geltende Verständnis des Begriffs der »Hoheitsgewalt« hinaus weiterzuentwickeln.
(142) Wenn der GH, wie im vorliegenden Fall, mit der Aufgabe betraut werden soll, Kriegshandlungen und aktive Feindseligkeiten im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts außerhalb des Territoriums eines belangten Staats zu beurteilen, muss es Sache der Vertragsparteien sein, die nötige rechtliche Grundlage für eine solche Aufgabe zu schaffen.
(143) In diesem Zusammenhang betont der GH, dass dies nicht bedeutet, dass Staaten außerhalb jeglichen Rechtsrahmens handeln können. Wie oben dargelegt sind sie verpflichtet, in einem solchen Kontext die sehr detaillierten Regeln des humanitären Völkerrechts zu befolgen.
(144) Angesichts all dieser Faktoren kommt der GH zum Schluss, dass die Ereignisse während der aktiven Phase der Kampfhandlungen (8.8. bis 12.8.2008) nicht iSv. Art. 1 EMRK in die Hoheitsgewalt Russlands fielen. Folglich muss dieser Teil der Beschwerde [...] für unzulässig erklärt werden (11:6 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richterin Yudkivska und der Richter Lemmens, Grozev, Pinto de Albuquerque, Chanturia und Wojtyczek; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richterin Keller und Richter Serghides).
Phase der Okkupation nach Einstellung der Kampfhandlungen
(145) Die bf. Regierung brachte vor, die russischen Streitkräfte und südossetische Milizen wären für Tötungen, Misshandlungen, Plünderungen und Brandstiftungen in Südossetien und der angrenzenden »Pufferzone« verantwortlich. Derartige Handlungen hätten gegen Art. 2, Art. 3 und Art. 8 EMRK sowie gegen Art. 1 1. Prot. EMRK verstoßen.
Hoheitsgewalt
(146) Obwohl sich diese Beschwerdebehauptungen nur auf Ereignisse in Südossetien und der »Pufferzone« beziehen, wird der GH auch prüfen, ob Russland nach Einstellung der Kampfhandlungen »effektive Kontrolle« über Abchasien ausgeübt hat, da dies eine Vorfrage im Hinblick auf die Beschwerden unter Art. 2 4. Prot. EMRK und Art. 2 1. Prot. EMRK ist.
(162) Die Frage, ob die von der bf. Regierung in Beschwerde gezogenen Tatsachen in die Hoheitsgewalt des belangten Staates fallen, muss getrennt von den Fragen behandelt werden, ob sie diesem Staat zurechenbar sind und seine Verantwortlichkeit begründen. Die beiden letzteren Angelegenheiten sind anhand einer Prüfung in der Sache zu entscheiden.
(164) Um im vorliegenden Fall zu entscheiden, ob die [...] Tatsachen in die Hoheitsgewalt Russlands fallen, muss [...] festgestellt werden, ob es in Südossetien, Abchasien und der »Pufferzone« »effektive Kontrolle« ausübte. Wie der GH in seiner Rechtsprechung dargelegt hat, ist dies [...] eine Tatsachenfrage. Bei der Entscheidung, ob effektive Kontrolle besteht, wird sich der GH in erster Linie auf die Stärke der militärischen Präsenz des Staates in diesem Gebiet beziehen. Weitere Faktoren können ebenfalls relevant sein, wie etwa das Ausmaß, in dem seine militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung der untergeordneten lokalen Verwaltung deren Einfluss und Kontrolle über das Gebiet sichert.
(165) Die belangte Regierung räumte [...] eine erhebliche russische Militärpräsenz nach Einstellung der Kampfhandlungen ein, vor allem in Südossetien (14.901 Soldaten am 22.8.2008 [...]) [...] sowie die Einrichtung von 18 Beobachtungsposten zwischen Georgien und Südossetien und in der »Pufferzone«. In dieser Zone selbst waren nach Ende der Kämpfe nur 600 russische Soldaten stationiert. [...]
(167) [...] Neben anderen Quellen [...] zeigt der Bericht der EU-Beobachtermission [...] ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Russland und Südossetien sowie Abchasien nicht nur in wirtschaftlicher und finanzieller, sondern auch in militärischer und politischer Hinsicht. [...]
(170) Dies gilt in besonderem Maße für Südossetien, wo nach dem Bericht der EU-Beobachtermission russische Beamte schon vor Ausbruch der Kampfhandlungen de facto die Kontrolle über die Institutionen und insbesondere über die Sicherheitskräfte übernommen hatten. [...]
(171) Überdies erklärte der russische Premierminister Wladimir Putin am 26.8.2009 bei einer Pressekonferenz unter anderem, dass [...] im September 2008 ein Freundschaftsvertrag und im April 2009 ein Abkommen über den Schutz der Grenze Südossetiens abgeschlossen worden sei und russische Grenzwachen die Verantwortung für die Sicherstellung von Frieden und Ruhe in der Region übernommen hätten. [...]
(172) Schließlich bestätigte auch die International Crisis Group (Anm: Die International Crisis Group ist eine NGO, die vor allem Lösungsvorschläge und Analysen zu internationalen Konflikten bietet. Sie kooperiert eng mit den UN.) [...], dass Südossetien und Abchasien nicht nur ökonomisch und finanziell völlig von Russland abhängig waren, sondern auch in militärischer und politischer Hinsicht [...]. [...]
(173) Was die »Pufferzone« betrifft, scheint unbestreitbar zu sein, dass diese während der fraglichen Zeit ebenfalls von Russland besetzt war [...].
(174) Angesichts all dieser Faktoren ist der GH der Ansicht, dass Russland zwischen 12.8. und 10.10.2008 (dem Datum des offiziellen Abzugs der russischen Truppen) [...] »effektive Kontrolle« über Südossetien, Abchasien und die »Pufferzone« ausgeübt hat. Selbst nach diesem Datum deuten die starke russische Präsenz und die Abhängigkeit der Behörden Südossetiens und Abchasiens von Russland, von dem ihr Überleben abhängt [...], darauf hin, dass weiterhin »effektive Kontrolle« über Südossetien und Abchasien ausgeübt wurde. [Daher fielen die Ereignisse nach dem Waffenstillstand vom 12.8.2008 iSv. Art. 1 EMRK in die Hoheitsgewalt Russlands. Die diesbezügliche Einrede der belangten Regierung wird verworfen (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).]
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2, Art. 3 und Art. 8 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK
(205) [...] Die in verschiedenen Berichten internationaler Organisationen und der EU-Beobachtermission sowie in der Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs enthaltenen Informationen zeigen übereinstimmend das Bestehen einer systematischen Kampagne des Niederbrennens und der Plünderung von Häusern in georgischen Dörfern in Südossetien und in der »Pufferzone« nach dem Ende der aktiven Kampfhandlungen. [...] Diese Kampagne ging mit Übergriffen auf die Zivilbevölkerung und insbesondere mit willkürlichen Hinrichtungen einher. Auch die drei vom GH gehörten Zeugen schilderten die Plünderung und das Niederbrennen von Häusern durch südossetische Milizen während ihre Dörfer unter russischer Kontrolle standen [...]. [...]
(207) Die OSZE verwies auf die Ermordung von Zivilisten in Südossetien und der »Pufferzone«. [...] Die Täter seien oft Ossetier [...] gewesen, die den russischen Truppen in die Dörfer gefolgt wären [...]. [...]
(211) Der Bericht von Human Rights Watch deutet darauf hin, dass es manchmal schwierig war festzustellen, wer die Angreifer waren. [...]
(212) Selbst wenn sich an den Auseinandersetzungen auch Zivilisten in einer spontanen, sporadischen und unorganisierten Weise beteiligten, zeigen die dem GH vorliegenden Beweise doch, dass die Angreifer in vielen Fällen Mitglieder der südossetischen Streitkräfte waren, einschließlich einer Reihe von irregulären Milizen.
(213) Die belangte Regierung bestritt diese Ereignisse als solche nicht [...]. Die russischen Truppen, die oft versucht hätten einzuschreiten und die georgischen Dörfer zu schützen, wären nicht in der Lage gewesen, jeden Vorfall zu verhindern und hätten keine Kontrolle über die Südossetier gehabt, die oft Kriminelle gewesen wären. [...]
(214) Allerdings war Russland [...] ab dem Zeitpunkt, ab dem es mit Ende der aktiven Kampfhandlungen »effektive Kontrolle« über die Gebiete Südossetiens und die »Pufferzone« ausübte, auch für die Handlungen der südossetischen Streitkräfte in diesen Gebieten verantwortlich, ohne dass Beweise für eine »detaillierte Kontrolle« über jede einzelne dieser Handlungen erbracht werden müssten.
(216) [...] Eine Verwaltungspraxis wird nicht nur durch eine »Wiederholung von Handlungen« gekennzeichnet, sondern auch durch die »offizielle Duldung«. [...]
(217) Selbst wenn manche Zeugenaussagen darauf hinweisen, dass russische Truppen manchmal eingeschritten waren, um Übergriffe gegen Zivilisten zu stoppen, waren sie in vielen Fällen während Plünderungen anwesend, verhielten sich jedoch passiv. Dementsprechend stellte die EU-Beobachtermission fest, dass »[...] die russischen Truppen bis zu einem gewissen Grad in der Lage waren, die öffentliche Ordnung und Sicherheit in den Gebieten, in denen sie stationiert waren, sicherzustellen und sie behaupten, diesbezüglich gehandelt zu haben. Dies steht in auffallendem Kontrast zu dem, was vor Ort geschah, wo es ein gravierendes Fehlen von Aktivitäten der russischen Truppen zur Verhinderung von Verletzungen und zum Schutz ethnischer Georgier gab. [...]«
(218) Das zeigt, dass sich die von den russischen Behörden vor Ort gesetzten Maßnahmen trotz des an die russische Armee erteilten Befehls, die Bevölkerung zu beschützen, [...] als unzureichend erwiesen, um die behaupteten Verletzungen zu verhindern.
(219) Dies kann als »offizielle Duldung« seitens der russischen Behörden angesehen werden, was auch an der Tatsache deutlich wird, dass diese keine effektiven Untersuchungen der behaupteten Verletzungen durchführten.
(220) Angesichts des Vorgesagten verfügt der GH seiner Ansicht nach über ausreichende Beweise dafür, um zweifelsfrei zu dem Schluss zu gelangen, dass im Hinblick auf die Tötung von Zivilisten und das Niederbrennen und Plündern von Häusern in georgischen Dörfern in Südossetien und der »Pufferzone« eine gegen Art. 2 und Art. 8 EMRK sowie Art. 1 1. Prot. EMRK verstoßende Verwaltungspraxis bestand. Angesichts der Schwere der begangenen Übergriffe, die als »unmenschliche oder erniedrigende Behandlung« qualifiziert werden können [...], ist der GH der Ansicht, dass diese Verwaltungspraxis auch mit Art. 3 EMRK unvereinbar war.
(221) Gemäß der Rechtsprechung des GH ist die Regel der Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht anwendbar, wenn das Bestehen einer Verwaltungspraxis festgestellt wird. Die diesbezügliche Verfahrenseinrede der Regierung [...] ist daher zu verwerfen.
(222) Somit hat eine Verletzung von Art. 2, Art. 3 und Art. 8 EMRK sowie von Art. 1 1. Prot. EMRK stattgefunden, für die Russland verantwortlich ist (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
Behandlung internierter Zivilisten und Rechtmäßigkeit ihrer Anhaltung?(223) Die bf. Regierung brachte vor, südossetische Truppen hätten 160 Zivilisten 15 Tage lang [...] unrechtmäßig unter unangemessenen Bedingungen interniert. Einige von ihnen wären auch misshandelt worden. Dies stelle eine Verletzung von Art. 3 und Art. 5 EMRK dar [...].
Hoheitsgewalt
(238) [...] Es ist unbestritten, dass eine große Zahl hauptsächlich älterer georgischer Zivilisten [...] zwischen 10.8. und 27.8.2008 von südossetischen Truppen im Keller des »Innenministeriums Südossetiens« in Zchinwali festgehalten wurde.
(239) Da die georgischen Zivilisten hauptsächlich nach Beendigung der Kampfhandlungen angehalten wurden, fielen sie nach Ansicht des GH in die Hoheitsgewalt Russlands [...]. Die diesbezügliche Einrede der belangten Regierung wird verworfen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
(242) [...] Die Zeugenaussagen georgischer Zivilisten betreffend ihre schwierigen Haftbedingungen entsprechen den Informationen von Human Rights Watch, Amnesty International und der OSZE. Auch die Aussage des als Zeuge gehörten [...] Leiters des »Anhaltezentrums« ist aufschlussreich. [...] Er erklärte, dass es sieben Zellen, zwei Toiletten und ein paar Gemeinschaftsräume für 160 Gefangene gab und die Betten nur für die Hälfte von ihnen ausreichten. [...] Das Argument der belangten Regierung, es wären keine anderen Gebäude zur Verfügung gestanden, kann nicht akzeptiert werden.
(244) [...] Einige der Gefangenen wurden Schikanen und erniedrigenden Maßnahmen durch die südossetischen Wachen unterworfen [...].
(246) [...] Art. 3 EMRK bezieht sich nicht nur auf die Zufügung physischer Schmerzen, sondern auch auf seelisches Leid, das durch die Schaffung eines Zustands der Angst und Anspannung durch andere Mittel als körperliche Angriffe geschaffen wird. Dies war hier hinsichtlich der von den georgischen Gefangenen erlittenen Behandlung ohne Zweifel der Fall.
(247) Wie aus den oben genannten Berichten und den Aussagen der georgischen Zeugen hervorgeht, waren russische Soldaten in dem Gebäude anwesend, lieferten Wasser und Nahrung und befragten einige der Gefangenen in anderen Teilen des Gebäudes.
(248) Selbst wenn die direkte Beteiligung der russischen Truppen nicht eindeutig nachgewiesen wurde, waren sie wegen der bereits festgestellten Hoheitsgewalt Russlands über die georgischen Zivilisten auch für die Handlungen der südossetischen Behörden verantwortlich, ohne dass im Hinblick auf jede einzelne von deren Handlungen eine »detaillierte Kontrolle« bewiesen werden müsste.
(249) Obwohl sie vor Ort anwesend waren, schritten die russischen Truppen nicht ein, um die umstrittene Behandlung zu unterbinden.
(250) Angesichts all dieser Faktoren gelangt der GH zu dem Schluss, dass betreffend die Haftbedingungen von rund 160 georgischen Zivilisten und die erniedrigenden Handlungen, denen sie ausgesetzt waren [...], eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis bestand.
(251) [...] Die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beziehende Einrede der Regierung ist zu verwerfen (einstimmig).
(252) Daher hat eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden, für die Russland verantwortlich ist (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK
(253) [...] Die belangte Regierung [...] behauptete, georgische Zivilisten wären wegen möglicher Racheakte von Südossetiern [...] zu ihrer eigenen Sicherheit interniert worden. Diese Rechtfertigung, die zudem in den oben genannten Berichten angezweifelt wird, ist kein von Art. 5 EMRK anerkannter Grund für eine Freiheitsentziehung. [...]
(254) Daher gab es eine gegen Art. 5 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis hinsichtlich der willkürlichen Anhaltung georgischer Zivilisten im August 2008.
(255) Die [...] Einrede der Nichterschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe [...] ist zu verwerfen (einstimmig).
(256) Folglich hat eine Verletzung von Art. 5 EMRK stattgefunden [...], für die Russland verantwortlich ist (einstimmig).
Behandlung von Kriegsgefangenen
(257) Die bf. Regierung brachte vor, mehr als 30 georgische Kriegsgefangene wären im August 2008 von russischen und südossetischen Soldaten misshandelt und gefoltert worden. [...]
Hoheitsgewalt
(268) [...] Aus Berichten von Human Rights Watch, Amnesty International [...] und anderen geht hervor, dass georgische Kriegsgefangene zwischen 8.8. und 17.8.2008 von südossetischen Truppen in Zchinwali angehalten wurden.
(269) Da sie auch nach Beendigung der Kampfhandlungen angehalten wurden, fielen sie [...] in die Hoheitsgewalt Russlands [...]. Die diesbezügliche Einrede der belangten Regierung ist zu verwerfen (einstimmig). [...]
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
(272) Wie der GH feststellt, werden Fälle von Misshandlung und Folter von Kriegsgefangenen durch südossetische Truppen unter anderem in den Berichten von Human Rights Watch und Amnesty International [...] erwähnt.
(273) Bei der Zeugenanhörung beschrieben [zwei Zeugen] detailliert die Behandlung, die ihnen seitens der südossetischen, aber auch der russischen Soldaten zuteil wurde.
(274) Nach Ansicht des GH sind ihre Aussagen glaubwürdig, da sie sehr präzise sind und mit den in den oben genannten Berichten aufscheinenden Informationen übereinstimmen.
(275) Angesichts dessen ist er der Ansicht, über genügend Beweise zu verfügen, um zweifelsfrei feststellen zu können, dass georgische Kriegsgefangene Opfer einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung durch die Streitkräfte Südossetiens wurden.
(276) Selbst wenn die direkte Beteiligung der russischen Truppen nicht in allen Fällen eindeutig nachgewiesen wurde, war Russland aufgrund seiner festgestellten Hoheitsgewalt über die Kriegsgefangenen auch für die Handlungen der südossetischen Soldaten verantwortlich, ohne dass es notwendig wäre, »detaillierte Kontrolle« über jede dieser Handlungen nachzuweisen.
(277) Überdies geht aus den oben genannten Berichten und aus den Aussagen der georgischen Zeugen hervor, dass russische Truppen vor Ort anwesend waren und nicht einschritten, um die umstrittene Behandlung zu verhindern.
(278) Zuletzt stellt der GH fest, dass die den georgischen Kriegsgefangenen zugefügte Misshandlung schwerwiegendes Leid und Schmerzen verursachte und als Folter iSv. Art. 3 EMRK angesehen werden muss. Diese Handlungen sind besonders schwerwiegend, da sie an Kriegsgefangenen begangen wurden, denen nach dem humanitären Völkerrecht ein Status des besonderen Schutzes zukommt.
(279) Angesichts all dieser Faktoren kommt der GH zum Ergebnis, dass es im Hinblick auf die Folterhandlungen, deren Opfer die georgischen Kriegsgefangenen waren, eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Verwaltungspraxis gab.
(280) Die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beziehende Einrede der Regierung [...] ist zu verwerfen (16:1 Stimmen).
(281) Daher hat eine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden, für die Russland verantwortlich ist (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
Freizügigkeit vertriebener Personen
(282) Die bf. Regierung brachte vor, Russland und die de facto-Regierungen Abchasiens und Südossetiens hätten die Rückkehr von rund 23.000 ethnischen Georgiern verhindert, die aus diesen Regionen gewaltsam vertrieben worden waren. Sie behauptete, dies verstoße gegen Art. 2 4. Prot. EMRK.
Hoheitsgewalt
(292) Der GH [...] hat bereits die Ausübung »effektiver Kontrolle« über Südossetien und Abchasien [...] durch Russland festgestellt. Außerdem zeigen die am 30.4.2009 zwischen Russland und Südossetien bzw. Abchasien unterzeichneten Übereinkommen über die Verwaltungsgrenzen, dass Russland diesbezüglich auch logistische Unterstützung leistete.
(293) Zugegebenermaßen lebt eine große Zahl georgischer Staatsbürger, die vor dem Konflikt geflohen sind, nicht mehr in Südossetien, sondern in unumstrittenem georgischem Territorium.
(294) Allerdings sind die Tatsache, dass ihre Häuser, zu denen zurückzukehren ihnen verwehrt wurde, in Gebieten unter »effektiver Kontrolle« Russlands lagen, und die Tatsache, dass Russland die »effektive Kontrolle« über die Verwaltungsgrenzen ausübte, nach Ansicht des GH ausreichend dafür, einen die Hoheitsgewalt begründenden Zusammenhang zwischen Russland und den betroffenen georgischen Staatsangehörigen herzustellen [...]
(295) Der GH gelangt daher zum Ergebnis, dass die georgischen Staatsangehörigen, die durch die de facto-Regierungen Südossetiens und Abchasiens daran gehindert wurden, in diese Regionen zurückzukehren, unter die Hoheitsgewalt Russlands fielen. Die diesbezügliche Einrede der Regierung ist zu verwerfen (16:1 Stimmen). [...]
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK
(297) Die Informationen in den verschiedenen Berichten internationaler Organisationen [...] stimmen überein hinsichtlich der Weigerung der Behörden Südossetiens und Abchasiens, die Rückkehr der vielen ethnischen Georgier in ihre jeweiligen Häuser zu gestatten [...]. Zudem bestritten die bei der Befragung aussagenden Mitglieder der Regierung Südossetiens diese Tatsachen nicht, sondern betonten, sie wären nicht in der Lage gewesen, die Rückkehr ethnischer Georgier in die Dörfer rund um Zchinwali zu gestatten, weil deren Sicherheit nicht gewährleistet werden hätte können.
(298) Der GH nimmt diese Argumente und die Verhandlungen zur Kenntnis, die in Genf stattfinden, um eine politische Lösung zu finden. Dennoch sind die de facto-Regierungen Südossetiens und Abchasiens und Russland, das »effektive Kontrolle« über diese Regionen ausübt, in der Zwischenzeit verpflichtet, Einwohnern georgischer Herkunft die Rückkehr zu ihren Häusern zu gestatten [...].
(299) Angesichts all dieser Faktoren kommt der GH zu dem Schluss, dass im Hinblick auf die Unmöglichkeit für georgische Staatsangehörige, in ihre Häuser zurückzukehren, eine gegen Art. 2 4. Prot. EMRK verstoßende Verwaltungspraxis bestand. Diese Situation dauerte zum Zeitpunkt der im vorliegenden Fall am 23.5.2018 durchgeführten Verhandlung noch an [...].
(300) Die sich auf die Nichterschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe beziehende Einrede der belangten Regierung ist [...] zu verwerfen (16:1 Stimmen).
(301) Der GH stellt daher fest, dass zumindest bis 23.5.2018 eine Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK bestand, für die Russland verantwortlich ist (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
Recht auf Bildung
(302) Die bf. Regierung brachte vor, russische Truppen und die separatistischen Behörden hätten öffentliche Schulen und Bibliotheken geplündert und zerstört sowie Schüler und Lehrer, die der georgischen Bevölkerungsgruppe angehörten, eingeschüchtert. [...]
(312) Da die fraglichen Ereignisse unter anderem nach Beendigung der Kampfhandlungen stattfanden, fielen die Opfer in die Hoheitsgewalt Russlands [...]. [...]
(314) Im vorliegenden Fall liegen dem GH nicht genügend Beweise vor, um zweifelsfrei feststellen zu können, dass es zu gegen Art. 2 1. Prot. EMRK verstoßenden Vorfällen gekommen ist. Daher hat keine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig).
Ermittlungspflicht
(315) Die bf. Regierung behauptete, Russland hätte keine Untersuchung der Ereignisse [...] durchgeführt, was eine Verletzung von Art. 2 EMRK begründen würde.
(328) Der GH hat hinsichtlich der systematischen [...] Tötung von Zivilisten nach Ende der Kampfhandlungen [...] eine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt (siehe oben Rn. 220). Folglich war Russland nach Art. 2 EMRK verpflichtet, eine effektive Untersuchung dieser Ereignisse durchzuführen.
(329) Zugegebenermaßen hat der GH festgestellt, dass die Ereignisse während der Phase aktiver Kampfhandlungen nicht in die Hoheitsgewalt Russlands fielen.
(330) Er weist allerdings auf seine Feststellungen in Güzelyurtlu u.a./CY und TR hin, wonach im Hinblick auf die Ermittlungspflicht nach Art. 2 EMRK eine im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung festgestellt werden könne, wenn der Konventionsstaat seinem innerstaatlichen Recht entsprechend eine Ermittlung oder ein Verfahren betreffend einen Todesfall eingeleitet hat, der sich außerhalb seiner Hoheitsgewalt ereignet hat, oder wenn ein Fall »besondere Merkmale« aufweist.
(331) Im vorliegenden Fall war Russland angesichts der Vorwürfe, es hätte während der Phase aktiver Kampfhandlungen Kriegsverbrechen begangen, nach den Regeln des humanitären Völkerrechts und des innerstaatlichen Rechts zur Untersuchung der fraglichen Ereignisse verpflichtet. Tatsächlich setzten die russischen Strafverfolgungsbehörden Schritte zur Untersuchung der Vorwürfe. Auch wenn diese Ereignisse in die Phase aktiver Kampfhandlungen fielen, stellte Russland außerdem kurz danach »effektive Kontrolle« über die fraglichen Gebiete her. Und schlussendlich war Georgien daran gehindert, eine angemessene und effektive Untersuchung der Vorwürfe durchzuführen, weil sich alle potentiell verdächtigen russischen Soldaten entweder in Russland oder in von diesem kontrollierten Gebieten aufhielten.
(332) Folglich stellt der GH angesichts der »besonderen Merkmale« des Falls die Hoheitsgewalt Russlands [...] hinsichtlich dieses Beschwerdepunkts fest und verwirft die diesbezügliche Einrede der belangten Regierung (einstimmig).
(333) [...] Verschiedene internationale Spruchkörper wie der Überwachungsausschuss des Europarats und der UN-Menschenrechtsausschuss [...] haben auf das Versäumnis Russlands hingewiesen, die behaupteten Verletzungen angemessen zu untersuchen [...]. [...]
(335) Die belangte Regierung anerkannte [...], dass in Bezug auf die Vorfälle, die sich während oder unmittelbar nach Ende des bewaffneten Konflikts in Georgien 2008 ereignet hatten, nur ein russischer Soldat verurteilt wurde.
(336) Angesichts der Schwere der während der Phase aktiver Kampfhandlungen angeblich begangenen Straftaten sowie des Ausmaßes und der Art der festgestellten Verletzungen während der Phase der Okkupation ist der GH folglich der Ansicht, dass die von den russischen Behörden durchgeführten Untersuchungen weder rasch noch effektiv oder unabhängig waren und somit nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK genügten.
(337) Daher hat eine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt stattgefunden (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
Effektive Rechtsbehelfe
(338) Die bf. Regierung rügte unter Art. 13 EMRK das Fehlen effektiver Rechtsbehelfe [...].
(340) Angesichts der obigen Schlussfolgerungen erachtet der GH eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK [...] nicht für geboten (einstimmig).
Anwendung von Art. 38 EMRK
(345) Die belangte Regierung weigerte sich, die »Kampfberichte« vorzulegen, da es sich dabei um Staatsgeheimnisse handeln würde [...]. Sie unterbreitete auch keine praktischen Vorschläge [...], die es ihr erlaubt hätten, ihrer Verpflichtung zur Kooperation nachzukommen und zugleich die Geheimhaltung bestimmter Informationen sicherzustellen.
(346) Die belangte Regierung hat es daher verabsäumt, ihrer Verpflichtung nach Art. 38 EMRK nachzukommen [...] (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Dedov).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Loizidou/TR (Verfahrenseinreden) v. 23.3.1995 = NL 1995, 83 = ÖJZ 1995, 629
Zypern/TR v. 10.5.2001 (GK)
Bankovic u.a./B u.a. v. 12.12.2001 (ZE der GK) = NL 2002, 48 = EuGRZ 2002, 133
Ilascu/MD und RUS v. 8.7.2004 (GK) = NL 2004, 174
Issa/TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 286
Al-Skeini/GB v. 7.7.2011 (GK) = NLMR 2011, 219
Georgien/RUS (II) v. 13.12.2011 (ZE)
Georgien/RUS (I) v. 3.7.2014 (GK) = NLMR 2014, 333
Hassan/GB v. 16.9.2014 (GK) = NLMR 2014, 389
Jaloud/NL v. 20.11.2014 = NLMR 2014, 467
Güzelyurtlu u.a./CY und TR v. 19.1.2019 (GK) = NLMR 2019, 13
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.1.2021, Bsw. 38263/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 20) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.