JudikaturAUSL EGMR

Bsw68273/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Dezember 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Gestur Jonsson und Ragnar Halldor Hall gg. Island, Urteil vom 22.12.2020, Bsw. 68273/14.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 7 EMRK, Art. 35 EMRK - Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren über Strafe wegen Missachtung des Gerichts.

Unzulässigkeit der Beschwerde (mehrstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im März 2012 wurden die beiden als Rechtsanwälte tätigen Bf. zu Verteidigern zweier Beschuldigter in einem Strafverfahren bestellt, das die Folgen des Zusammenbruchs der größten Banken Islands im Zuge der Finanzkrise von 2008 betraf. Am 19.12.2012 entschied der Richter des zuständigen BG Reykjavik, die Hauptverhandlung für den 11.4. bis 13.4.2013 anzuberaumen. Mehrere Anträge der Bf. und der Verteidiger anderer Angeklagter, die Verhandlung zu verschieben um mehr Zeit zur Prüfung der zum Teil erst kürzlich vorgelegten belastenden Beweise zu haben, wurden abgewiesen. Am 8.4.2013 informierten die Bf. das Gericht schriftlich darüber, dass sie sich aus Gewissensgründen nicht länger imstande sähen, ihre Mandanten zu verteidigen. Sie brachten unter anderem vor, sie hätten keinen ausreichenden Zugang zu wichtigen Dokumenten bekommen und die Staatsanwaltschaft hätte Telefongespräche zwischen ihnen und ihren Mandanten abgehört. Insgesamt wären deren Rechte derart gravierend verletzt worden, dass sie gezwungen wären, sich aus dem Verfahren zurückzuziehen. Ihre Mandanten wären mit dieser Vorgangsweise einverstanden. Der Richter des BG lehnte noch am selben Tag die Zurücklegung der Verteidigung ab. Er wies die Bf. darauf hin, dass sie ihr Mandat nicht abgeben könnten, weil dies eine Verzögerung des Verfahrens nach sich ziehen würde. Beide Bf. informierten den Richter unverzüglich darüber, dass sie diese Entscheidung als rechtswidrig erachteten und die Angeklagten nicht weiter vertreten würden.

An der Hauptverhandlung am 11.4.2013 nahmen die beiden Bf. nicht teil. Ihre früheren Mandanten erschienen in Begleitung eines anderen Rechtsanwalts. Der Richter entschied daraufhin, die Bf. aus ihren Pflichten zu entlassen, einen neuen Verteidiger zu bestellen und die Verhandlung für unbestimmte Zeit zu unterbrechen. Der Staatsanwaltschaft stellte noch in der Verhandlung einen Antrag, die Bf. wegen Missachtung des Gerichts zu bestrafen.

Mit dem Urteil in der Sache vom 12.12.2013, mit dem die Angeklagten verurteilt wurden, verhängte das BG gemäß § 223 Abs. 1 lit. a und lit. d der isländischen StPO Geldstrafen in der Höhe von umgerechnet je circa € 6.200,– über die beiden Bf. wegen absichtlicher Verzögerung des Verfahrens und Missachtung des Gerichts. (Anm: Gemäß § 223 Abs. 1 lit. a kann ein Staatsanwalt, Verteidiger oder Rechtsbeistand wegen absichtlicher Verursachung einer unangemessenen Verzögerung mit einer Geldbuße bestraft werden. Lit. d sieht eine Geldbuße für »andere Verletzungen der Würde des Gerichts durch ihr Verhalten während einer Verhandlung« vor.)

Dieses Urteil wurde am 28.5.2014 vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Dieser stellte unter anderem fest, dass die Bf. zwar vom BG zu einer gesonderten Verhandlung geladen hätten werden müssen, sah darin jedoch keinen Verstoß gegen ihre Verfahrensrechte, weil sie ihre Argumente in der mündlichen Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof vorbringen hätten können.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 6 Abs. 3 EMRK (Verteidigungsrechte) und von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(61) Die Bf. brachten vor, das BG Reykjavik hätte sie in Abwesenheit verurteilt, was ihrer Ansicht nach gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK verstieß. Sie behaupteten weiters, dass diese Verletzung ihrer Verfahrensrechte durch das BG nicht durch den Obersten Gerichtshof beseitigt [...] werden konnte.

Einleitende Bemerkungen

(73) [...] Es wurde nicht behauptet, dass es um die »zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen« der Bf. geht. Die einzige Frage ist, ob sich die Verfahren auf eine »strafrechtliche Anklage« iSv. Art. 6 EMRK [...] bezogen.

Allgemeine Grundsätze zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK

(75) [...] Die Beurteilung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt beruht auf drei Kriterien, die allgemein als »Engel-Kriterien« bekannt sind. Das erste Kriterium ist die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen Recht, das zweite die Art der Verfehlung und das dritte der Schweregrad der Sanktion, die der betroffenen Person droht. Im Zusammenhang mit dem letzten Kriterium hat der GH auch die Art der Sanktion berücksichtigt.

(76) Was die Autonomie des Begriffs »strafrechtlich« betrifft, ist daran zu erinnern, dass die Konvention den Staaten ohne Zweifel erlaubt, [...] eine Unterscheidung zwischen Strafrecht und Disziplinarrecht zu treffen [...]. Die EMRK stellt es den Staaten frei, eine Handlung oder Unterlassung, die nicht die gewöhnliche Ausübung eines von ihr geschützten Rechts darstellt, als Straftat zu bestimmen. [...] Eine solche Wahl, durch die Art. 6 und Art. 7 EMRK anwendbar werden, entzieht sich grundsätzlich der Überprüfung durch den GH. Die umgekehrte Wahl unterliegt hingegen strengeren Regeln. Wenn es den Vertragsstaaten freistünde, eine Verfehlung nicht strafrechtlich, sondern disziplinarrechtlich einzuordnen oder die Begehung einer »gemischten« Zuwiderhandlung auf disziplinarischer anstatt auf strafrechtlicher Ebene zu verfolgen, würde die Geltung [...] von Art. 6 und Art. 7 EMRK ihrem souveränen Willen unterworfen. Ein so großer Spielraum könnte zu Resultaten führen, die mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar sind. Der GH ist daher unter Art. 6 EMRK [...] zuständig sich zu vergewissern, dass das Disziplinarrecht nicht unangemessen in das Strafrecht eingreift.

(77) Im Hinblick auf das erste oben genannte Kriterium wird der GH daher untersuchen, ob die den Tatbestand definierende(n) Bestimmung(en) nach dem Rechtssystem des belangten Staates in das Strafrecht fallen. Bei der folgenden Prüfung der Art der Zuwiderhandlung und schließlich der Art und Schwere der drohenden Sanktion wird der GH Ziel und Zweck von Art. 6 EMRK, die gewöhnliche Bedeutung der in diesem Artikel verwendeten Begriffe und die Gesetze der Konventionsstaaten berücksichtigen.

(78) Das zweite und das dritte Kriterium sind alternativ und nicht unbedingt kumulativ anzuwenden. Dies schließt allerdings einen kumulativen Ansatz nicht aus, wenn die getrennte Analyse jedes der beiden Kriterien keine eindeutige Schlussfolgerung über das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage ermöglicht. [...]

(79) Die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Aspekts von Art. 6 EMRK auf Verfahren wegen Missachtung des Gerichts oder wegen eines Fehlverhaltens von Angehörigen der Rechtsberufe wurde vom GH in einer Reihe von Fällen geprüft [...].

(80) In manchen dieser Fälle verneinte der GH die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt, weil die Engel-Kriterien nicht erfüllt waren. Im Hinblick auf das erste Kriterium hat er beispielsweise der Tatsache Gewicht beigemessen, dass die verhängte Geldbuße in bestimmten Vorschriften der nationalen StPO oder des Gerichtsgesetzes und der ZPO vorgesehen war und nicht in einer Bestimmung des StGB [...] und dass die Sanktion nicht in das Strafregister eingetragen wurde. [...]

(81) Bei der Feststellung, dass das zweite Kriterium nicht erfüllt war, hat der GH seiner Feststellung besonderes Gewicht beigemessen, wonach die Zuwiderhandlung disziplinärer Natur war und in die unverzichtbare Befugnis eines Gerichts fiel, den angemessenen Ablauf seines eigenen Verfahrens sicherzustellen.

(82) Bei Überlegungen, wonach die Angelegenheit nicht aufgrund des dritten Kriteriums in den »strafrechtlichen« Bereich fiel, berücksichtigte der GH Faktoren wie die folgenden: die Unerheblichkeit des als Sanktion auferlegten Betrags [...]; eine im innerstaatlichen Recht vorgesehene Deckelung; dass die Sanktionen nicht im Strafregister eingetragen wurden und dass sie vom Gericht nur in eine Freiheitsentziehung umgewandelt werden konnten, wenn sie nicht bezahlt wurden; dass ein Rechtsmittel zur Verfügung stand [...].

(83) In anderen Fällen betreffend Verfahren wegen Missachtung des Gerichts bejahte der GH die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt. [...]

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

Das erste Kriterium: die rechtliche Einordnung im innerstaatlichen Recht

(84) Der GH nimmt die Feststellung des isländischen Obersten Gerichtshofs zur Kenntnis, wonach die über die Bf. verhängten Geldbußen angesichts des Fehlens eines ausdrücklichen Höchstbetrags in den geltenden Bestimmungen über die Missachtung des Gerichts und der Höhe der im vorliegenden Fall verhängten Bußen »ihrer Natur nach« eine Strafe waren. Aus seiner Begründung geht nicht hervor, dass er Zuwiderhandlungen der fraglichen Art nach innerstaatlichen Recht als strafrechtlich klassifizierte. [...]

[...] Die fragliche Verfehlung war in [...] der StPO und nicht etwa im StGB oder in anderen strafrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen definiert. Diese Vorschriften waren jenen in [...] der ZPO sehr ähnlich. [...] Die Prüfung eines solchen Verhaltens [...] erforderte generell nicht die Beteiligung eines Staatsanwalts. Eine Geldbuße war vom verhandelnden Gericht von Amts wegen zu verhängen [...].

In Anbetracht dessen wurde nicht gezeigt, dass die fragliche Verfehlung im innerstaatlichen Recht als »strafrechtlich« klassifiziert wurde.

(85) Allerdings dient das erste Engel-Kriterium, dem bloß relatives Gewicht zukommt, nur als Ausgangspunkt.

Das zweite Kriterium: die Art der Verfehlung

(86) Was das zweite Kriterium betrifft, dem größeres Gewicht zukommt, bemerkt der GH, dass die Verhängung der Strafen über die Bf. auf § 223 Abs. 1 lit. a und lit. d StPO [...] beruhte. Nach § 223 Abs. 2 konnte das in lit. d umschriebene Verhalten auch sanktioniert werden, wenn es von einem Angeklagten oder anderen vor Gericht aussagenden Personen gesetzt wurde. Das könnte dahingehend ausgelegt werden, dass Mitglieder der gesamten Bevölkerung umfasst sind, wenn sie an einem Gerichtsverfahren teilnehmen. Dies wurde in früheren vom GH geprüften Fällen als ein für die [...] strafrechtliche Natur einer Verfehlung [...] sprechender Faktor berücksichtigt.

(87) Allerdings ist festzuhalten, dass die über jeden der Bf. verhängten Geldbußen auf § 223 Abs. 1 StPO beruhten, der sich an eine bestimmte Kategorie von Personen mit einem speziellen Status richtete, nämlich jenem als »Staatsanwalt, Verteidiger oder Rechtsbeistand«. [...]

(88) [...] Die besondere Rolle von Anwälten [...] im Gerichtssystem bringt eine Reihe von Pflichten mit sich, insbesondere im Hinblick auf ihr Verhalten, das diskret, ehrlich und würdevoll sein muss.

(89) Beachtung finden muss weiters die Tatsache, dass Regeln, die einem Gericht die Sanktionierung von ordnungsstörendem Verhalten in einem Verfahren ermöglichen, ein gemeinsames Merkmal der Rechtssysteme der Konventionsstaaten sind. Derartige Regeln und Sanktionen leiten sich aus der unverzichtbaren Befugnis eines Gerichts ab, einen angemessenen und ordentlichen Ablauf seiner eigenen Verfahren zu gewährleisten. Von Gerichten aufgrund solcher Regeln angeordnete Maßnahmen ähneln eher der Ausübung der Disziplinargewalt als der Verhängung einer Strafe wegen der Begehung einer strafbaren Handlung. Es steht den Staaten aber natürlich frei, schwerwiegendere Beispiele eines ordnungswidrigen Verhaltens dem Bereich des Strafrechts zu unterwerfen.

(90) Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls erachtete der Oberste Gerichtshof die bewusste Weigerung der Bf., zur anberaumten Verhandlung zu erscheinen, als schwerwiegenden Verstoß gegen ihre Berufspflichten [...]. Die Tatsache, dass sie die rechtmäßigen Entscheidungen des Richters völlig missachteten, wodurch diesem keine andere Wahl blieb als sie ihrer Pflichten zu entbinden und an ihrer Stelle andere Verteidiger zu bestellen, verursachte eine erhebliche Verzögerung [...]. Der Oberste Gerichtshof verwies jedoch nicht spezifisch auf die Art des Fehlverhaltens der Bf. als Grund dafür, dieses als kriminell anzusehen.

(91) Vor diesem Hintergrund ist trotz der Schwere des Verstoßes gegen die Berufspflichten nicht klar, ob die Verfehlung der Bf. ihrer Natur nach als strafrechtlich oder als disziplinarrechtlich angesehen werden muss. Daher ist es notwendig, die Angelegenheit anhand des dritten Kriteriums zu prüfen, nämlich der Art und dem Schweregrad der Sanktion, die den Bf. drohte.

Das dritte Kriterium: Art und Schweregrad der Strafe

(92) Zwar verwies der Oberste Gerichtshof nicht ausdrücklich auf [die beiden ersten Engel-Kriterien], doch stellte er fest, dass die verhängten Geldbußen »ihrer Art nach eine Strafe« waren, womit er sich scheinbar auf das dritte Kriterium bezog. Wie bereits erwähnt, berücksichtigte der Oberste Gerichtshof, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, das Fehlen »einer besonderen Deckelung« der drohenden Buße [...] und die Höhe der über die Bf. im vorliegenden Fall verhängten Geldbußen, die circa € 6.200,– entsprach. Unter diesen Umständen sah er keine Gründe dafür, den Bf. im Hinblick auf ihre Gelegenheit, sich selbst zu verteidigen, weniger Schutz zu gewähren. Von der Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt ausgehend, prüfte der Oberste Gerichtshof die Vereinbarkeit mit dieser Bestimmung.

(93) Wenn es darum geht, den Anwendungsbereich des Begriffs »strafrechtlich« im autonomen Sinn des Art. 6 EMRK auszulegen, wozu der GH bei der Prüfung des zweiten und des dritten Engel-Kriteriums aufgerufen ist, wird der GH angesichts seiner Überlegungen in Rn. 76 und 77 die Angelegenheit allerdings selbst bewerten müssen. Gleichwohl hindert die Konventionsstaaten nichts daran, eine weitere Auslegung vorzunehmen, die einen stärkeren Schutz der fraglichen Rechte und Freiheiten in ihren innerstaatlichen Rechtssystemen mit sich bringt.

(94) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH insbesondere, dass das den Bf. vorgeworfene Fehlverhalten – anders als in jenen früheren Fällen, in denen Art. 6 EMRK auf Verfahren wegen Missachtung des Gerichts für anwendbar erklärt wurde [...] – nicht mit Haft geahndet werden konnte.

(95) Zudem konnten die in Rede stehenden Geldbußen, anders als in Ravnsborg/S und Putz/A im Fall ihrer Nichtzahlung nicht in eine Freiheitsentziehung umgewandelt werden. In den beiden genannten Fällen war das Bestehen einer solchen Möglichkeit [...] eine wichtige Überlegung, auch wenn sie unter den Umständen [dieser Fälle] nicht ausreichend war, um die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt nach sich zu ziehen. [...] Außerdem wurden die Geldbußen im Fall der Bf. nicht in ihr Strafregister eingetragen.

(96) Die nicht unerhebliche Höhe der verhängten Geldbußen und das Fehlen einer gesetzlichen Begrenzung reichen nach Ansicht des GH nicht aus, um die Schwere und die Natur der Sanktion für »strafrechtlich« im autonomen Sinn von Art. 6 EMRK zu halten.

(97) In Anbetracht dessen stellt der GH fest, dass die Art und der Schweregrad der Sanktion die Verfehlung nicht in den strafrechtlichen Bereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK bringen.

Schlussfolgerung

(98) Angesichts der obigen Überlegungen stellt der GH fest, dass die fraglichen Verfahren keine Entscheidung über eine »strafrechtliche Anklage« iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK betrafen und diese Bestimmung daher in ihrem strafrechtlichen Aspekt nicht auf diese Verfahren anwendbar war. Folglich ist die Beschwerde der Bf. ratione materiae unvereinbar mit der Konvention. Der GH erinnert daran, dass er gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK Beschwerden, die er für unzulässig hält, »in jedem Stadium des Verfahrens« zurückweisen kann. Daher kann die GK unter Beachtung von Art. 55 VerfO eine Entscheidung nachprüfen, mit der eine Beschwerde für zulässig erklärt wurde. Der GH stellt daher fest, dass dieser Teil der Rechtssache [...] für unzulässig zu erklären ist (mehrstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Spano und Richterin Turkovic; abweichendes gemeinsames Sondervotum der Richter Sicilianos, Ravarani und Serghides).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK

(99) Die Bf. brachten vor, ihre Verurteilung wegen Handlungen, die ausgeführt wurden, als sie nicht länger Verteidiger waren, und die Unvorhersehbarkeit der Höhe der über sie verhängten Geldbuße hätten eine Verletzung von Art. 7 EMRK mit sich gebracht.

(112) Der GH hat bereits festgestellt, dass die fraglichen Verfahren sich nicht auf die Entscheidung über eine »strafrechtliche Anklage« iSv. Art. 6 EMRK bezogen und diese Bestimmung daher in ihrem strafrechtlichen Aspekt nicht anwendbar war. Unter diesen Umständen und aus Gründen der Konsistenz der Auslegung der Konvention als Ganzes ist der GH nicht der Ansicht, dass die umstrittenen Geldbußen als »Strafe« iSv. Art. 7 EMRK anzusehen sind. Diese Bestimmung ist daher nicht anwendbar.

(113) Vor diesem Hintergrund und angesichts der Begründung in Rn. 98 findet der GH, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls ratione materiae unvereinbar mit den Bestimmungen der Konvention ist. Auch dieser Beschwerdepunkt ist daher gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK für unzulässig zu erklären (mehrstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Engel u.a./NL v. 8.6.1976 = EuGRZ 1976, 221

Weber/CH v. 22.5.1990 = EuGRZ 1990, 265 = ÖJZ 1990, 713

Ravnsborg/S v. 23.3.1994 = NL 1994, 86

Putz/A v. 22.2.1996 = NL 1996, 46 = ÖJZ 1996, 434

T./A v. 14.11.2000 = NL 2000, 226

Kyprianou/CY v. 27.1.2004

Ramos Nunes Carvalho e Sá/P v. 6.11.2018 (GK) = NLMR 2018, 505

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.12.2020, Bsw. 68273/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 479) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise