Bsw20958/14 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Ukraine gg. Russland (Krim), Zulässigkeitsentscheidung vom 16.12.2020, Bsw. 20958/14.
Spruch
Art. 1 EMRK, Art. 35 EMRK - Hoheitsgewalt und konventionswidrige Praxis Russlands auf der Krim.
Unzulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die gegenständliche Beschwerde der Ukraine betrifft eine angebliche Praxis von Menschenrechtsverletzungen durch Russland auf der Halbinsel Krim ab dem 27.2.2014. Die Ukraine gibt an, dass Russland ab diesem Datum durch seine Militärpräsenz und Unterstützung lokaler Kräfte wirksame Kontrolle und damit extraterritoriale Hoheitsgewalt iSd. Art. 1 EMRK über die ukrainische Autonome Republik der Krim ausgeübt hätte. Der Oberste Rat der Krim als gesetzgebende Körperschaft und ihr Ministerrat seien gestürmt und ihre Behörden gewaltsam durch russische Beamte besetzt worden, während die ukrainischen Streitkräfte von russischen Truppen und paramilitärischen Kräften an einem Eingreifen gehindert worden wären. Russland hätte auch den Zugang vom Festland zur Krim über den Land-, See- und Luftweg kontrolliert.
Am 16.3.2014 wurde ein Referendum über den Status der Krim abgehalten, infolgedessen Letztere mit Vertrag vom 18.3.2014 (Anm: Vertrag zwischen der Russischen Föderation und der Republik Krim über den Beitritt der Republik Krim zur Russischen Föderation und die Bildung neuer Föderationssubjekte vom 18.3.2014, der am 21.3.2014 von der russischen Staatsduma ratifiziert wurde.) als Föderationssubjekt in die Russische Föderation aufgenommen wurde.
Russland weist darauf hin, dass es erst ab diesem 18.3.2014 Hoheitsgewalt über die Krim ausgeübt hätte. Davor hätten sich russische Streitkräfte (nämlich die russische Schwarzmeerflotte) dort auf der Basis von bilateralen Verträgen zwischen der Ukraine und Russland aufgehalten.
Am 13.3.2014 ordnete der EGMR eine vorläufige Maßnahme gemäß Art. 39 VerfO an, mit dem er beide Vertragsparteien aufforderte, es zu unterlassen (militärische) Maßnahmen zu setzen, welche zu Verletzungen der Konvention und insbesondere ihrer Art. 2 und 3 führen könnten.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der bf. Staat rügte, dass der belangte Staat für eine Verwaltungspraxis verantwortlich wäre, die eine ganze Reihe von Rechten der Konvention und ihrer Protokolle verletzt hätte, wie insbesondere die Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen Behandlung und Folter), Art. 5 EMRK (hier: Rechtmäßigkeit der Haft), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit), Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit), Art. 11 EMRK (hier: Versammlungsfreiheit), Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung) und Art. 2 4. Prot. EMRK (Freizügigkeit).
Umfang des Falles
(238) Der GH hält fest, dass der vorliegende Fall die konkreten Behauptungen der bf. Regierung betrifft, wonach der belangte Staat zwischen dem 27.2.2014 und dem 26.8.2015 [...] auf der Krim oder im Hinblick auf die Krim eine Verwaltungspraxis eingerichtet hätte, welche gegen die Konvention verstoßen hätte [...]. Indem die bf. Regierung den GH ersuchte, keine Entscheidung über irgendeinen individuellen Fall zur Stützung des behaupteten »Musters von Verletzungen« zu treffen, schränkte sie den Umfang ihrer Beschwerde vor dem GH auf die behauptete Praxis von Menschenrechtsverletzungen als solche ein. [...] Angesichts des zeitlichen Umfangs der Beschwerde [...] befindet der GH, dass es nicht länger notwendig ist, die vorläufige Maßnahme nach Art. 39 VerfO vom 13.3.2014 [...] aufrechtzuerhalten (mehrheitlich).
Beweisstandard zum Bestehen einer »Verwaltungspraxis«
(261) Die Bedeutung des Begriffs der »Verwaltungspraxis« [, welche die »Wiederholung von Handlungen« und die »offizielle Duldung« umfasst,] wurde von der früheren EKMR [...] etabliert und erläutert und wurde jüngst vom GH im Fall Georgien/RUS (I) (Rn. 122-126) wiederholt [...].
(262) Im Zusammenhang mit der Regel der Erschöpfung des Instanzenzugs wurde die Beweisschwelle, die in Staatenbeschwerdefällen im Zulässigkeitsstadium im Hinblick auf das angebliche Bestehen einer Verwaltungspraxis erreicht werden muss, von der EKMR [...] festgelegt und vom GH in Georgien/RUS (I) (ZE), Rn. 41, und Georgien/RUS (II) (ZE), Rn. 86, beibehalten:
» ... im Einklang mit der Rechtsprechung der EKMR zur Zulässigkeit ist es nicht ausreichend, dass das Bestehen einer Verwaltungspraxis lediglich behauptet wird. Um die Anwendung der Regel der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs auszuschließen, ist es auch notwendig, dass das Bestehen der angeblichen Praxis durch überzeugende Beweise belegt wird ...«
»[...] ›überzeugende Beweise‹ [...] können nicht einen vollständigen Beweis bedeuten. Die Frage, ob das Bestehen einer Verwaltungspraxis erwiesen ist oder nicht, kann nur nach einer Prüfung in der Sache entschieden werden. Im Stadium der Zulässigkeit muss ein Prima-facie-Beweis als erforderlich aber auch ausreichend angesehen werden [...]. Es liegt ein Prima-facie-Beweis für eine angebliche Verwaltungspraxis vor, wenn die Behauptungen in Bezug auf Einzelfälle insgesamt gesehen ausreichend überzeugend sind [...].«
(263) Der GH stellt keinen Grund fest, um es im vorliegenden Fall anders zu sehen. Zudem befindet er, dass derselbe Beweisstandard [...] im Zulässigkeitsstadium des Verfahrens im Hinblick auf die inhaltlichen Behauptungen einer Verwaltungspraxis von Menschenrechtsverletzungen durch die bf. Regierung erfüllt sein muss. Nach Ansicht des GH verlangt das enge Zusammenspiel zwischen den beiden Zulässigkeitsfragen [...] der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs und der inhaltlichen Zulässigkeit der Rüge einer »Verwaltungspraxis« [...] die Anwendung eines einheitlichen Standards [...]. Dieser Standard ist auf beide Bestandteile der gerügten »Verwaltungspraxis« – die »Wiederholung von Handlungen« und die notwendige »offizielle Duldung« – anzuwenden. [...]
Angebliches Fehlen einer echten Beschwerde
(267) Die belangte Regierung wandte ein, das Ziel der bf. Regierung würde in Wahrheit nicht darin bestehen, Fragen betreffend den Menschenrechtsschutz unter der Konvention aufzuwerfen. Vielmehr wäre die Beschwerde erhoben worden, um eine Entscheidung über politische Fragen und Angelegenheiten des allgemeinen Völkerrechts zu erlangen wie die Rechtmäßigkeit des auf der Krim am 16.3.2014 abgehaltenen Referendums und die »daraus resultierende Wiedervereinigung«. Das würde jedoch außerhalb der Zuständigkeit des GH liegen. [...]
(271) Bei der Prüfung, ob es der Beschwerde im vorliegenden Fall an den »Voraussetzungen für eine echte Beschwerde« fehlt, wird der GH die Natur der von der bf. Regierung vor ihm aufgeworfenen Fragen berücksichtigen. Angesichts des oben definierten Umfangs der Rechtssache befindet der GH, dass diese Fragen in der Tat rechtlicher Natur sind, da er ersucht wird zu entscheiden, ob der belangte Staat auf der Krim seine Verpflichtungen unter Art. 1 EMRK erfüllte, allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention (und deren Protokollen) festgelegten Rechte und Freiheiten zu sichern, sofern eine solche Hoheitsgewalt festgestellt wurde. Diese Vorfrage, ob der belangte Staat zu irgendeinem relevanten Zeitpunkt iSd. Art. 1 EMRK Hoheitsgewalt über die Krim ausübte, ist eng mit dem oben festgelegten Ziel des Falles verbunden und daher ebenfalls rechtlicher Natur.
(272) Der GH ist sich des Umstands bewusst, dass diese Fragen unvermeidbarer Weise politische Aspekte aufweisen. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um sie ihres rechtlichen Charakters zu berauben. [...]
(273) Zudem kommen der politischen Natur von Motiven, welche die bf. Regierung zur Erhebung der Beschwerde inspiriert haben mögen, sowie die politischen Auswirkungen, welche die Entscheidung des GH haben könnte, keine Bedeutung bei der Feststellung seiner Zuständigkeit zur Entscheidung der ihm vorgelegten Fragen zu. [...]
(275) Dementsprechend befindet der GH, dass es keine Grundlage dafür gibt, die Beschwerde zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für eine echte Beschwerde fehlen (und folglich) ein Missbrauch des Beschwerderechts vorliegt. Er weist die diesbezügliche Einrede der Regierung daher ab (mehrheitlich).
Hoheitsgewalt des belangten Staates im Hinblick auf die gerügten Ereignisse
(303) Die allgemeinen Grundsätze zur Hoheitsgewalt unter Art. 1 EMRK wurden im Fall Al-Skeini u.a./GB, Rn. 130-139, zusammengefasst [...].
Zeitraum zwischen 27.2. und 18.3.2014
(314) Da die Frage der Hoheitsgewalt im Hinblick auf die betreffende Periode zwischen den Parteien strittig ist, muss unter Heranziehung des entsprechenden Beweismaßstabs festgestellt werden, ob gezeigt wurde, dass außergewöhnliche Umstände gegeben waren, welche während dieser Zeit die Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt durch den belangten Staat auf einem Teil des Staatsgebietes des bf. Staates begründen konnten. [...]
(315) Der GH hält fest, dass der Rahmen für die Präsenz und Operationen der russischen Streitkräfte (Schwarzmeerflotte) auf der Krim durch eine Reihe von bilateralen Übereinkommen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation aus 1997 und 2010 festgelegt war. Erst am 2.4.2014 erklärte die russische Föderation diese Übereinkommen für beendet. Demgemäß ist zwischen den Parteien nicht strittig, dass die Übereinkommen zur betreffenden Zeit gültig waren und sie banden.
(316) Wie im Übereinkommen über die Rahmenbedingungen der Aufteilung der Schwarzmeerflotte konkretisiert wird, durfte die Gesamtzahl des Personals der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim 25.000 Soldaten nicht übersteigen [...]. Gemäß Art. 4 Abs. 2 des Übereinkommens über den Status und die Bedingungen der Präsenz der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation auf dem Staatsgebiet der Ukraine wurde vom belangten Staat verlangt, den bf. Staat über die Gesamtzahl an Personal und Waffen der russischen Schwarzmeerflotte zu informieren, die sich auf der Krim im Einklang mit jener Liste befanden, auf welche die Parteien sich vor dem 1.1. auf einer jährlichen Basis einigten. Dieses Übereinkommen sah ferner vor, dass die militärischen Formationen der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim an ihrer jeweiligen Einsatzstelle tätig waren (Art. 6 Abs. 1) und dass sie lediglich an ihren Standorten Schutzmaßnahmen durchführen konnten – wenn sie sich fortbewegten, war dies nur in Kooperation mit den zuständigen ukrainischen Behörden möglich (Art. 8 Abs. 4). Zudem war der Transport von unter anderem Soldaten und Personal, Waffen, militärischer Ausrüstung und sonstigem Material sowie Technik [...] im Interesse der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation im Einklang mit den geltenden ukrainischen Gesetzen unter der Grenz-, Zoll- und sonstigen staatlichen Kontrolle durchzuführen (Art. 15 Abs. 1). Letztlich erforderte jede Fortbewegung von russischem militärischen Personal außerhalb bezeichneter Einsatzorte eine gewisse Art von Zustimmung (Art. 15 Abs. 5) durch die zuständigen ukrainischen Behörden, sei es das ukrainische Außen- oder Verteidigungsministerium.
Stärke der Militärpräsenz des belangten Staates auf der Krim
(317) Gemäß der diplomatischen Note vom 30.12.2013, die vom belangten Staat im Einklang mit den Übereinkommen an die ukrainischen Behörden gerichtet wurde, war die maximale Anzahl von Personal der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim für 2014 mit 10.936 bestimmt. Die Note konkretisierte auch die militärische Ausrüstung der Flotte für dieses Jahr. [...]
(318) Die bf. Regierung brachte vor, dass die Anzahl der russischen Soldaten auf der Krim irgendwann Ende Jänner 2014 zu steigen begonnen habe. In diesem Zusammenhang legte sie eine detaillierte und chronologische Skizze der Art und des Umfangs der Verstärkung der Präsenz vor, welche von der belangten Regierung nicht bestritten wurde. Gemäß der bf. Regierung [...] erreichte die Zahl der russischen Soldaten [...] bis März 2014 22.000. [...] Dies wurde von einem gleichzeitigen Transfer von militärischer Ausrüstung begleitet. [...] Die bf. Regierung stützte sich dabei auf Beweise, die von der belangten Regierung nicht bestritten wurden.
(319) Die belangte Regierung [...] lieferte keine Erklärung zur rechtlichen Grundlage für die Erhöhung. [...]
(321) [...] Trotz des Umstands, dass die Truppenzahl die allgemein in den Übereinkommen festgelegten Grenzen nicht überschritt, befindet der GH, dass die oben angegebenen Zahlen zeigen, dass die Anzahl der russischen Soldaten auf der Halbinsel sich innerhalb kurzer Zeit, nämlich zwischen Ende Jänner und Mitte März 2014, fast verdoppelte. [...] Die belangte Regierung brachte keine Beweise vor, dass die Präsenz russischer Soldaten auf der Krim zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Inkrafttreten der Übereinkommen dasselbe Niveau erreicht hat wie im vorliegenden Fall.
(322) Ein weiterer relevanter Aspekt der verstärkten Militärpräsenz der Russischen Föderation auf der Krim zur maßgeblichen Zeit betrifft die militärischen Kapazitäten der russischen Streitkräfte. Die bf. Regierung behauptete, dass es sich bei den russischen Streitkräften, die auf der Krim stationiert waren, um »Elitetruppen« gehandelt hätte, die »für die effektive und rasche Besetzung und Sicherung eines Gebiets ausgerüstet waren«, und dass sie besser bewaffnet gewesen wären als die ukrainischen Truppen. [...] Die belangte Regierung [...] bestritt diese Behauptungen nicht, die eine technische, taktische, militärische und qualitative Überlegenheit der russischen Streitkräfte nahelegen.
(323) Was die Gründe für die genannte (verstärkte) russische Militärpräsenz auf der Krim zur betreffenden Zeit angeht, brachte die belangte Regierung vor, dass das Ziel gewesen wäre, »die Bevölkerung der Krim dabei zu unterstützen, sich den Angriffen durch die ukrainischen Streitkräfte zu widersetzen», »zu gewährleisten, dass die Bevölkerung der Krim sicher und ohne Angst vor Repressionen durch die Radikalen eine demokratische Entscheidung treffen konnte«, »die reguläre Äußerung des Willens der auf der Krim lebenden Individuen sicherzustellen« und/oder »den Schutz der russischen Streitkräfte und militärischen Objekte zu garantieren«.
(324) Der GH hält zunächst fest, dass die angeblichen, von der belangten Regierung vorgebrachten Gründe für die Rechtfertigung der Verstärkung der russischen Militärpräsenz auf der Krim nicht durch irgendwelche überzeugenden Beweise untermauert wurden. Insbesondere verwies die belangte Regierung nicht auf Beweise oder eine objektive Beurteilung [...], wonach zur betreffenden Zeit irgendeine – oder gar eine reale – Bedrohung für die auf der Krim stationierten russischen Streitkräfte bestanden hätte. Andererseits und wichtiger noch berücksichtigt der GH besonders die unbestrittene Äußerung von Präsident Putin bei einem Treffen mit Leitern von Sicherheitsbehörden in der Nacht vom 22. zum 23.2.2014, wonach er die Entscheidung getroffen hätte, »damit zu beginnen, an der Rückkehr der Krim zur Russischen Föderation zu arbeiten« [...].
(325) [...] Unter Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens [über den Status und die Bedingungen der Präsenz der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation auf dem Staatsgebiet der Ukraine] mussten die Operationen der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim »die Souveränität der Ukraine achten, deren Gesetze einhalten und es vermeiden, in deren innere Angelegenheiten einzugreifen«. [...]
(326) Selbst unter der Annahme, dass der Einsatz und die Fortbewegungen der russischen Streitkräfte in der Ukrainischen Autonomen Republik Krim zur betreffenden Zeit als »schützend[e]« Maßnahmen iSv. Art. 8 Abs. 4 des Übereinkommens verstanden werden können, hat der GH bereits festgestellt, dass es keinen konkreten Beweis dafür gab, dass zur betreffenden Zeit irgendeine reale Bedrohung für die russischen Truppen auf der Krim bestanden hätte. Zudem hätte jede dieser Schutzmaßnahmen »in Kooperation mit den zuständigen ukrainischen Behörden« angewendet werden müssen. Das verfügbare Material erlaubt es dem GH nicht zum Schluss zu kommen, dass die Anforderung der Kooperation diesbezüglich im vorliegenden Fall erfüllt wurde. Zudem verstärken die diplomatischen Noten der ukrainischen Regierung aus dieser Zeit, die gegen die fraglichen Einsätze und Fortbewegungen protestierten, die Schlussfolgerung betreffend das Fehlen einer solchen Kooperation.
(327) Was die anderen vom belangten Staat angeführten Gründe angeht, befindet der GH, dass [...] aus den Übereinkommen nicht hervorgeht, dass es den russischen Militäreinheiten erlaubt war, auf der Krim irgendwelche Überwachungsfunktionen oder Aufgaben der öffentlichen Ordnung wahrzunehmen.
Verhalten der russischen Streitkräfte auf der Krim
(328) Der GH hält weiters fest, dass die bf. Regierung – entgegen dem Vorbringen der belangten Regierung, wonach die zu der Zeit auf der Krim eingesetzten russischen Soldaten passive Zuschauer gewesen wären –, sehr detaillierte, chronologische und konkrete Informationen sowie Videomaterial vorlegte, welche die aktive Beteiligung russischer Militärangehöriger an der Immobilisierung von ukrainischen Kräften zeigen. Diese Behauptungen betrafen spezielle Handlungen, die von den russischen Streitkräften gesetzt wurden, um die Kontrolle von Einreise- und Ausreisepunkten für die Krim sicherzustellen; Operationen, um die ukrainischen Streitkräfte zu blockieren oder funktionsunfähig zu machen (zu entwaffnen); sowie die Inhaftierung von ukrainischen Soldaten. Die Schilderungen der bf. Regierung blieben während des gesamten Verfahrens vor dem GH schlüssig und umfassten kohärente Informationen zur Art, zum Ort und zur Zeit der angeblichen Ereignisse sowie zu den beteiligten militärischen Formationen des belangten Staates. [...] Die belangte Regierung brachte keine Beweise vor, um die Schilderungen der bf. Regierung zu widerlegen [...]. Auch brachte sie keine überzeugenden Argumente vor, welche die Glaubwürdigkeit der Version der bf. Regierung von den Ereignissen sowie die zu deren Unterstützung vorgelegten Beweise in Zweifel ziehen konnten.
(329) Ähnliche Überlegungen finden auf die Behauptungen Anwendung, wonach russische Militärangehörige an den Ereignissen vom 27.2.2014 in den Verwaltungsgebäuden des Obersten Rats und des Ministerrats der Krim aktiv beteiligt waren. Diese Ereignisse führten zur Übertragung der Macht an die neuen Lokalbehörden, welche in der Folge das »Referendum« organisierten, die Unabhängigkeit der Krim erklärten und aktive Schritte zu deren Eingliederung in die Russische Föderation setzten. [...]
(330) Dazu kommen weitere Elemente, welche die Glaubwürdigkeit der Schilderungen der bf. Regierung verstärken.
(331) Erstens [...] sagte Präsident Putin zu den Leitern von Sicherheitsbehörden der Russischen Föderation in der Nacht vom 22. zum 23.2.2014, dass er entschieden hätte, »damit zu beginnen, an der Rückkehr der Krim zur Russischen Föderation zu arbeiten«. Zweitens bestätigte die belangte Regierung, dass die russischen Truppen auf der Krim »zwischen dem 1. und dem 17.3.2014 bereitstanden, um der Bevölkerung der Krim beizustehen, sich Angriffen durch die ukrainischen Streitkräfte zu widersetzen«. Drittens [...] ermächtigte die Resolution Nr. 48-SF vom 1.3.2014 den Präsidenten der Russischen Föderation, Streitkräfte auf dem Staatsgebiet der Ukraine einzusetzen »bis die soziale und politische Situation sich im Land normalisiert«. Viertens [...] behauptete der Verteidigungsminister der Russischen Föderation, Herr Sergey Shoigu, in der Dokumentation Krim: Der Weg nach Hause, dass die russischen Spezialeinheiten am 27.2.2014 das Gebäude des Obersten Rats in Simferopol eingenommen hätten.
(332) Schließlich erachtet der GH die Erklärung für relevant, welche Präsident Putin in seinem Interview vom 17.4.2014 im [...] Fernsehen abgab [...].
(333) [...] Der GH misst [dessen] ausdrücklichem Eingeständnis besonderes Gewicht bei, wonach die Russische Föderation »die Militäreinheiten der ukrainischen Armee und die Exekutivorgane entwaffnete« und »die russischen Militärangehörigen die Selbstverteidigungsstreitkräfte auf der Krim unterstützten«.
(335) Angesichts all des Vorgesagten gibt es ausreichende Belege für den GH um zum Schluss zu kommen, dass der belangte Staat während der betreffenden Periode wirksame Kontrolle über die Krim ausübte. Um das Bestehen von »Hoheitsgewalt« gemäß Art. 1 EMRK festzustellen, ist es daher nicht notwendig darüber zu entscheiden, ob der belangte Staat detaillierte Kontrolle über die Politik und Handlungen der lokalen Verwaltung ausübte.
(337) Folglich weist der GH die Einrede der Regierung ratione loci ab (mehrheitlich).
Zeitraum nach dem 18.3.2014
(338) Der GH hält fest, dass die Parteien dahingehend übereinstimmen, dass der belangte Staat ab dem 18.3.2014 Hoheitsgewalt über die Krim ausübte. [...] Ihre Positionen unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die rechtliche Grundlage für diese Hoheitsgewalt. Anders als die bf. Regierung, die behauptet, diese Hoheitsgewalt gründe auf der »effektiven Kontrolle«, ist die belangte Regierung der Ansicht, dass die Entscheidung dieser Frage »nicht angemessen wäre«, weil sie »den GH zu Fragen betreffend die Souveränität zwischen Staaten führen würde, die außerhalb seiner Zuständigkeit liegen«.
(339) Der GH erinnert daran, dass er nicht dazu aufgerufen ist zu entscheiden, ob die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation nach russischem Recht aus Sicht des Völkerrechts rechtmäßig war [...].
(340) Er wiederholt zudem, dass die Hoheitsgewalt des belangten Staates nach Art. 1 EMRK eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass der GH seine Zuständigkeit unter Art. 19 der Konvention ausübt. [...]
(341) In diesem Zusammenhang ist der GH autorisiert, die Natur der Hoheitsgewalt zu bestimmen, die von einem belangten Staat über ein bestimmtes Gebiet ausgeübt wird, falls und soweit dies für die Ausübung seiner Zuständigkeit nach Art. 19 EMRK notwendig ist [...].
(342) [...] Der GH erachtet es betreffend drei konkrete Rügen, die von der bf. Regierung vorgebracht wurden, für notwendig, die Natur oder rechtliche Grundlage der Hoheitsgewalt des belangten Staates im Hinblick auf die Krim zu prüfen. Das betrifft die Rügen, die unter Art. 6 EMRK, Art. 2 4. Prot. EMRK sowie Art. 14 EMRK iVm. Art. 2 4. Prot. EMRK erhoben wurden. Die Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK ist als eine Verletzung des Erfordernisses eines »auf Gesetz beruhenden Gerichts« formuliert, und zwar aufgrund der »unrechtmäßigen Umqualifizierung von ukrainischen Urteilen nach russischem Recht [...]«. Bei der Beurteilung dieser Beschwerde [...] in der Sache hätte der GH im Einklang mit seiner gefestigten Rechtsprechung die Bestimmungen des »innerstaatlichen« Rechts zu prüfen. Es wäre daher notwendig zu bestimmen, welches das anwendbare »innerstaatliche« Recht ist. Es wäre für den GH unmöglich, diese Beschwerde zu untersuchen, ohne zuerst zu bestimmen, ob das relevante »innerstaatliche Recht«, mit Bezug auf das diese Beschwerde untersucht werden muss, jenes der Ukraine oder jenes der Russischen Föderation ist.
(343) Die Beschwerde unter Art. 2 4. Prot. EMRK betrifft die behaupteten Beschränkungen der Freizügigkeit zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland, die sich aus der De-facto-Umwandlung der administrativen Grenzlinie in eine Staatsgrenze (zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine) durch den belangten Staat ergaben. Art. 2 Abs. 1 4. Prot. EMRK sieht vor, dass »jede Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, [...] das Recht [hat], sich dort frei zu bewegen und ihren Wohnsitz frei zu wählen«. Diese Bestimmung wäre daher nicht anwendbar, wenn die zur betreffenden Zeit von der Russischen Föderation über die Krim ausgeübte Hoheitsgewalt die Form von territorialer Jurisdiktion hätte statt jene von »effektiver Kontrolle über ein Gebiet«.
(346) Der GH hält in diesem Zusammenhang fest, dass der bf. Staat die Konvention am 11.9.1997 im Hinblick auf sein Staatsgebiet innerhalb der zur damaligen Zeit international anerkannten Grenzen ratifizierte, einschließlich der Krim als einem »untrennbaren Bestandteil der Ukraine« (siehe insbesondere Art. 2 und Art. 134 der ukrainischen Verfassung). [...] Vom bf. Staat wurden keine Änderungen des Hoheitsgebietes der Ukraine akzeptiert oder mitgeteilt. Daher muss der GH annehmen, dass die Hoheitsgewalt des bf. Staates sich auf die Gesamtheit seines Gebietes erstreckt, einschließlich der Krim.
(347) Demgegenüber hält der GH fest, dass weder der belangte Staat noch irgendein anderer Staat behauptete oder akzeptierte, dass die Krim Teil des Staatsgebiets [...] [des Erstgenannten] war, als er die Konvention am 5.5.1998 im Hinblick auf sein Gebiet – ebenso innerhalb der zur betreffenden Zeit international anerkannten Grenzen – ratifizierte.
(348) [...] Es obliegt dem GH nicht zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der Beitrittsvertrag aus [...] März 2014 das Hoheitsgebiet des belangten oder des bf. Staates völkerrechtlich änderte. [...]
(349) Folglich wird der GH für die Zwecke dieser Zulässigkeitsentscheidung auf der Grundlage der Annahme fortfahren, dass die Hoheitsgewalt des belangten Staates über die Krim die Form oder Natur von »wirksamer Kontrolle über ein Gebiet« hat statt jene territorialer Hoheitsgewalt.
Ergebnis
(352) Der GH befindet, dass die behaupteten Opfer der von der bf. Regierung gerügten Verwaltungspraxis in die »Hoheitsgewalt« des belangten Staates fallen und dass er daher zuständig ist, die Beschwerde zu untersuchen (mehrheitlich). [...]
Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und angebliches Bestehen einer Verwaltungspraxis
(363) Der GH erinnert daran, dass die Regel der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...] auf Staatenbeschwerden (Art. 33 EMRK) in gleicher Weise Anwendung findet wie auf Individualbeschwerden (Art. 34 EMRK), wenn der bf. Staat lediglich eine Verletzung bzw. Verletzungen rügt, die angeblich von »Individuen« erlitten wurden, deren Position er einfach übernommen hat. Auf der anderen Seite findet die Regel grundsätzlich keine Anwendung, wenn der bf. Staat eine Praxis als solche rügt, um ihre Fortdauer oder Wiederholung zu vermeiden, aber den GH nicht darum ersucht, eine Entscheidung zu jedem der Fälle zu treffen, die als Beweis oder Illustration dieser Praxis vorgebracht werden. [...]
(364) Der GH hat bereits festgehalten, dass die bf. Regierung den Fall auf das angebliche Bestehen einer Verwaltungspraxis [...] beschränkte. Sie äußerte eindeutig und unmissverständlich, dass ihr Ziel nicht war, »individuelle Feststellungen von Verletzungen anzustreben, [...] sondern die Gerichtsbarkeit des GH in Anspruch zu nehmen, um die Existenz des behaupteten Musters von Verletzungen festzustellen, diese zu beenden und deren Wiederholung zu verhindern«. Folglich fällt der vorliegende Fall unter die zweitgenannte Kategorie von Staatenbeschwerden [...].
(365) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass die Regel der Erschöpfung des Instanzenzugs unter den Umständen des vorliegenden Falles keine Anwendung findet. Er weist die [diesbezügliche] Einrede der belangten Regierung [...] daher ab (mehrheitlich).
(367) Die einzige Frage, die somit im vorliegenden Fall behandelt werden muss, ist, ob es ausreichende Beweise dafür gibt, um mit Blick auf den bei Staatenbeschwerden im Zulässigkeitsstadium anwendbaren Beweisstandard (Prima-facie-Beweis) festzustellen, dass im Hinblick auf jede der von der bf. Regierung erhobenen Beschwerden eine Verwaltungspraxis bestand. Solche Beweise sind [...] sowohl im Hinblick auf die »Wiederholung von Handlungen« als auch die »offizielle Duldung« erforderlich.
(368) Jede Schlussfolgerung des GH zur Zulässigkeit der Beschwerde wegen einer Verwaltungspraxis erfolgt unbeschadet der Frage, ob die Existenz einer Verwaltungspraxis in einem späteren Stadium in der Sache »über jeden angemessenen Zweifel hinaus« festgestellt und ob dem belangten Staat diesbezüglich gegebenenfalls irgendeine Verantwortlichkeit unter der Konvention zugewiesen werden kann. Dabei handelt es sich um Fragen, die [...] nur nach einer Prüfung in der Sache entschieden werden können.
Inhaltliche Zulässigkeit der Beschwerden wegen einer Verwaltungspraxis (Anm: Siehe die Spruchpunkte 5 a)-n) und die Rn. 392 ff. der Entscheidung.)
Der GH erklärt, ohne das Urteil in der Sache vorwegzunehmen, aufgrund ausreichender Prima-facie-Beweise im Hinblick auf eine Wiederholung von Handlungen und offizielle Duldung folgende Rügen der bf. Regierung im Hinblick auf den untersuchten Zeitraum für zulässig (mehrheitlich):
betreffend das angebliche Bestehen einer Verwaltungspraxis
– des Verschwindenlassens und der Nichtvornahme einer wirksamen Untersuchung zum Bestehen einer solchen Verwaltungspraxis unter Verletzung von Art. 2 EMRK;
– von Misshandlungen unter Verletzung von Art. 3 EMRK;
– unrechtmäßiger Haft unter Verletzung von Art. 5 EMRK;
– zur Ausweitung der Gesetze der Russischen Föderation auf die Krim mit dem daraus resultierenden Effekt, dass die Gerichte auf der Krim ab dem 27.2.2014 nicht als »auf Gesetz beruhende Gerichte« iSd. Art. 6 EMRK angesehen werden konnten;
– der unrechtmäßigen automatischen Aufzwingung der russischen Staatsbürgerschaft unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK;
– willkürlicher Razzien in Privatwohnungen unter Verletzung von Art. 8 EMRK;
– der Schikanierung und Einschüchterung von religiösen Anführern, die sich nicht nach dem russisch-orthodoxen Glauben richteten, willkürlicher Razzien in Kultstätten und der Konfiskation von religiösem Besitz unter Verletzung von Art. 9 EMRK;
– der Unterdrückung nichtrussischer Medien unter Verletzung von Art. 10 EMRK;
– der Untersagung öffentlicher Versammlungen und Unterstützungskundgebungen sowie der Einschüchterung und willkürlichen Inhaftierung von Organisatoren von Demonstrationen unter Verletzung von Art. 11 EMRK;
– der entschädigungslosen Enteignung des Vermögens von Zivilisten und privaten Unternehmen unter Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK;
– der Unterdrückung der ukrainischen Sprache in Schulen sowie der Schikanierung ukrainischsprachiger Kinder in der Schule unter Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK;
– der Beschränkung der Freizügigkeit zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland, die sich aus der De-facto-Umwandlung der administrativen Grenzlinie in eine Staatsgrenze (zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine) durch den belangten Staat ergibt, unter Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK;
– der Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8, 9, 10 und 11 EMRK im Hinblick auf die Krimtataren;
– der Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 2 4. Prot. EMRK im Hinblick auf die Krimtataren.
Die übrigen Rügen der bf. Regierung (im Hinblick auf Tötungen und deren Untersuchung, die Festnahme und Einschüchterung von Journalisten sowie die Beschlagnahme ihres Materials und die Verstaatlichung des Vermögens von ukrainischen Soldaten) sind hingegen mangels ausreichender Prima-facie-Beweise für unzulässig zu erklären (mehrheitlich).
Vom GH zitierte Judikatur:
Georgien/RUS (I) v. 30.6.2009 (ZE) = NL 2009, 193
Al-Skeini u.a./GB v. 7.7.2011 (GK) = NLMR 2011, 219
Georgien/RUS (II) v. 13.12.2011 (ZE)
Georgien/RUS (I) v. 3.7.2014 (GK) = NLMR 2014, 333
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 16.12.2020, Bsw. 20958/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 13) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.