JudikaturAUSL EGMR

Bsw24173/18 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. November 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Klaus Müller gg. Deutschland, Urteil vom 19.11.2020, Bsw. 24173/18.

Spruch

Art. 8 EMRK; §§ 53 Abs. 1 Z. 3, 70 Abs. 1 StPO - Verhängung einer Geldstrafe und Androhung von Haft gegen Anwalt wegen Verweigerung der Zeugenaussage.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Rechtsanwalt. Zwischen 1996 und 2014 beriet seine Anwaltskanzlei vier Unternehmen betreffend die Durchführung diverser Transaktionen. 2014 mussten diese Insolvenz anmelden.

2017 leitete das Landgericht Münster gegen die früheren geschäftsführenden Direktoren der Unternehmen ein Strafverfahren unter anderem wegen Betrug ein. Es lud den Bf. als Auskunftszeugen vor und informierte ihn darüber, dass er vom aktuellen geschäftsführenden Direktor der vier Unternehmen ausdrücklich von seiner anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht entbunden worden sei.

Bei der am 18.5.2017 stattfindenden Verhandlung vor dem Landgericht verweigerte der Bf. jedoch unter Berufung auf § 53 Abs. 1 Z. 3 StPO (Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger) die Aussage. Er sehe sich nur dann zur Abgabe eines Zeugnisses in der Lage, wenn sämtliche geschäftsführenden Direktoren der vier Unternehmen, die er zum gegenständlichen Zeitpunkt beraten habe, und die nun als Angeklagte vor Gericht stünden, ihn von seiner Verschwiegenheitspflicht entbinden würden. Das Landgericht wies den Bf. in der Folge darauf hin, dass seiner Ansicht nach die Entbindung von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht durch den jetzigen geschäftsführenden Direktor der vier Unternehmen ausreichend sei. Da der Bf. trotzdem die Aussage verweigerte, verhängte es basierend auf § 70 Abs. 1 StPO (Folgen unberechtigter Zeugnisverweigerung) eine Geldbuße in der Höhe von € 150,–, im Fall der Nichteinbringung drei Tage Ordnungshaft, über ihn. Besagte Anordnung wurde vom OLG Hamm mit Beschluss vom 17.8.2017 wegen fehlender Erörterung weiterer Rechtsfragen aufgehoben und zur neuerlichen Entscheidung und Verhandlung zurückverwiesen. Das Verfahren endete wiederum mit der Verhängung einer Geldbuße, da sich der Bf. erneut auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berief.

Mit Urteil vom 27.2.2018 wies das OLG Hamm das dagegen erhobene Rechtsmittel des Bf. als unbegründet ab. Es schloss sich der Rechtsansicht des Landgerichts Münster an, wonach es ausreichend sei, dass der Bf. vom aktuellen geschäftsführenden Direktor der vier Unternehmen von seiner Verschwiegenheitspflicht entbunden worden sei. Zwischen den Gerichten bestehe jedoch Uneinigkeit darüber, wer dazu berechtigt sei, einen Anwalt von seinem Berufsgeheimnis zu entbinden, wenn ein Wechsel des geschäftsführenden Direktors oder die Ernennung eines Insolvenzverwalters stattgefunden habe. Eine Reihe von Rechtsmittelgerichten habe entschieden, dass ein Firmenanwalt von seiner Verschwiegenheitspflicht nur durch die früheren und jetzigen geschäftsführenden Direktoren entbunden werden könne und dass das von § 53 StPO geschützte Vertrauensverhältnis nur zwischen Individuen existiere. Andere Rechtsmittelgerichte hätten hingegen bereits seit längerem die Ansicht vertreten, dass es ausreichend sei, wenn der aktuelle geschäftsführende Direktor oder der Insolvenzverwalter einen für das betreffende Unternehmen tätigen Anwalt von seiner Verschwiegenheitspflicht entbinden würde. Die von § 53 StPO geschützte vertrauliche Beziehung zwischen Anwalt und Klient existiere nur zwischen Ersterem und dem Unternehmen. Somit sei lediglich dessen rechtlicher Repräsentant berechtigt, darüber zu entscheiden, ob eine Entbindung des Anwalts von der Verschwiegenheitspflicht im Interesse des Unternehmens liege. Das OLG Hamm schloss sich mit näherer Begründung letzterem Standpunkt an.

Der Bf. rief daraufhin das BVerfG an, welches jedoch eine Behandlung seiner Beschwerde ohne Angabe von Gründen ablehnte. Am 15.5.2018 sagte er vor dem Landgericht Münster aus, nachdem er darüber belehrt worden war, dass gemäß § 70 Abs. 2 StPO zur Erzwingung des Zeugnisses die Haft angeordnet werden könne.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete, durch die gerichtliche Anordnung der Zahlung einer Verwaltungsstrafe gezwungen worden zu sein, als Zeuge in einem Strafverfahren auszusagen, was gegen sein von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens sowie der Korrespondenz) geschütztes anwaltliches Berufsgeheimnis verstoßen habe.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Zulässigkeit

(33) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund […] unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

Lag ein Eingriff vor?

(41) Im vorliegenden Fall beklagte sich der Bf. darüber, unter Androhung einer Verwaltungsstrafe gezwungen worden zu sein, in einem Strafverfahren über Informationen auszusagen, die er in seiner Eigenschaft als Anwalt im Wege des (mündlichen, schriftlichen oder elektronischen) Austausches mit vier Unternehmen erlangt hatte, welche zum gegenständlichen Zeitpunkt von geschäftsführenden Direktoren vertreten wurden, die nunmehr vor Gericht standen. Mit Blick auf die [...] [einschlägige Rechtsprechung des GH – siehe etwa Michaud/F, Rn. 91] ist ein derartiger geschäftlicher Austausch mit den Repräsentanten der Klienten der Anwaltskanzlei des Bf. sowohl von [...] der »Korrespondenz« als auch dem »Privatleben« erfasst. Die Verpflichtung, die strittigen Informationen preiszugeben, stellte folglich einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens bzw. seiner Korrespondenz dar.

War der Eingriff gerechtfertigt?

Vorliegen einer Rechtsgrundlage

(50) [...] Der GH hat bereits anerkannt, dass es unmöglich ist, absolute Sicherheit bei der Abfassung von Gesetzen zu erzielen, und dass eine Gefahr besteht, dass die Suche nach Rechtssicherheit mit exzessiver Rigidität einhergeht. Viele Gesetze sind daher unvermeidlich in Begriffe gekleidet, die mehr oder weniger vage gehalten sind und deren Interpretation und Anwendung der Praxis vorbehalten ist (vgl. Michaud/F, Rn. 96).

(51) Was miteinander im Konflikt stehende Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte angeht, hatte sich der GH im Kontext von Art. 6 EMRK bereits wiederholt mit Fragen der Judikaturdivergenz zu beschäftigen. Er hielt in diesem Zusammenhang fest, dass [...] miteinander im Konflikt stehende Gerichtsentscheidungen, sollten sie über einen längeren Zeitraum bestehen, zwar einen Zustand von Rechtsunsicherheit erzeugen können [...], das Erfordernis der Rechtssicherheit jedoch niemandem ein »wohlerworbenes« Recht auf eine einheitliche Rechtsprechung einräume (siehe Borg/M, Rn. 107).

(52) Der GH [...] hat ferner festgehalten, dass das Gesetz mit ausreichender Klarheit angeben muss, welche mit den Tätigkeiten eines Anwalts verbundenen Angelegenheiten von der Beziehung zum Klienten erfasst und somit vom anwaltlichen Berufsgeheimnis geschützt sind.

(53) [...] Die Verhängung einer Verwaltungsstrafe über den Bf., um ihn zu zwingen, als Zeuge in einem Strafverfahren auszusagen, hatte eine Basis im innerstaatlichen Recht, nämlich § 70 Abs. 1 iVm. § 53 Abs. 1 Z. 3 und Abs. 2 StPO. Das OLG Hamm, welches im gegenständlichen Zuständigkeitsbereich als letztinstanzliches Gericht fungierte, interpretierte diese Bestimmungen derart, dass dem Bf. unter den Umständen des vorliegenden Falles kein Zeugnisverweigerungsrecht zukäme. Diese Interpretation befand sich im Einklang mit der Auslegungslinie einer Reihe weiterer Rechtsmittelgerichte in derartigen Fällen. Im Gegensatz dazu nahmen andere Rechtsmittelgerichte [...] unter vergleichbaren Umständen einen gegensätzlichen Standpunkt ein.

(54) Diese Auslegungsdivergenz insbesondere § 53 StPO betreffend, der weit gefasst ist, führte zu lang dauernden unterschiedlichen Ansätzen in der Rechtsprechung der Rechtsmittelgerichte. Der GH hält fest, dass ein Mechanismus zur Überwindung dieser Judikaturdivergenz insofern existiert, als der BGH diese im Zusammenhang mit einer Revision in einem Strafverfahren für den Fall aufgreifen kann, dass der ehemalige rechtliche Repräsentant einer juristischen Person infolge der Zeugenaussage eines Anwalts, den er nicht von seiner Verschwiegenheitspflicht entbunden hatte, verurteilt worden war. Der BGH könnte daher in seiner Rolle als zur Lösung von Rechtsprechungskonflikten berufener Gerichtshof den Ansatz bestimmen, der dann in dieser Frage von allen Rechtsmittelgerichten einzunehmen wäre. Im vorliegenden Fall stand es dem Bf. jedoch nicht offen, eine diese Frage klärende Entscheidung (welche zu einer einheitlichen Rechtsanwendung geführt hätte) zu erlangen, da ihm gegen die Auferlegung der Geldstrafe kein Rechtsmittel an den BGH offenstand. Das BVerfG wiederum, welches seine Beschwerde [...] nicht zur Behandlung annahm, scheint offenbar der Auffassung gewesen zu sein, dass der von den innerstaatlichen Gerichten gewählte Ansatz kein verfassungsrechtliches Problem aufgeworfen hatte.

(55) [...] Der GH ist somit im Zuge der Behandlung der Frage, ob das anwendbare innerstaatliche Recht für den Bf. von seinen Konsequenzen her vorhersehbar war und ihm erlaubte, sein Verhalten in diesem speziellen Fall danach auszurichten, mit einer Situation von Divergenzen in der Rechtsprechung verschiedener Rechtsmittelgerichte konfrontiert, genauer gesagt mehrerer Gerichte auf derselben Jurisdiktionsebene, welche dazu berufen sind, Fälle innerhalb ihres jeweiligen örtlichen Zuständigkeitsbereichs zu prüfen.

(56) Im vorliegenden Fall war der Ansatz des OLG Hamm, welches sich auf eine langanhaltende Rechtsprechungslinie stützte, nicht unschlüssig, was die Frage betraf, ob ein Verzicht auf die Geheimhaltung seitens der ehemaligen geschäftsführenden Direktoren notwendig gewesen war, um den Bf. von seinem Berufsgeheimnis zu entbinden und ihn zur Abgabe eines Zeugnisses im Strafverfahren gegen die Direktoren zu zwingen. Das OLG hatte im strittigen Verfahren nicht nur umfassende Gründe angeführt, warum es einen Geheimhaltungsverzicht der ehemaligen geschäftsführenden Direktoren unter den gegebenen Umständen nicht für notwendig erachtete, sondern war in diesem Zusammenhang auch auf die von den anderen Rechtsmittelgerichten zur Verteidigung ihrer Gegenauffassung vorgebrachten Argumente eingegangen. Zudem kündigte es im ersten Verfahrensgang, im Zuge dessen es die Entscheidung des Landgerichts Münster aus einem anderen rechtlichen Anlass aufhob und den Fall an dieses zurückverwies, klar die Haltung an, die es in dieser Frage einnehmen würde.

(57) Unter diesen Umständen entstand für den Bf. keine rechtliche Unsicherheit allein deswegen, weil manche andere Rechtsmittelgerichte mit unterschiedlichen örtlichen Wirkungsbereichen den Anwendungsbereich des Rechts, nicht unter solchen Umständen wie sie dem vorliegenden Fall zugrunde lagen aussagen zu müssen, anders beurteilten.

(58) Der GH ist weiters der Auffassung, dass die von den innerstaatlichen Gerichten im Fall des Bf. angenommene Interpretationslinie auch insofern vorhersehbar war, als diese Auslegung als vom Wortlaut und von Ziel und Zweck der gegenständlichen Strafprozessbestimmung gedeckt betrachtet werden muss. Es ist daher davon auszugehen, dass das relevante Recht in seiner Auslegung und Anwendung durch die nationalen Gerichte mit ausreichender Klarheit die Reichweite des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, auf welches sich der Bf. stützte, definierte.

(59) Im Übrigen ist der GH nicht davon überzeugt, dass der Bf. als Folge der Judikaturdivergenz der verschiedenen Rechtsmittelgerichte aufgrund der Abgabe einer Zeugenaussage vor dem Landgericht Münster tatsächlich [wie von ihm behauptet] Gefahr lief, nachfolgend wegen Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 StGB schuldig gesprochen zu werden. Auch unter der Annahme, dass im Lichte der Judikaturdivergenz zur Reichweite des anwaltlichen Berufsgeheimnisses ein anderes Gericht zu der Schlussfolgerung gekommen wäre, dass er kein Recht gehabt habe, über Informationen auszusagen, die ihm im Austausch mit den ehemaligen geschäftsführenden Direktoren zugekommen wären, hätte er in jedem Fall ohne Schuld gehandelt, da die innerstaatlichen Gerichte ihn im gegenständlichen Verfahren zur Ablegung eines Zeugnisses gezwungen hatten.

(60) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zu dem Schluss, dass das im vorliegenden Fall zur Anwendung kommende Recht in seiner Handhabung und Interpretation durch die innerstaatlichen Gerichte für den Bf. von den Konsequenzen her vorhersehbar war. Die Auferlegung der Verwaltungsstrafe war somit »gesetzlich vorgesehen« iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK.

Vorhandensein eines legitimen Ziels

(62) [...] Die Verhängung einer Verwaltungsstrafe über den Bf. war als Sanktion für die Zeugnisverweigerung gedacht [...] und diente der Durchsetzung seiner Pflicht gemäß innerstaatlichem Recht, [...] in diesem Verfahren Zeugnis abzulegen, um zu einer umfassenderen Tatsachenabklärung zu kommen. Die gegenständliche gerichtliche Anordnung diente somit dem legitimen Ziel der Verhinderung von Straftaten nach Art. 8 Abs. 2 EMRK. Dieses Konzept umfasst auch die Sicherung von Beweisen zum Zweck der Aufspürung und strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen.

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(67) Was die Frage angeht, ob der Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seiner Korrespondenz bzw. seines Privatlebens [...] in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, möchte der GH anmerken, dass hier unterschiedliche widerstreitende Interessen auf dem Spiel standen. Auf der einen Seite umfasst das anwaltliche Berufsgeheimnis, auf welches sich der Bf. beruft, nur die Beziehung zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten, was allgemein akzeptiert wird. Besagtes Privileg diente sowohl den beruflichen und geschäftlichen Interessen des Bf. in seiner Eigenschaft als Anwalt zum Schutz seines Austausches mit den Repräsentanten seiner Mandanten als auch dem öffentlichen Interesse an der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege. Diese Interessen standen im Widerstreit mit dem öffentlichen Interesse an der Verhinderung von strafbaren Handlungen, welchem durch eine umfassende Wahrheitsfindung gedient wird.

(68) Zur Verhältnismäßigkeit der strittigen Maßnahme gegenüber dem verfolgten legitimen Ziel ist schließlich zu sagen, dass das innerstaatliche Recht bzw. die innerstaatliche Praxis das Vorrecht des anwaltlichen Berufsgeheimnisses insofern schützt, als es für Anwälte eine Ausnahme von der besagten Pflicht zur Zeugenaussage im Strafverfahren vorsieht. So sind Rechtsanwälte gemäß § 53 Abs. 1 Z. 3 StPO regelmäßig zur Verweigerung des Zeugnisses über Informationen berechtigt, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Berufsgeheimnisträger anvertraut worden oder bekanntgeworden sind. § 53 Abs. 2 StPO sieht hingegen vor, dass Letztere das Zeugnis nicht länger verweigern dürfen, wenn sie von ihrem Klienten, dessen Schutz diese Verpflichtung in erster Linie dient, von der Verschwiegenheitspflicht entbunden wurden.

(69) Der vorliegende Fall wirft also die Frage auf, ob die Einschränkungen betreffend die Reichweite des anwaltlichen Berufsprivilegs nach der deutschen StPO in ihrer Anwendung und Interpretation durch die innerstaatlichen Gerichte als verhältnismäßig angesehen werden können. Dies spricht für einen ziemlich weiten Ermessensspielraum. Der GH beobachtet in dieser Hinsicht, dass die nationalen Gerichte im Wesentlichen erwogen, dass Mandanten der Anwaltskanzlei des Bf. im vorliegenden Fall lediglich die vier Unternehmen gewesen waren, die einen Rechtsberatungsvertrag mit ihr abgeschlossen hatten, und nicht die individuellen geschäftsführenden Direktoren, welche die Unternehmen zum damaligen Zeitpunkt vertraten. Nach Ansicht der Gerichte stand dem Bf. daher im Strafverfahren kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr zu, nachdem die aktuellen Unternehmensvertreter ihren Verzicht auf die Verschwiegenheitspflicht erklärt hatten.

(70) Was schließlich die Schwere der strittigen Sanktion betrifft, welche ebenfalls relevant für die Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Maßnahme ist, ist anzumerken, dass eine Geldstrafe in der Höhe von € 600,– zwar nicht vernachlässigbar, angesichts der auf dem Spiel stehenden Interessen jedoch auch nicht als exzessiv zu betrachten ist.

(71) Der GH möchte auch nicht übersehen, dass gegen den Bf. im Anschluss an diese Strafe gemäß § 70 Abs. 2 StPO zur Erzwingung des Zeugnisses die Haft angeordnet werden konnte. Das innerstaatliche Recht enthielt jedoch ausreichende Sicherheiten betreffend die Maximaldauer einer solchen Haft. Sie durfte weder über die Zeit der Beendigung des Verfahrens vor dem zuständigen Gericht hinaus noch insgesamt länger als für sechs Monate angeordnet werden (vgl. § 70 Abs. 2 leg. cit.), wobei eine Wiederholung der Haft [im selben oder in einem anderen Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstand hat,] nicht gestattet war (vgl. § 70 Abs. 4 leg. cit.).

(72) Darüber hinaus erinnert der GH an seine Feststellung (in Rn. 59), dass [...] der Bf. keiner aktuellen Gefahr einer Zuwiderhandlung gegen § 203 StGB ausgesetzt war.

(73) Letztlich müssen die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung des Eingriffs herangezogenen Gründe als relevant und ausreichend [...] angesehen werden. Wie oben gezeigt wurde, begründeten die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidung über die Auferlegung einer Verwaltungsstrafe sorgfältig. Sie legten in diesem Zusammenhang ihren Standpunkt zur Reichweite des anwaltlichen Berufsgeheimnisses dar, wobei ihre Interpretation [...] mit ausreichender Präzision versehen war, um es dem Bf. zu ermöglichen, sein Verhalten danach auszurichten.

(74) Der strittige Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens bzw. der Korrespondenz kann daher als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft erachtet werden und war folglich gerechtfertigt iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK.

(75) Es hat somit keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Yudkivska).

Vom GH zitierte Judikatur:

Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH/A v. 16.10.2007 = NL 2007, 258 = ÖJZ 2008, 246

Iordan Iordanov u.a./BG v. 2.7.2009

Michaud/F v. 6.12.2012 = NLMR 2012, 396

Sérvulo Associados – Sociedade de Advogados, RL u.a./P v. 3.9.2015 = NLMR 2015, 426

Borg/M v. 12.1.2016

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.11.2020, Bsw. 24173/18, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 483) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise