Bsw78630/12 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache B. gg. die Schweiz, Urteil vom 20.10.2020, Bsw. 78630/12.
Spruch
Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Benachteiligung von Witwern im Vergleich zu Witwen bei Gewährung von Sozialleistungen.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden; € 6.380,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Gattin des 1953 geborenen Bf. verstarb durch einen Unfall, als ihre beiden gemeinsamen Kinder ein Jahr und neun Monate bzw. vier Jahre alt waren. In der Folge gab der Bf. seine Berufstätigkeit auf, um sich in Vollzeit um die Kinder kümmern zu können, und erhielt eine Witwerrente.
Nachdem die Ausgleichskasse des Kantons Appenzell Ausserrhoden, die für die Zahlung der Rente zuständig war, festgestellt hatte, dass die jüngste Tochter des Bf. bald die Volljährigkeit erreichen würde, fasste sie am 9.9.2010 den Beschluss, die Auszahlung der Rente auf der Basis von Art. 24 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) zu beenden. Dieser sah vor, dass der Anspruch auf die Witwerrente erlosch, wenn das jüngste Kind das Alter von 18 Jahren erreichte.
Der Bf. erhob Einsprache gegen diese Entscheidung, die von der Ausgleichskasse jedoch am 20.10.2010 abgewiesen wurde. Dagegen wandte er sich mit einer Beschwerde an das Obergericht, das sein Rechtsmittel allerdings abwies. Gegen diese Entscheidung rief er das Bundesgericht an, vor dem er sich unter anderem über eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK beschwerte. Mit Urteil vom 4.5.2012 (9C_617/2011) wies dieses seine Beschwerde ebenfalls ab. Es hielt dabei fest, dass sich gemäß der Rechtsprechung des EGMR aus Art. 8 EMRK keine staatliche Verpflichtung ableiten lasse, bestimmte Leistungen im Bereich der Sozialversicherung bereitzustellen. Darüber hinaus würde die gerügte Unterscheidung im AHVG zwischen Witwen und Witwern zwar gegen den in Art. 8 Abs. 3 der Schweizer Verfassung verankerten Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau verstoßen, doch sei es wie alle anderen Behörden entsprechend Art. 190 der Verfassung dazu verpflichtet, die strittigen Bestimmungen anzuwenden, solange sie nicht vom Gesetzgeber geändert würden. (Anm: Art. 190 der Verfassung bestimmt, dass »Bundesgesetze und Völkerrecht [...] für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend« sind.) Dieser sei sich der Verfassungswidrigkeit zwar bewusst, hätte sie aber anlässlich der letzten Reform des AHVG nicht beseitigt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), da sein Anspruch auf eine Rente – anders als es bei einer Witwe in einer vergleichbaren Situation gewesen wäre – erloschen war, als seine jüngste Tochter die Volljährigkeit erreicht hatte.
Zulässigkeit
(36) Was den Aspekt des »Familienlebens« unter Art. 8 EMRK anbelangt, erinnert der GH zunächst daran, dass dieser Begriff nicht nur soziale, moralische oder kulturelle Verbindungen, sondern auch materielle Interessen umfasst.
(37) Er ruft sodann in Erinnerung, dass Maßnahmen, die es einem Elternteil erlauben, zuhause zu bleiben, um sich um seine Kinder zu kümmern, das Familienleben fördern und somit Auswirkungen auf die Organisation desselben haben. Solche Maßnahmen fallen in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK.
(43) [...] Der GH befindet, dass die Rüge des Bf. dem Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK unterliegt, da die Rente für Witwen und Witwer darauf abzielt, den überlebenden Ehepartner von dem Zwang zu befreien, eine bezahlte Tätigkeit ausüben zu müssen, damit er über die Zeit verfügt, sich um seine Kinder zu kümmern. Diese Leistung weist deshalb eindeutig einen »familiären« Charakter auf, da sie tatsächliche Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens des Bf. hat.
(44) Außerdem hatte die Witwerrente sehr konkrete Auswirkungen auf den Bf. Der GH erinnert diesbezüglich daran, dass die Gattin des Bf. bei einem Unfall ums Leben kam und Kinder im Alter von einem Jahr und neun Monaten bzw. von vier Jahren hinterließ. Seither kümmerte sich der Bf., der vor dem Tod seiner Gattin gearbeitet hatte, ausschließlich um seine Kinder [...]. Zum Zeitpunkt der Beendigung der Auszahlung der Rente war er 57 Jahre alt und seit mehr als 16 Jahren keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen. Als das Bundesgericht sein Urteil erließ, war der Bf. bereits 59 Jahre alt. Der GH anerkennt, dass eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in diesem Alter nur schwer vorstellbar war. Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass die Witwerrente, welche der Bf. seit dem Tod seiner Gattin erhalten hatte und welche mit der Volljährigkeit seines jüngsten Kindes gestrichen worden war, eine Auswirkung auf die Art der Gestaltung und Organisation des Familienlebens hatte.
(45) Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die vom Bf. formulierte Rüge unter Art. 8 EMRK fällt. Daraus folgt, dass Art. 14 EMRK im vorliegenden Fall iVm. Art. 8 EMRK anwendbar ist. Deshalb weist der GH die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmungen im vorliegenden Fall zurück.
(46) Der GH stellt außerdem fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Zum Vorliegen eines durch Art. 14 EMRK verbotenen Diskriminierungsgrundes
(66) Der Bf. behauptet, aufgrund der Beendigung der Auszahlung seiner Witwerrente [...] eine Diskriminierung im Vergleich zu Witwen erlitten zu haben, da eine Witwe ihren Anspruch auf eine Rente in derselben Situation nicht eingebüßt hätte. Er kann sich in Anbetracht des Vorgesagten zu Recht als Opfer einer Diskriminierung aufgrund des »Geschlechts« iSd. Art. 14 EMRK ansehen. (Anm: Der Bf. wies vor dem GH auch auf eine weitere angebliche Diskriminierung im Schweizer Recht hin. Diese betraf den im AHVG vorgesehenen Rentenanspruch von kinderlosen Witwen, der kinderlosen Witwern nicht zustand. Diese potentielle Diskriminierung wurde vom EGMR jedoch im vorliegenden Fall nicht behandelt, da sie für den Bf. nicht relevant war.)
Zum Vorliegen einer Ungleichbehandlung von Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befanden
(68) Der GH hält fest, dass der Bf. eine Ungleichbehandlung erlitten hat, weil die Auszahlung seiner Witwerrente beendet wurde. Er beobachtet, dass Witwen ihren Anspruch auf die Rente auch nach der Volljährigkeit ihres jüngsten Kindes behalten und der Bf. nicht auf die gleiche Weise behandelt wurde, obwohl er sich in einer identischen Situation befand.
(69) Der GH bemerkt, dass die Behörden dem Bf. das Recht auf Witwerrente alleine deshalb verwehrt haben, weil er ein Mann ist. Sie behaupteten nicht, dass er die eine oder andere gesetzliche Voraussetzung für die Zuerkennung dieser Leistung nicht erfüllen würde. Deshalb befand er sich im Hinblick auf seinen Anspruch auf diese Leistung in einer vergleichbaren Situation wie eine Frau.
Konnte die Ungleichbehandlung sachlich und angemessen gerechtfertigt werden?
(71) Die Regierung bringt vor, dass die Witwenrente sich auf die Vermutung stützt, wonach der Ehemann für den finanziellen Unterhalt seiner Gattin aufkommt, insbesondere wenn sie Kinder hat. Sie fügt hinzu, dass es auch heute noch gerechtfertigt sei, Witwen einen höheren Schutz zukommen zu lassen als Witwern. Der GH ist bereit zu akzeptieren, dass das von der Regierung vorgebrachte Argument die strittige Ungleichbehandlung sachlich rechtfertigt. Demgegenüber befindet er, dass die Frage, ob diese Ungleichheit angemessen war, Gegenstand einer strengen Prüfung sein muss.
(72) Was die Angemessenheit der Ungleichbehandlung angeht, erinnert der GH daran, dass es sehr gewichtiger Gründe bedarf, damit eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts mit der Konvention vereinbar sein kann. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die angebliche Diskriminierung eine Frau oder wie im vorliegenden Fall einen Mann betrifft.
(73) Der GH schließt nicht aus, dass die Schaffung einer Witwenrente, die nicht mit einer gleichwertigen Leistung zugunsten von Witwern einherging, durch die Rolle und den Status gerechtfertigt sein konnte, die den Frauen in der Gesellschaft zur Zeit der Annahme des einschlägigen Gesetzes im Jahr 1948 zugewiesen wurden. [...]
(74) Allerdings erinnert der GH [...] daran, dass es sich bei der Konvention um ein lebendiges Instrument handelt und sie vor dem Hintergrund der aktuellen Lebensbedingungen und der heutzutage in den demokratischen Staaten vorherrschenden Vorstellungen ausgelegt werden muss. Er bekräftigt ebenso, dass Verweise auf in einem bestimmten Land geltende Traditionen, pauschale Annahmen oder vorherrschende soziale Einstellungen heute nicht mehr reichen, um eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts zu rechtfertigen. Daraus folgt, dass die Regierung sich, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, welche Witwer gegenüber Witwen benachteiligt, nicht auf die Vermutung berufen kann, wonach der Ehemann für den finanziellen Unterhalt seiner Gattin aufkommt, vor allem wenn diese Kinder hat (Konzept des »versorgenden Ehemanns«).
(75) Spezieller auf den vorliegenden Fall gerichtet erinnert der GH daran, dass [...] der Bf. zum Zeitpunkt der Beendigung der Auszahlung der Rente 57 Jahre alt und seit mehr als 16 Jahren keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen war. Der GH kann nicht erkennen, warum der Bf. in diesem Alter weniger Schwierigkeiten gehabt haben sollte, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, als eine Frau, die sich in einer vergleichbaren Situation befand, oder warum die Beendigung der Auszahlung der Rente ihn in einem geringeren Ausmaß belastet haben sollte als eine Witwe unter vergleichbaren Umständen.
(76) Schließlich beobachtet der GH, dass die verschiedenen Versuche gescheitert sind, die von der Regierung seit 2000 unternommen wurden, um das Regime der Witwen- und Witwerrente zu reformieren, und die insbesondere darauf abzielten, den Rentenanspruch der Witwen und jenen der Witwer schrittweise anzugleichen. Das Bundesgericht gestand zu, dass die einschlägigen Bestimmungen offensichtlich dem Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau gemäß Art. 8 Abs. 3 der Verfassung zuwiderliefen. Es betonte auch, dass sich der Gesetzgeber dieses fehlenden Einklangs zwar bewusst war, diesbezüglich in der Folge aber trotzdem keine Abhilfe schaffte, und kam zum Schluss, dass es das in Kraft stehende Recht wie die anderen Behörden entsprechend Art. 190 der Verfassung anwenden musste. Der GH kann diese Schlussfolgerung nicht als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung akzeptieren, deren Opfer der Bf. wurde. Er bekräftigt erneut, dass Art. 1 EMRK die Vertragsstaaten verpflichtet, die Menschenrechte, die aus diesem Instrument erfließen, zu achten. Wenn er den Staaten die Wahl der einzusetzenden Mittel überlässt, um diese Rechte zu sichern, und ihnen diesbezüglich kein Modell aufdrängt, so behält er sich doch das Recht vor, eine strenge Kontrolle der wirksamen Achtung der fraglichen Rechte im Zusammenhang mit ihrer konkreten Anwendung vorzunehmen.
(77) Angesichts des Vorgesagten kann der GH nicht zum Schluss kommen, dass im vorliegenden Fall sehr gewichtige Gründe existierten, die geeignet waren, die vom Bf. gerügte Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts zu rechtfertigen. Folglich befindet er, dass die Regierung keine angemessene Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung vorgebracht hat, deren Opfer der Bf. war. Der GH legt Wert darauf zu betonen, dass diese Schlussfolgerung nicht als Ermutigung für die Schweizer Regierung zu verstehen ist, die betreffende Rente für die Frauen zu streichen oder zu reduzieren, um die festgestellte Ungleichbehandlung zu korrigieren.
(78) [...] Der GH kommt zum Schluss, dass eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK erfolgte (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Keller).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 6.380,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Petrovic/A v. 27.3.1998 = NL 1998, 76 = ÖJZ 1998, 516
Willis/GB v. 11.6.2002 = NL 2002, 107
Merger und Cros/F v. 22.12.2004
Konstantin Markin/RUS v. 22.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 92
Di Trizio/CH v. 2.2.2016 = NLMR 2016, 76
Belli und Arquier Martinez/CH v. 11.12.2018 = NLMR 2018, 558
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.10.2020, Bsw. 78630/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 368) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.