Bsw60561/14 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache S. M. gg. Kroatien, Urteil vom 25.6.2020, Bsw. 60561/14.
Spruch
Art. 4 EMRK - Behördliche Ermittlungspflicht bei Hinweisen auf Zwangsprostitution.
Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für den erlittenen immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 27.9.2012 erstattete die Bf. bei der Polizei Anzeige gegen einen gewissen T. M., mit dem sie gemeinsam in einer Wohnung lebte, und behauptete, dieser hätte sie mit psychischer und körperlicher Gewalt zur Prostitution gezwungen.
Die Staatsanwaltschaft eröffnete daraufhin eine Untersuchung, im Zusammenhang mit der auch die Räumlichkeiten von T. M. durchsucht wurden, und nahm die Aussage der Bf. auf. Diese gab an, von T. M. ab Juli 2011 immer wieder zu sexuellen Dienstleistungen gegenüber Dritten gezwungen worden zu sein, zum Teil in ihrer gemeinsamen Wohnung, zum Teil auch bei den Freiern zuhause. T. M. hätte sie ständig kontrolliert und ihr auch den Schlüssel für die gemeinsame Wohnung abgenommen, so dass sie Letztere nicht verlassen hätte können. Wenn er mit ihr nicht zufrieden gewesen sei, hätte er sie geschlagen. Sie hätte Angst davor gehabt, die Polizei zu kontaktieren, da T. M. früher selbst Polizist war und betont hätte, noch gute Beziehungen zu dieser zu haben. Überdies hätte er ihr mit Gewalt gedroht, sollte sie irgendjemandem Bescheid sagen. Eines Tages hätte sie dennoch ihre Freundin M. I. angerufen und um Hilfe gebeten, um ihrem Martyrium entkommen zu können. Der Partner ihrer Freundin hätte sie daraufhin abgeholt und sie sich sodann bei ihrer Freundin einquartiert. Am 6.11.2012 wurde Anklage gegen T. M. wegen Zwingens einer anderen Person zu Prostitution im Zusammenhang mit Zuhälterei erhoben. Der Bf. wurde am 21.12.2012 der Status eines Opfers von Menschenhandel zuerkannt.
T. M. bestritt bei seiner Einvernahme im Strafverfahren, die Bf. zur Prostitution gezwungen zu haben. Diese hätte die sexuellen Dienstleistungen vielmehr freiwillig angeboten. Die Bf. wiederholte ihre frühere Aussage. Am 15.2.2013 sprach das Strafgericht T. M. vom ihm gegenüber erhobenen Vorwurf frei. Es begründete dies insbesondere damit, dass die Aussage der Bf. nicht ausreichend glaubwürdig sei. Diese sei nämlich inkohärent und die Bf. selbst unsicher gewesen. Insbesondere habe sie beim Sprechen immer wieder pausiert und gezögert. Da es keine weiteren schlüssigen Beweise gebe, sei T. M. im Zweifel freizusprechen. Das Landgericht bestätigte dieses Urteil in der zweiten Instanz. Das Verfassungsgericht erklärte die von der Bf. dagegen erhobene Beschwerde für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügte eine Verletzung von Art. 4 EMRK (hier: Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit), da es die innerstaatlichen Behörden verabsäumt hätten, im Hinblick auf ihre Behauptung von Menschenhandel und (Zwangs-)Prostitution die einschlägigen strafrechtlichen Mechanismen wirksam anzuwenden.
Zu den Einreden der Regierung
Umfang des Falles
(214) Die Regierung wies darauf hin, dass die Bf. [...] sich in ihrer Beschwerde an den GH – soweit sie für zulässig erklärt worden war – auf Art. 3 und Art. 8 EMRK, nicht aber auf Art. 4 EMRK gestützt hatte. Sie akzeptierte zwar, dass der GH eine Beschwerde unter einen anderen Artikel einordnen kann als denjenigen, auf den sich ein Bf. berufen hat, doch sei dies im vorliegenden Fall nicht möglich. Außerdem wandte die Regierung ein, dass die Rüge der Bf. lediglich den Ausgang des Verfahrens betreffe. Sie hätte keine anderen verfahrensrechtlichen Aspekte umfasst, da die Argumente der Bf. diesbezüglich sehr allgemein und abstrakt gewesen wären.
(216) Zunächst wiederholt der GH, dass die »Rechtssache«, die an die GK verwiesen wird, notwendigerweise alle Aspekte der Beschwerde umfasst, die zuvor von der Kammer in ihrem Urteil untersucht wurden. Die »Rechtssache«, die an die GK verwiesen wird, ergibt sich aus der Beschwerde, wie sie für zulässig erklärt wurde, sowie aus den Rügen, die nicht für unzulässig erklärt wurden.
(223) [...] Die Kammer erklärte die [dem belangten Staat] mitgeteilten Rügen (Art. 3, Art. 4 und Art. 8 EMRK) für zulässig, untersuchte den Fall dann aber lediglich unter Art. 4 EMRK.
(224) [...] Der GH ist der Ansicht, dass es keinen Grund dafür gibt, seine Zuständigkeit im Hinblick auf die von der Kammer für zulässig erklärten Rügen zu verneinen. Die Bf. stützte sich ausdrücklich auf Art. 3 und Art. 8 EMRK und traf dazu weitere Ausführungen. Ihre Rügen warfen unzweifelhaft eine Frage auf, im Hinblick auf welche der GH auf der Grundlage des jura novit curia-Grundsatzes und angesichts seiner Rechtsprechung prüfen könnte, ob sie Art. 4 EMRK unterfällt.
(225) Außerdem ist der GH nicht vom Argument der Regierung überzeugt, wonach die Rüge der Bf. lediglich den Ausgang des Verfahrens betreffe. Unter Berücksichtigung des Falles insgesamt befindet er, dass die tatsächlichen Elemente der ursprünglichen Rüge der Bf. und deren Ausführung in den weiteren Stellungnahmen ausreichend weit sind, um verschiedene Aspekte der verfahrensrechtlichen Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden abzudecken, den betreffenden strafrechtlichen Mechanismus wirksam anzuwenden.
(226) In der Tat kann eine Straflosigkeit entsprechend der Rechtsprechung des GH aus verschiedenen Gründen resultieren. Insbesondere [...] kann sie sich aus den Versäumnissen der zuständigen Strafverfolgungsbehörden und der Strafgerichte ergeben, alle (oft subtilen) Elemente eines der Konvention zuwiderlaufenden Verfahrens zu erhellen und anzusprechen.
(227) Zudem kann auf die Rechtsprechung des GH verwiesen werden, die zeigt, dass er bereit ist, jedes spezielle Ermittlungsversäumnis zu berücksichtigen, das er im Kontext seiner Gesamtbeurteilung der verfahrensrechtlichen Rüge eines Bf. betreffend die unwirksame Anwendung von strafrechtlichen Mechanismen für relevant erachtet [...].
(228) Angesichts des Vorgesagten und soweit sich das Vorbringen der Bf. auf einen Mangel bei der Anwendung des betreffenden strafrechtlichen Mechanismus bezieht, der schließlich angeblich zur Straflosigkeit führte, ist der GH der Ansicht, dass solche Behauptungen ausreichend weit sind, um es ihm zu erlauben zu prüfen, ob es insgesamt gesehen und auf Basis der von ihm als relevant erachteten besonderen Aspekte des Falles zu einer Verletzung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden unter der Konvention kam.
(229) Zusammengefasst weist der GH die Einrede der Regierung zum Umfang der Rechtssache zurück (einstimmig). Er stellt fest, dass der »Umfang« der Rechtssache vor ihm im Hinblick auf die rechtliche Einordnung Fragen unter Art. 3, 4 und 8 EMRK aufwirft. Was den tatsächlichen Umfang der Rechtssache anbelangt, hält der GH fest, dass die Rüge der Bf. Fragen der angeblichen Straflosigkeit für Menschenhandel oder (Zwangs-)Prostitution in Verbindung mit einer mangelhaften Anwendung des betreffenden strafrechtlichen Mechanismus aufwirft. Es geht daher im Wesentlichen um die verfahrensrechtliche Seite. [...]
Einreden zur Zulässigkeit
(230) Die Regierung brachte vor, dass [...] Art. 4 EMRK im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei [...].
(238) [...] Der GH erachtet es für angemessener, [diese Frage] nach einer Beurteilung des Schutzbereiches dieser Bestimmung und auf der Basis einer sorgfältigen Beurteilung der besonderen Umstände des gegenständlichen Falles zu behandeln. Er verbindet diese Einrede daher mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK
Einleitende Bemerkungen
(277) [...] Der gegenständliche Fall erlaubt es dem GH, gewisse Aspekte seiner Rechtsprechung zu Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung durch Prostitution klarzustellen. Er verlangt auch, dass der GH die Aussage in Rn. 54 des Kammer-Urteils anspricht, wonach »Menschenhandel selbst sowie die Ausbeutung durch Prostitution ... in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fallen«.
Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK
(279) Art. 4 EMRK verweist auf drei Begriffe: Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangs- oder Pflichtarbeit. [...]
Menschenhandel unter Art. 4 EMRK
(290) Aus dem Urteil Rantsev/CY und RUS geht hervor, dass ein [...] Verhalten nur dann eine Frage von Menschenhandel unter Art. 4 EMRK aufwerfen kann, wenn alle konstitutiven Elemente (Handlung, Mittel, Zweck) der internationalen Definition von Menschenhandel vorliegen. (Anm: Das Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15.11.2000, StF. BGBl. III 220/2005 (»Palermo-Protokoll«), Art. 3 lit. a, und das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16.5.2005, StF. BGBl. III 10/2008, Art. 4 lit. a, sehen für das Verbrechen des Menschenhandels drei konstitutive Elemente vor: eine Handlung (z.B. die Anwerbung oder Beförderung), Mittel (z.B. Drohung oder Einsatz von Gewalt) und einen ausbeuterischen Zweck.) Mit anderen Worten ist es im Einklang mit dem Grundsatz der harmonischen Auslegung der Konvention und anderer Instrumente des Völkerrechts und angesichts des Umstands, dass die Konvention selbst den Begriff des Menschenhandels nicht definiert, nicht möglich, ein Verhalten oder eine Situation als eine Frage von Menschenhandel zu charakterisieren, wenn es oder sie nicht die Kriterien erfüllt, die für dieses Phänomen im internationalen Recht festgelegt wurden.
(291) In folgenden Fällen versuchte der GH, [...] eine Erklärung dafür zu liefern, wie das Phänomen des Menschenhandels in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fällt: In J. u.a./A erläuterte er [...] etwa, dass die identifizierten Elemente von Menschenhandel – die Behandlung von Menschen als Waren, genaue Überwachung, die Beschränkung der Bewegung, der Einsatz von Gewalt und Drohungen, schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen und wenig bis gar keine Bezahlung – quer über die drei in Art. 4 EMRK enthaltenen Kategorien verliefen. Ähnlich betonte der GH in Chowdury u.a./GR: »Ausbeutung durch Arbeit ist eine der Formen der Ausbeutung, die von der Definition von Menschenhandel erfasst werden, und dies hebt die immanente Beziehung zwischen Zwangs- oder Pflichtarbeit und Menschenhandel hervor.«
(292) In Anbetracht dieser Erwägungen kann der Begriff des Menschenhandels nach Ansicht des GH korrekt in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK einbezogen werden. Tatsächlich existieren angesichts der besonderen Merkmale der Konvention als Menschenrechtsvertrag und des Umstands, dass es sich dabei um ein lebendiges Instrument handelt, das im Lichte der aktuellen Gegebenheiten ausgelegt werden sollte, gute Gründe dafür, die Aussage im Fall Rantsev/CY und RUS zu akzeptieren, wonach das globale Phänomen des Menschenhandels dem Geist und Zweck des Art. 4 EMRK entgegenläuft und somit in den Anwendungsbereich der von diesem gewährten Garantien fällt.
(293) Diese Schlussfolgerung findet auch Unterstützung im Vergleich der wesentlichen Elemente der in Art. 4 EMRK angeführten Begriffe, wie sie in der Rechtsprechung des GH ausgelegt werden, und der konstitutiven Elemente des Phänomens des Menschenhandels. Außerdem wird eine solche Annäherung an das Phänomen des Menschenhandels überzeugend in den Materialien der International Labour Organisation (ILO) (Anm: Siehe insbesondere ILO, Report of the ILO Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, Report III (Part IB), S. 41.) dargelegt, die traditionellerweise eine Schlüsselrolle bei der Ausformung des Anwendungsbereichs der Garantien unter Art. 4 EMRK spielten. Es muss auch festgehalten werden, dass aus dem rechtsvergleichenden Material, das dem GH zur Verfügung steht, hervorgeht, dass Menschenhandel universell als schweres Verbrechen angesehen wird, das unter anderem sexuelle Ausbeutung umfasst. Tatsächlich stellen alle 39 Europaratsstaaten, im Hinblick auf die rechtsvergleichende Informationen verfügbar sind, Menschenhandel unter Strafe.
(294) Es ist jedoch zu bemerken, dass ein offenkundiger Unterschied zwischen dem Palermo-Protokoll und dem Europaratsübereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels existiert, was den Anwendungsbereich angeht. Letzteres ist auf alle Formen von Menschenhandel anwendbar, sei es national oder transnational, ob in Verbindung mit organisiertem Verbrechen oder nicht, während Ersteres sich auf transnationalen Menschenhandel unter Beteiligung einer organisierten kriminellen Gruppe bezieht. Es ist somit für den GH notwendig, seine Position in diesem speziellen Punkt klarzustellen.
(295) Nach Ansicht des GH sprechen mehrere Gründe dafür, warum dem Ansatz des Europaratsübereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels gefolgt werden sollte. Erstens ist das dadurch bedingt, dass der Ausschluss einer Gruppe von Opfern eines Verhaltens, das als Menschenhandel nach dem Europaratsübereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels charakterisiert wird, vom Schutzbereich der Konvention dem Ziel und Zweck der Konvention als Instrument zum Schutz von Menschen entgegenstehen würde, welches verlangt, dass ihre Bestimmungen so ausgelegt und angewendet werden, dass ihre Garantien praktisch und wirksam sind. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass – wie sich aus dem internationalen Material ergibt [...] – inländischer Menschenhandel aktuell die am meisten verbreitete Form von Menschenhandel ist. Zweitens hat der GH bereits befunden, dass die positiven Verpflichtungen des Staates unter Art. 4 EMRK im Lichte des Europaratsübereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels ausgelegt werden müssen (Chowdury u.a./GR, Rn. 104). Drittens ist der begrenzte Definitionsbereich des Palermo-Protokolls insofern relativ als es – wenn es in Verbindung mit seinem zugrundeliegenden Instrument (dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität) gelesen wird – tatsächlich Menschenhandel unabhängig von einem transnationalen Element oder der Beteiligung einer organisierten kriminellen Gruppe verbietet.
»Ausbeutung durch Prostitution« unter Art. 4 EMRK
(298) Es ist zunächst wesentlich festzuhalten, dass [...] die aktuelle Diskussion über die »Ausbeutung der Prostitution« einige sehr sensible Fragen in Verbindung mit der Annäherung an Prostitution allgemein eröffnet. Insbesondere gibt es verschiedene und oft konfligierende Ansichten dahingehend, ob Prostitution als solche je einvernehmlich sein kann oder ob es sich dabei stets um eine zwangsweise Form von Ausbeutung handelt. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass sich die verschiedenen Rechtssysteme der Prostitution unterschiedlich annähern, abhängig von der betreffenden Gesellschaft und deren Verständnis davon.
(299) In V. T./F, dem einzigen Fall, in dem diese spezielle Frage bislang angesprochen wurde, hielt der GH die wesentlichen Unterschiede in den Rechtssystemen betreffend den Ansatz zur Prostitution fest. Unter den Umständen dieses Falles erachtete es der GH nicht für relevant, in die Debatte einzusteigen, ob Prostitution für sich bereits gegen insbesondere Art. 3 EMRK verstößt. Er betonte jedoch, dass Prostitution mit der Würde einer Person unvereinbar ist, wenn sie erzwungen wird. Er hielt fest, dass wenn eine Person gezwungen wird, sich auf Prostitution einzulassen oder sie fortzusetzen, eine Frage unter Art. 3 EMRK auftritt. Was Art. 4 EMRK betraf, stellte der GH fest, dass ohne Zwang der Bf., die Prostitution fortzusetzen, nicht befunden werden konnte, dass sie gezwungen worden wäre, »Zwangs- oder Pflichtarbeit« im Sinne dieser Bestimmung zu verrichten.
(300) Auf Basis der Analyse seiner Rechtsprechung zu Art. 4 EMRK [...] stellt der GH fest, dass der Begriff der »Zwangs- oder Pflichtarbeit« unter Art. 4 EMRK darauf abzielt, vor Fällen schwerer Ausbeutung zu schützen wie Zwangsprostitution, und zwar unabhängig davon, ob sie unter den besonderen Umständen des Falles in Verbindung mit dem speziellen Kontext des Menschenhandels stehen. Zudem kann jedes solche Verhalten Elemente aufweisen, die es zu »Sklaverei« oder »Leibeigenschaft« iSd. Art. 4 EMRK machen, oder eine Frage unter einer anderen Bestimmung der Konvention aufwerfen.
(301) In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass »Gewalt« subtile Formen von zwingendem Verhalten umfassen kann, wie sie in der Rechtsprechung des GH zu Art. 4 EMRK sowie durch die ILO und in anderen internationalen Materialien identifiziert wurden.
Schlussfolgerung zum materiellen Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK
(303) Im Ergebnis und unter Berücksichtigung der obigen Erwägungen stellt der GH Folgendes fest:
(i) Menschenhandel fällt in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK. Das schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass unter den besonderen Umständen eines Falles eine spezielle Verhaltensweise in Verbindung mit Menschenhandel eine Frage unter einer anderen Bestimmung der Konvention aufwerfen kann.
(ii) Es ist nicht möglich, ein Verhalten oder eine Situation als eine Frage von Menschenhandel unter Art. 4 EMRK einzuordnen, wenn nicht die konstitutiven Elemente der internationalen Definition von Menschenhandel (Handlung, Mittel, Ziel) nach dem Europaratsübereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels und dem Palermo-Protokoll vorliegen. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Begriff des Menschenhandels aus Sicht des Art. 4 EMRK sowohl auf nationalen als auch auf internationalen Menschenhandel, und zwar unabhängig davon, ob eine Verbindung mit organisierter Kriminalität besteht.
(iii) Der Begriff der »Zwangs- oder Pflichtarbeit« unter Art. 4 EMRK zielt darauf ab, vor Fällen schwerer Ausbeutung zu schützen wie Zwangsprostitution, unabhängig davon, ob sie unter den besonderen Umständen des Falles mit dem speziellen Kontext des Menschenhandels in Verbindung stehen. Jedes solche Verhalten kann Elemente aufweisen, die es zu »Sklaverei« oder »Leibeigenschaft« iSd. Art. 4 EMRK machen, oder eine Frage unter einer anderen Bestimmung der Konvention aufwerfen.
(iv) Die Frage, ob eine spezielle Situation alle konstitutiven Elemente von »Menschenhandel« umfasst und/oder eine separate Frage von Zwangsprostitution hervorruft, ist eine tatsächliche Frage, die im Lichte aller relevanten Umstände des Falles untersucht werden muss.
Die positiven Verpflichtungen der Staaten unter Art. 4 EMRK
Die Reichweite der positiven Verpflichtungen der Staaten betreffend Menschenhandel und Zwangsprostitution
(305) Die Natur und Reichweite der positiven Verpflichtungen unter Art. 4 EMRK werden im Fall Rantsev/CY und RUS (siehe insbesondere die Rn. 283 ff.) ausführlich dargelegt. Die dort zusammengefassten allgemeinen Grundsätze [...] bilden bis heute den einschlägigen Konventionsrahmen, in dem Fälle von oder in Verbindung mit Menschenhandel untersucht werden. [...]
(307) [...] Angesichts der gedanklichen Nähe von Menschenhandel und Zwangsprostitution unter Art. 4 EMRK befindet der GH, dass die einschlägigen Grundsätze betreffend Menschenhandel in Fällen von Zwangsprostitution entsprechend anwendbar sind.
Die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen der Staaten betreffend Menschenhandel und Zwangsprostitution
(308) Die verfahrensrechtliche Verpflichtung unter Art. 4 EMRK [...] bezieht sich im Wesentlichen auf die Pflicht der innerstaatlichen Behörden, die betreffenden strafrechtlichen Mechanismen, die eingesetzt wurden, um gegen diese Bestimmung verstoßendes Verhalten zu verbieten und zu bestrafen, in der Praxis anzuwenden. [...] Das umfasst das Erfordernis einer wirksamen Untersuchung der Rügen einer gegen Art. 4 EMRK verstoßenden Behandlung.
(309) Der Inhalt dieser verfahrensrechtlichen Verpflichtung betreffend Fälle von Menschenhandel wurde allgemein dargelegt im Fall Rantsev/CY und RUS (Rn. 288). Er greift weitgehend auf die gefestigte Rechtsprechung des GH betreffend die verfahrensrechtliche Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden zurück, die zu Art. 2 und Art. 3 EMRK entwickelt wurde. [...]
(313) [...] Die verfahrensrechtlichen Erfordernisse betreffen primär die Pflicht der Behörden, eine wirksame Untersuchung einzuleiten und durchzuführen. Wie in der Rechtsprechung des GH erläutert wird, bedeutet dies die Einleitung und Durchführung einer Untersuchung, die geeignet ist, zur Feststellung der Tatsachen sowie zur Identifikation und gegebenenfalls Bestrafung der Verantwortlichen zu führen.
(314) In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass die Behörden im Einklang mit ihrer verfahrensrechtlichen Verpflichtung von Amts wegen handeln müssen, wenn sie auf die Angelegenheit aufmerksam geworden sind. [...]
(316) [...] Die Behörden müssen alle möglichen und angemessenen Schritte setzen, um Beweise zu sammeln und die Umstände des Falles zu erhellen. Insbesondere müssen die Schlussfolgerungen einer Ermittlung auf eine sorgfältige, objektive und unparteiische Analyse aller relevanten Elemente gestützt werden. Die Nichtverfolgung eines offenkundigen Ermittlungsansatzes untergräbt zu einem entscheidenen Ausmaß die Fähigkeit der Ermittlung, die Umstände des Falles und die Identität der Verantwortlichen festzustellen.
(317) Diesbezüglich [...] hat der GH eine »besonders sorgfältige Kontrolle« vorzunehmen [...].
(318) Im Kontext von Art. 2 und Art. 3 EMRK hat der GH festgehalten, dass jeder Mangel in den Ermittlungen, der deren Fähigkeit untergräbt, die Umstände des Falles oder die verantwortliche Person festzustellen, geeignet ist, mit dem verlangten Grad an Wirksamkeit in Konflikt zu geraten. [...]
(320) Der obige Ansatz unter Art. 2 und Art. 3 EMRK entspricht im Wesentlichen dem Ansatz des GH im Fall Siliadin/F, wo er betonte, dass die möglichen Mängel im betreffenden Verfahren und im Entscheidungsfindungsprozess bedeutend sein müssen, um eine Frage unter Art. 4 EMRK aufzuwerfen. Mit anderen Worten befasst sich der GH nicht mit Rügen von Fehlern oder isolierten Unterlassungen [...].
Anwendung der obigen Grundsätze auf den gegenständlichen Fall
Warfen die Umstände des vorliegenden Falles eine Frage unter Art. 4 EMRK auf?
(322) [...] Der GH erachtet es zunächst für notwendig klarzustellen, dass die administrative Anerkennung des Status eines möglichen Opfers von Menschenhandel nicht als Anerkennung gesehen werden kann, dass die Elemente der Straftat des Menschenhandels festgestellt wurden. Eine solche besondere Behandlung eines möglichen Opfers [...] setzt nicht notwendig eine offizielle Bestätigung voraus, dass die Straftat festgestellt wurde, und kann unabhängig von der behördlichen Untersuchungspflicht sein. In der Tat benötigen (potentielle) Opfer sogar Unterstützung, bevor die Straftat des Menschenhandels offiziell festgestellt wurde. Ansonsten würde dies dem eigentlichen Zweck des Opferschutzes in Menschenhandelsfällen zuwiderlaufen. Die Frage, ob die Elemente des Verbrechens vorliegen, muss im folgenden Strafverfahren beantwortet werden. [...]
(323) Dementsprechend [...] kann der GH dem Umstand keine entscheidende Bedeutung beimessen, dass die Bf. die administrative Anerkennung des Status eines Opfers von Menschenhandel durch das Büro für Menschen- und Minderheitenrechte der kroatischen Regierung erhielt.
(324) Was die Anwendbarkeit des Schutzes nach Art. 4 EMRK im Hinblick auf Menschenhandel oder Zwangsprostitution betrifft, hält der GH fest, dass er – wenn die Rüge einer Bf. im Wesentlichen verfahrensrechtlicher Natur ist wie im vorliegenden Fall – prüfen muss, ob die Bf. unter den Umständen des speziellen Falles eine vertretbare Behauptung vorbrachte oder es einen prima facie-Beweis dafür gab, dass sie einer solchen verbotenen Behandlung unterworfen wurde [...]. Dies entspricht im Wesentlichen dem Ansatz des GH in anderen Fällen, insbesondere betreffend Art. 3 EMRK.
(325) In diesem Zusammenhang ist die Schlussfolgerung, ob die verfahrensrechtliche Verpflichtung der Behörden ausgelöst wurde, auf die Umstände zu stützen, die zur Zeit vorherrschten, als die einschlägigen Behauptungen gemacht wurden oder als der prima facie-Beweis einer Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung den Behörden zur Kenntnis gebracht wurde, und nicht auf eine nachträgliche Schlussfolgerung, die nach Abschluss der Ermittlungen oder des betreffenden Verfahrens erreicht wurde. Dies trifft besonders zu, wenn es um Behauptungen geht, dass solche Schlussfolgerungen und das betreffende innerstaatliche Verfahren durch wesentliche verfahrensrechtliche Mängel beeinträchtigt waren. In der Tat würde die Stützung auf solche innerstaatlichen Feststellungen und Schlüsse eine Gefahr bergen, einen Zirkelschluss zu schaffen, und zu einem Fall zu führen, der eine vertretbare Behauptung oder einen prima facie-Beweis einer Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung betrifft, aber außerhalb der konventionsrechtlichen Überprüfung durch den GH verbleibt.
(326) Im vorliegenden Fall rügte die Bf. vor den innerstaatlichen Behörden, dass sie von T. M. zur Prostitution gezwungen worden wäre. Sie erklärte, wie er sie ursprünglich via Facebook kontaktiert und sich bei dieser Gelegenheit als Freund ihrer Eltern vorgestellt und ihr versprochen hatte, ihr dabei zu helfen, einen Job zu finden. Sie [...] tauschte weitere Nachrichten mit ihm aus, was schließlich zu einer ersten Situation führte, in der er darauf bestand, dass sie anderen sexuelle Dienste anbot. Laut den Behauptungen der Bf. hätte T. M. ihr dabei versichert, dass sie dies nur tun müsse, bis er für sie einen richtigen Job gefunden hätte. Laut ihr hätte T. M. jedoch danach damit begonnen, durch die Anwendung von Gewalt, Drohungen und eine enge Überwachung Druck auf sie auszuüben. Er hätte auch die notwendigen Vorkehrungen für die Bereitstellung ihrer sexuellen Dienstleistungen getroffen, indem er ihre Unterbringung, ihren Transport und andere Ausstattung sicherstellte, wie etwa dass er sie mit einem Mobiltelefon versorgte und ihre Dienste bewarb. Die Bf. gab auch an, dass T. M. die Hälfte des Geldes genommen hätte, das sie für die sexuellen Dienstleistungen verlangt hatte.
(327) Das polizeiliche Ermittlungsverfahren betreffend die Behauptungen der Bf. führte zu einer Durchsuchung der Räumlichkeiten und des Wagens von T. M., bei der die Polizei Kondome, zwei automatische Gewehre und die dazugehörige Munition, eine Handgranate und eine Reihe von Mobiltelefonen fand. Zudem wurde während des Ermittlungsverfahrens festgestellt, dass T. M. als Polizist ausgebildet und wegen Zuhälterei unter Einsatz von Gewalt und Vergewaltigung verurteilt worden war. [...] Auf der Basis der Rüge der Bf. und der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens wurden vom Büro des Staatsanwalts weitere Ermittlungen vorgenommen.
(328) Nach Ansicht des GH weisen die obigen Umstände eindeutig darauf hin, dass die Bf. eine vertretbare Behauptung aufstellte und zudem ein prima facie-Beweis existierte, dass sie Opfer einer Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung [...] geworden war.
(329) So legte z.B. die persönliche Situation der Bf. unzweifelhaft nahe, dass sie einer verwundbaren Gruppe angehörte, während T. M.s Position und Hintergrund darauf hinwiesen, dass er in der Lage war, ihr gegenüber eine dominante Position einzunehmen, und ihre Verwundbarkeit für die Zwecke der Ausbeutung zur Prostitution missbrauchte. Außerdem ist das von T. M. verwendete Mittel, als er die Bf. angeblich erstmals kontaktierte und sie anwarb, charakteristisch für ein Mittel, das von Menschenhändlern oft verwendet wird, um ihre Opfer anzuwerben. Dies traf auch auf das angebliche Versprechen von Arbeit zu, begleitet vom Glauben der Bf., sie hätte keinen Grund zur Sorge.
(330) Zudem wiesen die Behauptungen der Bf., T. M. hätte die notwendigen Vorkehrungen getroffen, damit sie sexuelle Dienstleistungen anbieten konnte, indem er ihre Unterbringung und sonstige Ausstattung sicherstellte, auf das Element der Beherbergung als eine der konstituierenden »Handlungen« von Menschenhandel hin. Es ist außerdem festzuhalten, dass T. M. eingestand, gegenüber der Bf. Gewalt angewendet zu haben, was eine sorgfältige und subtile Beurteilung im Rahmen des Elements der »Mittel« des Menschenhandels zum Zwecke der Ausbeutung von Prostitution erforderte. Dasselbe gilt für die Äußerung des T. M., wonach er der Bf. Geld lieh, was eine Frage möglicher Schuldknechtschaft als weiteres »Mittel« von Menschenhandel aufwarf.
(331) Es muss auch festgehalten werden, dass die obigen Behauptungen und Umstände, die insbesondere nahelegten, dass T. M. unrechtmäßig Geld durch die Bereitstellung von sexuellen Dienstleistungen durch die Bf. verdiente, und das in einer Umgebung, wo er eine dominante Position gegenüber ihr innehatte und auf Gewalt, Drohungen und andere Formen von Zwang zurückgriff, jedenfalls eine vertretbare Behauptung und einen prima facie-Beweis von Zwangsprostitution begründeten, die für sich ein nach Art. 4 EMRK verbotenes Verhalten ist.
(332) In Summe stellt der GH fest, dass die Bf. eine vertretbare Behauptung aufstellte und es einen prima facie-Beweis dafür gab, dass sie einer Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung unterworfen wurde – Menschenhandel und/oder Zwangsprostitution –, welche die verfahrensrechtliche Verpflichtung der Behörden unter dieser Bestimmung auslöste. Der GH weist daher die Einrede der Regierung betreffend die Anwendbarkeit von Art. 4 EMRK zurück [...] (einstimmig).
Einhaltung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung unter Art. 4 EMRK
(334) [...] Der GH wird prüfen, ob es im betreffenden innerstaatlichen Verfahren oder Entscheidungsfindungsprozess bedeutende Mängel gab. Insbesondere wird er beurteilen, ob die Behauptungen der Bf. unter Art. 4 EMRK korrekt untersucht und einer sorgfältigen Prüfung im Einklang mit den anwendbaren Standards aus seiner Rechtsprechung unterworfen wurden.
(335) Es ist jedoch festzuhalten, dass die Bf. ihre Rügen im Hinblick auf die betreffenden verfahrensrechtlichen Mängel und Versäumnisse nicht klar artikulierte [...]. Obwohl der GH die speziellen verfahrensrechtlichen Versäumnisse berücksichtigen kann, die er im Rahmen seiner Gesamtbeurteilung der Rüge der Bf. für relevant erachtet, muss er im vorliegenden Fall daher angesichts seiner Feststellungen zum Umfang des Falles (Rn. 227-229) Vorsicht walten lassen, wenn er die Beachtung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung unter Art. 4 EMRK durch die innerstaatlichen Behörden beurteilt. Jedenfalls wird der GH sich [...] lediglich auf bedeutende Mängel in der verfahrensrechtlichen Reaktion der innerstaatlichen Behörden auf die Behauptungen der Bf. betreffend Menschenhandel und/oder Zwangsprostitution konzentrieren. Das betrifft solche, die geeignet waren, die Fähigkeit der Untersuchung zu untergraben, die relevanten Umstände des Falles festzustellen.
(336) Im vorliegenden Fall verabsäumten es die Strafverfolgungsbehörden [...] in ihren Ermittlungen – obwohl sie rasch auf die Behauptungen der Bf. gegenüber T. M. reagierten –, einige offenkundige Ermittlungsansätze zu verfolgen, die geeignet waren, die Umstände des Falles zu erhellen und die wahre Natur der Beziehung zwischen der Bf. und T. M. festzustellen. [...] Ein solches Erfordernis folgt aus der verfahrensrechtlichen Verpflichtung der innerstaatlichen Behörden und hängt nicht von einer Initiative der Bf. ab [...]. [...] Eine Handlung oder Unterlassung von Seiten des Opfers kann eine Unterlassung auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden nicht rechtfertigen.
(337) In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass die Strafverfolgungsbehörden Bemühungen unternahmen, die Umstände der Kontakte der Bf. und von T. M. über Facebook zu untersuchen, obwohl solche Kontakte [...] einen der bekannten Wege darstellen, die von Menschenhändlern verwendet werden, um ihre Opfer anzuwerben. Tatsächlich versuchten die Strafverfolgungsbehörden nicht, die Facebook-Accounts der Bf. oder von T. M. zu prüfen und so die Natur ihres ersten Kontakts und ihren weiteren Austausch zu ermitteln. Zudem legten die verfügbaren Beweise nahe, dass T. M. Facebook verwendete, um die Bf. zu bedrohen, nachdem sie ihn verlassen hatte. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass die Behörden dieser Spur folgten, um die wahre Natur ihrer Beziehung zu bestimmen und festzustellen, ob diese Drohungen den Einsatz von Zwangsmitteln durch T. M. nahelegten.
(338) Zudem zogen die Strafverfolgungsbehörden weder während der Ermittlungen noch nachdem die betreffende Information während des Verfahrens aufgetaucht war, in Erwägung, Aussagen der Eltern der Bf. und insbesondere ihrer Mutter aufzunehmen [...].
(339) Die Strafverfolgungsbehörden versuchten auch nie, die Eigentümerin der Wohnung, in welcher die Bf. mit T. M. lebte, zu identifizieren und zu befragen, um die Umstände festzustellen, unter denen die Wohnung gemietet worden war, und so abzuklären, wer tatsächlich für den gesamten Mietvorgang verantwortlich gewesen war. Das hätte für die Feststellung der möglichen Handlung der Beherbergung als einem Element von Menschenhandel relevant sein können. Außerdem strebte die Staatsanwaltschaft – obwohl die Bf. später im Laufe des Strafverfahrens aussagte, dass die Eigentümerin der Wohnung selbige aufgesucht und inspiziert hatte – nicht danach, die Eigentümerin befragen zu lassen, um ihren Eindruck von der Atmosphäre in der Wohnung und der Beziehung zwischen der Bf. und T. M. während der kritischen Zeit festzustellen.
(340) Es ist auch anzumerken, dass die Strafverfolgungsbehörden keinen der Nachbarn identifizierten und befragten. Diese hätten potentiell auch in der Lage sein können, Informationen zu den Umständen zu liefern, unter denen sich die Bf. und T. M. in der Wohnung aufhielten, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob und wie oft die Bf. beim Verlassen der Wohnung gesehen wurde, ob sie alleine und ohne T. M. nach draußen ging und ob und wie oft T. M. die Wohnung verließ. All diese Elemente hätten die Behauptungen der Bf. im Hinblick auf die Umstände abklären können, unter denen sie sich während des Aufenhalts in der Wohnung unter der Kontrolle von T. M. befand. Dabei kann die bloße Tatsache, dass die Bf. die Wohnung gelegentlich verließ, nicht auf schlüssige Weise belegen, dass sie nicht von T. M. genötigt worden wäre.
(341) Vor dem Hintergrund der obigen Mängel ist festzuhalten, dass zusätzlich zur Durchsuchung der Wohnung und des Wagens von T. M. und zur Befragung desselben und der Bf. die einzige von den Strafverfolgungsbehörden gesetzte Aktion die Befragung der Freundin der Bf., M. I., war. Die von dieser während der Untersuchung und des Strafverfahrens getätigten Aussagen widersprachen jedoch teilweise einigen der von der Bf. gelieferten Informationen. Außerdem legten die Aussagen von M. I. nahe, dass die zentralen Personen, die Informationen über die angebliche Flucht [...] von T. M. hatten, ihre Mutter und ihr Freund waren.
(342) Die Strafverfolgungsbehörden versuchten nie, die Mutter und den Freund von M. I. zu befragen, die Details zur angeblichen Flucht der Bf. von T. M. liefern und deren Aussagen dazu dienen hätten können, die Widerspruchsfreiheit und Zuverlässigkeit der [...] Aussage von M. I. zu bestimmen. Dasselbe trifft für die widersprüchlichen Aussagen der Bf. und von M. I. im Hinblick auf die Umstände zu, unter denen die Bf. ihre persönlichen Sachen aus der Wohnung abgeholt hatte, in der sie mit T. M. gelebt hatte. Diese hätten durch die Befragung der Eigentümerin der Wohung abgeklärt werden können. [...] Die Strafverfolgungsbehörden versuchten jedoch nicht, die Eigentümerin zu befragen.
(343) All diese Elemente legen es nach Ansicht des GH nahe, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht im Einklang mit ihrer verfahrensrechtlichen Verpflichtung unter Art. 4 EMRK handelten, alle relevanten Umstände des Falles wirksam zu untersuchen, und einigen der offenkundigen Ermittlungsansätze nicht folgten, um die verfügbaren Beweise zu sammeln. Stattdessen stützten sie sich stark auf die Aussage der Bf. und schufen somit im folgenden Gerichtsverfahren im Wesentlichen eine Situation, in welcher deren Behauptungen einfach der Leugnung von T. M. gegenübergestellt werden mussten, ohne dass viele weitere Beweise vorgelegt worden wären.
(344) In diesem Zusammenhang hält der GH die Position von GRETA und anderen internationalen Stellen zu den Anforderungen an eine wirksame Untersuchung und Verfolgung von Straftaten in Verbindung mit Menschenhandel fest. Insbesondere bemerkt er angesichts der entscheidenden Stützung der Strafverfolgungsbehörden auf die Aussagen der Bf. und ihres Versäumnisses, einigen offenkundigen Ermittlungsansätzen zu folgen, dass bereits in der Arbeit von GRETA und anderer Expertengremien anerkannt wurde, dass es unterschiedliche Gründe geben kann, warum Opfer von Menschenhandel und verschiedener Formen von sexuellem Missbrauch zurückhaltend sind, mit den Behörden zu kooperieren und alle Details eines Falles zu enthüllen. Zudem muss die mögliche Auswirkung psychischer Traumata berücksichtigt werden. Es besteht somit die Gefahr eines blinden Vertrauens auf die Aussage des Opfers alleine, was zur Notwendigkeit führt, die Aussage des Opfers abzuklären und gegebenenfalls durch andere Beweise zu stützen [...].
(345) Der GH ist der Ansicht, dass die obigen zahlreichen Mängel in der Verfahrensführung der Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit der innerstaatlichen Behörden – einschließlich der betreffenden Gerichte – untergruben, die wahre Natur der Beziehung zwischen der Bf. und T. M. zu bestimmen und festzustellen, ob die Bf. von Letzterem wie von ihr behauptet ausgebeutet wurde.
(346) Das reicht dem GH deshalb aus um zum Schluss zu kommen, dass es in der verfahrensrechtlichen Reaktion der innerstaatlichen Behörden auf die vertretbare Behauptung und den prima facie-Beweis, dass die Bf. einer Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung unterworfen wurde, bedeutende Mängel gab. Demgemäß befindet der GH, dass die Art und Weise, auf welche die strafrechtlichen Mechanismen im vorliegenden Fall eingesetzt wurden, derart fehlerhaft war, dass eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Verpflichtung des Staates unter Art. 4 EMRK begründet wurde.
(347) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richterin Turkovic, des Richters Pastor Vilanova, des Richters Serghides sowie von Richterin O’Leary und Richter Ravarani gemeinsam).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für den erlittenen immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Van der Mussele/B v. 23.11.1983 = EuGRZ 1985, 477
Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200
V. T./F v. 11.9.2007
Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NLMR 2010, 20
C. N./GB v. 13.11.2012
J. u.a./A v. 17.1.2017 = NLMR 2017, 126
Chowdury u.a./GR v. 30.3.2017 = NLMR 2017, 132
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.6.2020, Bsw. 60561/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 192) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.