JudikaturAUSL EGMR

Bsw2309/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. Mai 2020

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V (Ausschuss), Beschwerdesache Marie Ringler gg. Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 12.5.2020, Bsw. 2309/10.

Spruch

Art. 8 EMRK; § 53 Abs. 3a, 3b SPG - Verpflichtung von Telefon- und Internetdienstleistern zur Auskunft über Nutzerdaten gegenüber der Polizei.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die mit 1.1.2008 in Kraft getretene Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) brachte unter anderem eine Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden mit sich, von Betreibern öffentlicher Telekommunikationsdienste Auskünfte über personenbezogene Daten von Nutzern zu verlangen.

Gemäß § 53 Abs. 3a SPG sind die Sicherheitsbehörden insbesondere berechtigt, unter bestimmten Voraussetzungen von Betreibern öffentlicher Telekommunikationsdienste und sonstigen Diensteanbietern Auskünfte über Name und Anschrift des Inhabers eines bestimmten Telefonanschlusses sowie über IP-Adressen und deren Zuordnung zu Nachrichten und Nutzern zu verlangen. Nach § 53 Abs. 3b SPG sind die Sicherheitsbehörden berechtigt, Auskunft über Standortdaten und die internationale Mobilteilnehmerkennung (IMSI) einer gefährdeten Person oder eines Angreifers zu verlangen und technische Mittel zur Lokalisierung von Mobiltelefonen (»IMSI-Catcher«) zum Einsatz zu bringen, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit eines Menschen notwendig ist.

Die Bf., die Mitglied des Wiener Landtags war, brachte einen auf Art. 140 Abs. 1 B-VG gestützten Individualantrag beim VfGH ein, mit dem sie eine Prüfung der Vereinbarkeit von § 53 Abs. 3a und Abs. 3b SPG mit der Verfassung begehrte. Sie brachte vor, es seien zwar keine der darin vorgesehenen Maßnahmen gegen sie selbst ergriffen worden, sie betreibe jedoch eine Website und könne daher als Diensteanbieterin verpflichtet werden, Auskünfte zu erteilen. Zudem könne sie als Internet- und Mobiltelefonnutzerin jederzeit einer in den angefochtenen Bestimmungen vorgesehenen Maßnahme unterworfen werden, wogegen ihr kein Rechtsbehelf zur Verfügung stünde.

Der VfGH wies den Antrag am 1.7.2009 als unzulässig zurück (G 30/08), da die Bf. nicht individuell betroffen sei und es ihr daher an der Antragslegitimation mangle. (Anm: Der VfGH verwies diesbezüglich auf seine Begründung in VfGH 1.7.2009, G 147/08 u.a. = VfSlg. 18.831/2009.)

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete, das bloße Bestehen der den Sicherheitsbehörden durch § 53 Abs. 3a und Abs. 3b SPG eingeräumten Befugnisse begründe eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens). Außerdem behauptete sie eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(49) Die Regierung vertrat die Ansicht, die Bf. habe kein Recht, die umstrittene Rechtslage in abstracto anzufechten. […]

Vorbemerkungen

(60) [...] Die Bf. hat nicht behauptet, einer der im SPG vorgesehenen Maßnahmen unterworfen worden zu sein. Sie sei vielmehr durch die bloße Geltung dieser gesetzlichen Bestimmungen beeinträchtigt worden. Obwohl derartige Maßnahmen nicht die Überwachung von Kommunikationsinhalten betreffen, wirft auch ein Ersuchen um Auskunft über Verbindungsdaten Fragen auf, die den Schutz von Art. 8 EMRK betreffen können. Wie der GH im Kontext personenbezogener Daten festgestellt hat, darf der Begriff »Privatleben« nicht restriktiv ausgelegt werden.

(61) Anders als vor dem VfGH beschwert sich die Bf. nicht über ihre Verpflichtungen als Diensteanbieter, sondern über Maßnahmen nach § 53 Abs. 3a und Abs. 3b SPG, die Internet- und Mobiltelefonnutzer betreffen [...].

(62) Der vorliegende Fall bezieht sich nicht auf Vorratsdaten, da die umstrittenen Bestimmungen des SPG, wie sie zur Zeit des Erkenntnisses des VfGH vom 1.7.2009 galten und zur Zeit der Prüfung dieser Beschwerde nach wie vor in Kraft sind, keine besondere Verpflichtung für Diensteanbieter mit sich brachten, Daten für die Zwecke der Ermittlung, Entdeckung und Verfolgung von Straftaten zu speichern. Die Auskunftspflicht gemäß § 53 Abs. 3c SPG spielt daher für den vorliegenden Fall keine Rolle.

Opfereigenschaft

(64) [...] Der GH hat wiederholt festgehalten, dass es in der Regel nicht seine Aufgabe ist, das relevante Recht [...] in abstracto zu beurteilen, sondern zu bestimmen, ob die Art, wie dieses auf den Bf. angewendet wurde oder ihn betraf, eine Verletzung der EMRK nach sich zog. [...]

(65) In Anerkennung der besonderen Merkmale geheimer Überwachung hat der GH allerdings akzeptiert, dass eine Person unter bestimmten Umständen aufgrund des bloßen Bestehens eines Gesetzes behaupten kann, Opfer zu sein. Wenn ein nationales System hingegen effektive Rechtsbehelfe vorsieht, ist ein allgemeiner Verdacht des Missbrauchs schwerer zu rechtfertigen. In solchen Fällen kann eine Person nur behaupten, Opfer einer durch das bloße Bestehen geheimer Maßnahmen oder eines Gesetzes, das geheime Maßnahmen erlaubt, begründeten Verletzung zu sein, wenn sie zeigen kann, dass sie wegen ihrer persönlichen Situation potentiell Gefahr läuft, solchen Maßnahmen unterworfen zu werden. Der GH wird diese Voraussetzungen der Opfereigenschaft auch auf die Umstände des vorliegenden Falls anwenden, der keine Inhaltsdaten betrifft, sondern Verbindungsdaten.

(66) Was die erste Voraussetzung betrifft, nämlich den Anwendungsbereich des Gesetzes, kann die Bf. möglicherweise von den in § 53 Abs. 3a und Abs. 3b SPG vorgesehenen Maßnahmen betroffen sein, weil alle Nutzer von Kommunikationsdiensten potentiell betroffen sind.

(67) Zur zweiten Voraussetzung hat der GH die Verfügbarkeit eines effektiven innerstaatlichen Rechtsbehelfs als entscheidend für die Beurteilung angesehen, ob es einen größeren Bedarf für eine Prüfung durch den GH gibt und eine Ausnahme von der Regel, die Personen das Recht auf eine Anfechtung eines Gesetzes in abstracto verwehrt, gerechtfertigt ist.

(68) In diesem Kontext wird der GH auch das innerstaatliche Recht über Benachrichtigung und Information der betroffenen Personen beurteilen. Der GH hat Beschränkungen über Benachrichtigung und Information mit der Effektivität der Rechtsbehelfe in Verbindung gebracht. Es gibt grundsätzlich wenig Raum für eine Anrufung der Gerichte durch die betroffene Person, solange sie nicht über die Maßnahmen aufgeklärt wird, die ohne ihr Wissen gegen sie getroffen wurden [...].

(69) Der GH stimmt mit der Bf. dahingehend überein, dass den Informationspflichten nach § 24 DSG 2000 bzw. § 43 DSG keine praktische Bedeutung zukommt. Wie die Regierung einräumte, gelten die gesetzlichen Ausnahmen von der Verständigung in erster Linie für die umstrittenen Maßnahmen. (Anm: Demnach kann eine Verständigung der von einer Datenverarbeitung betroffenen Personen insbesondere unterbleiben, wenn dies im Einzelfall unbedingt erforderlich ist, um die Ermittlungen nicht zu beeinträchtigen.)

(70) Dennoch sind die Polizeibehörden verpflichtet, den Rechtsschutzbeauftragten über alle Auskunftsersuchen nach § 53 Abs. 3a und Abs. 3b SPG, die Standortdaten oder IP-Adressen betreffen, zu verständigen. Ausgestattet mit Unabhängigkeit und den notwendigen Befugnissen ist der Rechtsschutzbeauftragte verpflichtet, entweder die betroffene Person über eine rechtswidrige Maßnahme zu informieren oder eine Beschwerde an die unabhängige Datenschutzbehörde (DSB) zu erheben. (Anm: § 91d Abs. 3 SPG.)

(71) Ein durchsetzbares Recht auf eine solche Information oder Beschwerde besteht allerdings nur im Fall einer Verletzung der Datenschutzrechte der betroffenen Person. Es besteht keine allgemeine Verständigungspflicht. Die relevante Bestimmung in ihrer zur Zeit des Erkenntnisses des VfGH geltenden Fassung sah auch keine ausdrückliche Verpflichtung des Rechtsschutzbeauftragten vor, die betroffene Person zu informieren oder Beschwerde an die DSB zu erheben. Auch wenn die Regierung vorbringt, die inzwischen erfolgte Änderung wäre nur eine Klarstellung gewesen, (Anm: Durch BGBl. I 33/2011 wurde § 91d Abs. 3 SPG dahingehend geändert, dass der Rechtsschutzbeauftragte zur Information der betroffenen Person oder zur Erhebung einer Beschwerde an die DSK »verpflichtet« – und nicht wie zuvor »befugt« – ist.) bleibt unklar, ob eine solche Verpflichtung immer schon bestanden hat.

(72) Der GH nimmt die Auskunftsrechte gegenüber den Polizeibehörden und die Möglichkeit des Einzelnen, sich direkt an die DSB zu wenden, zur Kenntnis. Eine solche Beschwerde konnte auch gemäß §§ 30 f. DSG 2000 an die frühere Datenschutzkommission (DSK) gerichtet werden und war nie von einer vorangegangenen Verständigung des Bf. abhängig. Die Regierung brachte vor [...], dass jeder das Recht hatte, aufgrund eines bloßen Verdachts einer Verletzung seiner Datenschutzrechte eine solche Beschwerde zu erheben. Eine solche Beschwerde erforderte daher keine Sachverhaltsdarstellung, die nur abgegeben werden könnte, wenn ein Bf. konkrete Informationen über eine Maßnahme hätte. Die DSK/DSB war bzw. ist vielmehr verpflichtet zu ermitteln, ob irgendeine Datensammlung stattgefunden hat.

(73) Während der GH die Ansicht der Bf. teilt, es wäre mühsam, von einer Vielzahl von Polizeibehörden in regelmäßigen Abständen Informationen einzuholen, war und bleibt eine Beschwerde an die frühere DSK bzw. an die DSB eine leicht zugängliche Alternative. Die Bf. behauptete nicht, wegen mühsamen oder zu hohen formalen Anforderungen nicht in der Lage gewesen zu sein, selbst eine solche Beschwerde zu erheben.

(74) Eine Beschwerde einer Person, die eine Verletzung ihrer Datenschutzrechte vermutet, an die DSK/DSB führte zu einer Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme oder einer Beurteilung, ob die Polizeibehörden ihren Verständigungs- und Auskunftspflichten nachgekommen waren.

(75) Außerdem war und ist jeder berechtigt, eine Richtigstellung, Einschränkung der Verarbeitung oder Löschung von Daten zu beantragen, die nicht länger benötigt werden oder rechtswidrig verarbeitet wurden. Die Entscheidung der Polizeibehörde über einen solchen Antrag konnte und kann vor der DSK/DSB angefochten werden.

(76) Überdies waren bzw. sind die Entscheidungen der DSK/DSB Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle.

(77) Das Rechtsschutzsystem wurde weiters durch den Datenschutzbeauftragten vervollständigt, dessen Zugangs- und Prüfungsbefugnisse gewährleisteten, dass die Datenschutzbestimmungen beachtet und korrekt angewendet wurden. Letztendlich konnte diese Überprüfung zu einer Verständigung der betroffenen Person oder zu einer Beschwerde an die DSK/DSB führen.

(78) Der GH ist daher der Ansicht, dass der Datenschutzbeauftragte und die DSB ein Aufsichtssystem bieten, das für die Bf. hinsichtlich jeder Behauptung eines Missbrauchs zugänglich war. Dieses System effektiver Rechtsbehelfe bestand bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des VfGH vom 1.7.2009 und der VfGH stellte daher fest, dass die Bf. zunächst diese Rechtsbehelfe erschöpfen hätte müssen, bevor sie das angeblich verfassungswidrige Gesetz vor ihm anfechten könnte.

(79) Obwohl die Verständigungspflichten praktisch bedeutungslos waren, bestand nach Ansicht des GH ein System effektiver Rechtsbehelfe mit Zugang zu gerichtlicher Kontrolle. Die Bf. hat im vorliegenden Fall nicht gezeigt, dass sie versucht hat, nach § 26 DSG 2000 eine Auskunft zu erhalten, oder gemäß §§ 30 f. DSG 2000 eine Beschwerde an die DSK erhoben hat. In einer solchen Situation ist ein allgemeiner Verdacht des Missbrauchs und damit eine Überprüfung des Gesetzes in abstracto schwerer zu rechtfertigen.

(80) Die Bf. brachte weder auf der innerstaatlichen Ebene noch in ihrer Beschwerde an den GH vor, dass ihre persönliche oder berufliche Situation von einer Art war, die normalerweise die Anwendung von Maßnahmen nach § 53 Abs. 3a und Abs. 3b SPG auf sich ziehen würde. Sie hat in ihrer Beschwerde an den VfGH nur versichert, als Internet- und Mobiltelefonnutzerin wahrscheinlich von solchen Maßnahmen betroffen zu sein. Sie wies damit nicht nach, dass sie wegen ihrer persönlichen Situation potentiell Gefahr laufe, solchen Maßnahmen unterworfen zu werden. Der VfGH wies die Beschwerde daher als unzulässig zurück.

(81) Folglich war der Sachverhalt nie von einer Art, die es der Bf. erlauben würde zu behaupten, Opfer einer Verletzung ihrer durch Art. 8 EMRK garantierten Rechte zu sein. Dieser Beschwerdepunkt ist daher ratione personae unvereinbar mit der Konvention [...] und muss somit [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

(83) Da [...] die Beschwerde unter Art. 8 EMRK für unzulässig erklärt wurde, [...] kann die Bf. im Hinblick auf Art. 13 EMRK keine vertretbare Behauptung [einer Verletzung] vorbringen.

(84) Folglich muss dieser Beschwerdepunkt wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Klass u.a./D v. 6.9.1978 = EuGRZ 1979, 278

Kennedy/GB v. 18.5.2010 = NLMR 2010, 156

Roman Zakharov/RUS v. 4.12.2015 (GK) = NLMR 2015, 509

Szabó und Vissy/H v. 12.1.2016 = NLMR 2016, 45

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 12.5.2020, Bsw. 2309/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 224) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise