Bsw8675/15 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache N. D. und N. T. gg. Spanien, Urteil vom 13.2.2020, Bsw. 8675/15 und 8.697/15.
Spruch
Art. 4 4.Prot. EMRK, Art. 13 EMRK - Sofortige Zurückweisung von Migranten am Grenzzaun von Melilla ohne individuelle Verfahren.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 4 4.Prot. EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 4 4.Prot. EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die spanische Enklave Melilla liegt an der Nordküste Marokkos. Die 13 km lange Landgrenze, die eine Außengrenze des Schengenraums bildet, wurde seitens Spaniens stark befestigt. Seit 2014 umfasst diese Anlage drei Zäune. Zwischen dem äußersten und dem innersten Zaun, die jeweils sechs Meter hoch sind, befinden sich ein dritter, drei Meter hoher Zaun sowie eine Patrouillenstraße. In regelmäßigen Abständen angebrachte Tore ermöglichen einen Zutritt ins Innere der Anlage. Die Zäune werden mit Video- und Infrarotkameras sowie Bewegungssensoren überwacht. Die Grenzkontrolle fällt in die Zuständigkeit der Guardia Civil.
Die beiden aus Mali bzw. der Elfenbeinküste stammenden Bf. kamen 2012 bzw. 2013 nach Marokko, wo sie in einem der irregulären Flüchtlingscamps am Berg Gurugú nahe Melilla lebten. Am 13.8.2014 versuchten sie um 4 Uhr 42 mit rund 600 anderen Migranten, die Grenze zu Melilla zu überwinden. Während die meisten von der Guardia Civil daran gehindert werden konnten, über den Zaun zu klettern, gelang es den beiden Bf. und circa 75 anderen, den höchsten Punkt des innersten Zauns zu erreichen. Nachdem sie rund acht Stunden auf dem Zaun ausgeharrt hatten, verließen sie diesen am frühen Nachmittag mit Hilfe einer von der Guardia Civil bereitgestellten Leiter. Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatten, wurden sie von den Beamten festgenommen. Diese legten ihnen Handfesseln an, brachten sie zurück nach Marokko und übergaben sie den marokkanischen Behörden. Nach der Schilderung der Bf. wurden sie keinem Verfahren zur Identifikation unterzogen. Sie hatten auch keine Gelegenheit, ihre persönlichen Umstände zu erklären oder Unterstützung durch Anwälte oder Dolmetscher zu erhalten.
Im Oktober bzw. Dezember 2014 gelang es beiden Bf. schließlich, die Grenzzäune zu überwinden. Nach Durchführung eines Verfahrens wurde gegen beide eine Ausweisung erlassen. Nachdem der Asylantrag des ErstBf. abgewiesen worden war, wurde er am 31.3.2015 nach Mali abgeschoben. Seine weiteren Rechtsmittel blieben erfolglos. Die Ausweisung des ZweitBf. wurde nach Abweisung seines Rechtsmittels rechtskräftig. Einen Asylantrag stellte er nicht. Er wurde auf das spanische Festland gebracht und nach Ablauf der gesetzlichen Höchstdauer der Schubhaft von 60 Tagen auf freien Fuß gesetzt. Seither hält er sich unrechtmäßig in Spanien auf.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK (Verbot der Kollektivausweisung) alleine und iVm. Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz). (Anm: Soweit sich die Beschwerde auf eine behauptete Verletzung von Art. 3 EMRK bezog, wurde sie bereits mit Entscheidung vom 7.7.2015 für unzulässig erklärt.)
Vorfragen
Fortgesetzte Prüfung der Rechtssache
(69) [...] Den Angaben der Rechtsvertreter der Bf. zufolge leben diese unter prekären Umständen und ohne festen Wohnsitz. [...] Sie würden jedoch über Telefon und WhatsApp in Kontakt zu ihnen stehen [...] und wären nach wie vor an der Rechtssache interessiert.
(70) Die Regierung [...] äußerte sich nicht zur Frage der fortgesetzten Prüfung der Rechtssache [...]. [...]
(71) Der GH erachtet es [...] als geboten, zunächst anhand der Kriterien des Art. 37 EMRK zu prüfen, ob es geboten ist, die Behandlung der Beschwerde fortzusetzen. [...]
(74) [...] Die [...] vorliegenden Vollmachten sind unterzeichnet und mit Fingerabdrücken versehen. Nach Ansicht des GH gibt es nichts [...], was die Schilderung der Anwälte [...] in Frage stellen könnte.
(75) [...] Selbst wenn die Umstände eines Falls zu der Schlussfolgerung führen, dass ein Bf. seine Beschwerde nicht weiter verfolgen will, kann der GH seine Prüfung fortsetzen, wenn »die Achtung der Menschenrechte [...] dies erfordert«. [...]
(78) [...] Der vorliegende Fall wurde gemäß Art. 43 EMRK an die GK verwiesen [...]. Er wirft wichtige Fragen auf, insbesondere betreffend die Auslegung [...] von Art. 4 4. Prot. EMRK im Hinblick auf Migranten, die versuchen, unerlaubt in einen Mitgliedstaat einzureisen, indem sie sich ihre große Zahl zunutze machen. [...] Die Auswirkung dieses Falls geht daher über die spezifische Situation der Bf. hinaus.
(79) [...] Daher erfordern jedenfalls besondere Umstände, die sich auf die Achtung der Menschenrechte beziehen [...], gemäß Art. 37 Abs. 1 letzter Satz EMRK eine fortgesetzte Behandlung der Beschwerde (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pejchal).
Beurteilung der Beweise und Feststellung des Sachverhalts
(80) Die Regierung brachte vor, die Bf. hätten nicht nachgewiesen, am 13.8.2014 an dem Versuch der Überwindung der Grenze beteiligt gewesen zu sein. [...]
(86) Wie der GH feststellt, lieferten die Bf. eine kohärente Schilderung ihrer persönlichen Umstände [...] und ihrer Beteiligung an der Erstürmung der Zäune [...] am 13.8.2014 [...]. Zur Untermauerung legten sie Videoaufzeichnungen vor, auf denen die [...] Erstürmung der Zäune zu sehen ist [...]. [...]
(88) Unter diesen Umständen und angesichts des Hintergrunds des vorliegenden Falls ist der GH der Ansicht, dass die Bf. einen prima facie-Beweis für ihre Beteiligung an der Erstürmung der Grenzzäune von Melilla am 13.8.2014 vorgelegt haben, der von der Regierung nicht überzeugend widerlegt wurde. Der GH verwirft daher die sich auf die fehlende Opfereigenschaft der Bf. beziehende Einrede und wird die Schilderung der Ereignisse durch die Bf. als wahr annehmen (einstimmig).
Zur Frage der Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK
(102) Gemäß Art. 1 EMRK sichern die Mitgliedstaaten allen ihrer »Hoheitsgewalt« unterstehenden Personen die in der Konvention garantierten Rechte zu. [...] Die Ausübung von Hoheitsgewalt ist notwendige Voraussetzung dafür, einen Mitgliedstaat für ihm zuzurechnende Handlungen oder Unterlassungen zur Rechenschaft zu ziehen, die Anlass für die Behauptung einer Verletzung von in der EMRK vorgesehenen Rechten und Freiheiten geben.
(103) Die Hoheitsgewalt eines Staates ist primär territorial begrenzt. Es wird angenommen, dass sie gewöhnlich im gesamten Territorium des Staates ausgeübt wird. Nur unter außergewöhnlichen Umständen kann diese Vermutung eingeschränkt werden, insbesondere wenn ein Staat in einem Teil seines Territoriums daran gehindert wird, seine Autorität auszuüben.
(104) [...] Es ist unbestritten, dass die fraglichen Ereignisse auf spanischem Territorium stattgefunden haben. Die spanische Regierung hat zudem eingeräumt, dass die drei Grenzzäune auf ihrem Staatsgebiet errichtet wurden. Sie berief sich allerdings auf eine Ausnahme von der territorialen Hoheitsgewalt, die nicht nur das Gebiet zwischen der marokkanisch-spanischen Grenze und dem äußeren Zaun des Grenzschutzsystems von Melilla umfasse, sondern sich bis zum Punkt des Abstiegs vom »inneren« (dritten) Zaun (auf spanischer Seite) und dem Bereich zwischen diesem Zaun und der Polizeilinie [...] erstrecke.
(105) Da die Ausübung von Hoheitsgewalt im gesamten Staatsgebiet vermutet wird, stellt sich die Frage, ob Spanien unter Berufung auf außergewöhnliche Umstände den Umfang seiner Hoheitsgewalt ändern oder reduzieren kann, indem es eine »Ausnahme von der Hoheitsgewalt« geltend macht, die sich auf jenen Teil seines Staatsgebiets bezieht, in dem die umstrittenen Ereignisse stattgefunden haben.
(106) In diesem Kontext verweist der GH zunächst auf seine Rechtsprechung, die territoriale Ausnahmen ausschließt [...].
(107) Im vorliegenden Fall berief sich die Regierung auf die Schwierigkeiten bei der Bewältigung der illegalen Einwanderung über die Enklave von Melilla und insbesondere der Erstürmung der Grenzzäune durch Gruppen, die im Allgemeinen mehrere hundert Ausländer umfassen. Sie behauptete allerdings nicht, durch diese Situation daran gehindert zu werden, ihre volle Autorität über diesen Teil des Staatsgebiets auszuüben. Tatsächlich ist klar, dass ausschließlich die spanischen Behörden dort tätig waren [...].
(108) Der GH kann daher keine faktische Situation oder objektiven Tatsachen erkennen, die geeignet wären, die effektive Ausübung der spanischen Autorität über ihr Gebiet an der Grenze von Melilla einzuschränken und folglich die Vermutung der Hoheitsgewalt im Hinblick auf die Bf. zu widerlegen.
(109) Wie der GH weiters betont, muss der Begriff der »Hoheitsgewalt« iSv. Art. 1 EMRK in dem Sinn verstanden werden, der ihm im Völkerrecht zukommt. Nach diesem Recht gestattet es die Existenz eines Zaunes, der sich in einiger Entfernung von der Grenze befindet, einem Staat nicht, seine an der Grenzlinie beginnende territoriale Hoheitsgewalt einseitig auszuschließen, zu ändern oder einzuschränken. [...]
(110) Außerdem kann [...] der spezielle Kontext der Migration kein rechtsfreies Gebiet rechtfertigen, in dem Personen von keinem Rechtssystem erfasst sind, das geeignet ist, ihnen den Genuss der durch die Konvention geschützten Rechte und Garantien zu bieten, zu deren Sicherstellung gegenüber jeder ihrer Hoheitsgewalt unterliegenden Person sich die Staaten verpflichtet haben. Als Verfassungsinstrument des europäischen ordre public kann die EMRK nicht durch eine künstliche Reduktion des Umfangs ihres territorialen Anwendungsbereichs selektiv auf Teile des Gebiets eines Staates beschränkt werden. [...]
(111) Die Ereignisse, aus denen die behaupteten Verletzungen resultieren, fallen folglich iSv. Art. 1 EMRK in die »Hoheitsgewalt« Spaniens. Die sich auf die fehlende Jurisdiktion beziehende Einrede der Regierung ist daher zu verwerfen (einstimmig).
Zu den weiteren Verfahrenseinreden
Zum behaupteten Verlust der Opfereigenschaft
(112) Die spanische Regierung brachte vor, [...] die Bf. wären nicht länger als Opfer anzusehen, weil es ihnen einige Monate später gelungen sei, illegal nach Spanien einzureisen [...].
(114) In einem Fall, der wie der vorliegende eine behauptete Ausweisung betrifft, kann der GH keine Umstände berücksichtigen, die sich nach einer gesonderten Überquerung der Grenze ereignet haben. Folglich verwirft er den Antrag der Regierung, die Beschwerde aus diesem Grund aus dem Register zu streichen (einstimmig).
Zur Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(120) [...] Die Regierung hat auf verschiedene Verfahren verwiesen, die den Bf. ihrer Behauptung nach zur Verfügung gestanden wären, um rechtmäßig mit einem Visum, einem Arbeitsvertrag oder als Asylwerber nach Spanien einzureisen. Angesichts des Vorbringens der Bf., sie wären einer Kollektivausweisung unterworfen worden, können die von der Regierung vorgeschlagenen Verfahren im Hinblick auf die behauptete Verletzung nicht als effektive Rechtsbehelfe angesehen werden. [...]
(122) Die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung [der innerstaatlichen Rechtsbehelfe] ist daher zu verwerfen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK
(123) Die Bf. behaupteten, sie wären einer Kollektivausweisung ohne individuelle Beurteilung ihrer Umstände und ohne irgendein Verfahren oder eine rechtliche Unterstützung unterworfen worden. Ihrer Ansicht nach spiegle diese Situation eine systematische Politik der Zurückschiebung von Migranten ohne vorherige Identifikation wider [...]. [...]
Anwendbarkeit
(164) Um zu entscheiden, ob Art. 4 4. Prot. EMRK anwendbar ist, muss der GH feststellen, ob die spanischen Behörden die Bf. einer »Ausweisung« im Sinne dieser Bestimmung unterworfen haben.
Allgemeine Grundsätze
(166) Im vorliegenden Fall ist der GH [...] erstmals aufgerufen, die Frage der Anwendbarkeit von Art. 4 4. Prot. EMRK auf die sofortige und gewaltsame Rückschiebung von Fremden an einer Landgrenze anzusprechen, die auf einen Versuch einer großen Zahl von Migranten folgt, diese Grenze unerlaubt und en masse zu überqueren. [...]
(167) Der GH hält es im vorliegenden Fall für angemessen, Art. 4 4. Prot. EMRK in den Kontext seiner Rechtsprechung zu Migration und Asyl zu stellen. Es ist zu betonen, dass die Mitgliedstaaten [...] das Recht haben, [...] die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu kontrollieren. [...] Der GH erinnert auch an das Recht der Staaten, ihre eigene Einwanderungspolitik zu gestalten, gegebenenfalls im Kontext bilateraler Kooperation und entsprechend den aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union erwachsenden Verpflichtungen.
(168) Vor diesem Hintergrund betont der GH die Wichtigkeit der Regelung und Kontrolle von Grenzen und der Rolle, die dabei für die betroffenen Staaten dem Schengener Grenzkodex (Anm: VO (EU) 2016/399 vom 9.3.2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 2016/77, 1.) zukommt, wonach »Grenzkontrollen [...] nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats [liegen], an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben« und sie »zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen« sollen. Aus diesem Grund können die Mitgliedstaaten grundsätzlich an ihren Grenzen Vorkehrungen treffen, die sicherstellen sollen, dass nur solchen Personen der Zugang zu ihrem Staatsgebiet gewährt wird, die die relevanten rechtlichen Voraussetzungen erfüllen.
(169) Der GH hat bereits früher die Herausforderungen betont, mit denen europäische Staaten bei der Einwanderungskontrolle aufgrund der Wirtschaftskrise und jüngster gesellschaftlicher und politischer Änderungen, die vor allem Auswirkungen auf bestimmte Regionen Afrikas und des Mittleren Ostens hatten, konfrontiert sind. Dies gilt auch für die Situation in Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven in Nordafrika.
(170) Der GH hat allerdings auch betont, dass die Probleme, die Staaten beim Umgang mit Migrationsbewegungen oder bei der Aufnahme von Asylwerbern bewältigen müssen, nicht den Rückgriff auf Praktiken rechtfertigen können, die mit der Konvention oder ihren Protokollen unvereinbar sind.
(171) [...] Der GH hat auch [...] die Verbindung zwischen dem Anwendungsbereich von Art. 4 4. Prot. EMRK [...] und jenem der GFK und des Nonrefoulementprinzips betont. Die innerstaatlichen Regeln über die Grenzkontrolle können daher die von der Konvention und ihren Protokollen garantierten Rechte – insbesondere Art. 3 EMRK und Art. 4 4. Prot. EMRK – nicht unanwendbar oder unwirksam machen.
(173) Da die Regierung [...] vorbrachte, der Fall der Bf. betreffe keine Ausweisung, sondern die Verweigerung der Aufnahme auf spanischem Territorium, muss sich der GH vergewissern, ob der Begriff der »Ausweisung«, wie er in Art. 4 4. Prot. EMRK verwendet wird, auch die Nichtaufnahme von Fremden an einer Staatsgrenze bzw. – im Hinblick auf Staaten, die zum Schengen-Gebiet gehören – an einer Außengrenze dieses Gebiets umfasst.
(174) In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass Art. 2 der Draft Articles on the Expulsion of Aliens der International Law Commission (ILC) den Begriff »Ausweisung« als einen »förmlichen Akt« oder als ein »einem Staat zurechenbares Verhalten, durch das ein Fremder zum Verlassen des Territoriums dieses Staates gezwungen wird« definiert und betont, dass der Begriff »nicht die Auslieferung an einen anderen Staat oder die Nichtaufnahme eines Fremden in einem Staat einschließt«. [...]
(175) Zum Begriff der »Nichtaufnahme« stellt der Kommentar zu Art. 2 der Draft Articles fest, dass er sich auf Fälle bezieht, in denen einem Fremden die Einreise verweigert wird und dass in einigen Rechtsordnungen der Begriff »Rückführung« (Refoulement) manchmal anstatt jenem der »Nichtaufnahme« verwendet wird.
(176) Wie allerdings aus dem Kommentar hervorgeht, lässt der Ausschluss von Angelegenheiten betreffend die Nichtaufnahme aus dem Anwendungsbereich der Draft Articles »die sich auf Flüchtlinge beziehenden Regeln des Völkerrechts unberührt«. Dies ist in Art. 6 lit. b vorgesehen, der auf das Refoulementverbot iSv. Art. 33 GFK verweist. Es ist anzumerken, dass der zweite Bericht über die Ausweisung von Fremden, der im Zusammenhang mit der Abfassung der Draft Articles behandelt wurde, festhält, dass die Begriffe »Ausweisung«, »Begleitung zur Grenze« und »Refoulement« austauschbar und ohne besondere semantische Genauigkeit verwendet wurden. Der Sonderberichterstatter der ILC [...] zog den Schluss, dass das Wort »Ausweisung« folglich im Kontext des vorliegenden Themas als ein allgemeiner Begriff verwendet würde, der alle Situationen meine, die von allen drei Begriffen und vielen anderen [...] umfasst werden.
(177) Gemäß Art. 6 lit. b der Draft Articles darf ein Staat einen Flüchtling nicht in irgendeiner Weise an einen Staat oder an die Grenzen eines Territoriums ausweisen oder zurückführen (refouler), wo das Leben oder die Freiheit der Person bedroht wären. Dieses Verbot findet sich der Sache nach unter anderem auch in Art. 18 und 19 GRC, Art. 78 AEUV [...] und Art. 3 UN-Antifolterkonvention [...].
(178) Es ist in diesem Kontext unerlässlich festzuhalten, dass das Refoulementverbot den Schutz von Asylwerbern sowohl in Fällen der Nichtaufnahme als auch der Zurückweisung an der Grenze mit einschließt [...].
(179) [...] Wichtig ist auch zu bemerken, dass gemäß dem Kommentar zu Art. 6 der Draft Articles der Begriff des Flüchtlings nicht nur Flüchtlinge umfasst, die sich rechtmäßig im Territorium des ausweisenden Staats aufhalten, sondern auch jede Person, die sich unrechtmäßig aufhält und den Flüchtlingsstatus beantragt hat [...]. [...]
(180) [...] Im spezifischen Kontext von Migrationsbewegungen an den Grenzen muss der Wunsch, Asyl zu beantragen, nicht in einer besonderen Form zum Ausdruck gebracht werden. [...]
(181) Wenn daher – wie von der ILC zu verstehen gegeben – die »Nichtaufnahme« eines Flüchtlings der Sache nach mit seiner Rückführung (Refoulement) gleichzusetzen ist, so folgt daraus, dass die bloße Tatsache, dass ein Staat einem Flüchtling, der sich in seiner Hoheitsgewalt befindet, die Aufnahme in seinem Territorium verweigert, diesen Staat nicht von seinen Verpflichtungen befreit, die sich gegenüber dieser Person aus dem Verbot des Refoulement von Flüchtlingen ergeben. Die Draft Articles on the Expulsion of Aliens gelten generell für die »Ausweisung von allen Fremden, die sich im Hoheitsgebiet des ausweisenden Staates befinden, ohne zwischen den verschiedenen Kategorien betroffener Personen zu unterscheiden [...]«. Sie umfassen daher sowohl die Ausweisung von Fremden, die sich rechtmäßig aufhalten, als auch von jenen, die sich unrechtmäßig im Territorium des Staates befinden.
(182) Mittlerweile enthält das Unionsrecht [...] das Recht auf Asyl (Art. 78 AEUV und Art. 18 GRC) ebenso wie das Verbot der Kollektivausweisung und den Grundsatz des Nonrefoulement (Art. 19 GRC). Was Drittstaatsangehörige betrifft, die sich unrechtmäßig im Gebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, regelt die RückführungsRL (Anm: RL 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 2008/348, 98.) die Standards und Verfahren zu ihrer Rückführung, die »im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte anzuwenden sind« (Art. 1 RL 2008/115). Zudem bestimmt der Schengener Grenzkodex, dass Drittstaatsangehörigen, die nicht alle Einreisevoraussetzungen erfüllen, die Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten »mittels einer begründeten Entscheidung« zu verweigern ist, wobei die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz unberührt bleibt (Art. 13 und 14 Schengener Grenzkodex [...]). [...]
(183) Zudem gelten nach Art. 14 Abs. 4 und Abs. 5 der QualifikationsRL (Anm: RL 2004/83/EG vom 29.4.2004 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung), ABl. L 2004/337, 9.) das Nonrefoulementprinzip und bestimmte, auf der Grundlage der GFK im Unionsrecht verankerte Rechte im Gegensatz zu den anderen in diesen beiden Absätzen aufgezählten Rechten für jede Person, die sich im Territorium eines Mitgliedstaats aufhält und die materiellen Voraussetzungen erfüllt, um als Flüchtling angesehen werden zu können, selbst wenn sie den Flüchtlingsstatus formell nicht erhalten hat oder er entzogen wurde. Es scheint, dass der Genuss dieser Rechte somit nicht von der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus abhängt, sondern sich aus der bloßen Tatsache ergibt, dass die betroffene Person die materiellen Voraussetzungen des Art. 1(A) Abs. 2 GFK erfüllt und sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufhält. [...]
(184) Der GH seinerseits hat bislang nicht über die Unterscheidung zwischen Nichtaufnahme und Ausweisung von Fremden, und insbesondere von Migranten oder Asylwerbern, die sich in der Hoheitsgewalt eines Staates befinden, der sie gewaltsam aus seinem Territorium entfernt, entschieden. Für Personen, denen im Herkunftsland Misshandlung droht, ist das Risiko in beiden Fällen dasselbe, nämlich jenes, einer solchen Behandlung ausgesetzt zu werden. Die Durchsicht des oben angeführten völker- und unionsrechtlichen Materials unterstützt die Ansicht des GH, wonach der von der autonom auszulegenden Konvention gewährte Schutz nicht von formellen Überlegungen abhängen kann, wie etwa jener, ob die zu schützenden Personen entsprechend einer bestimmten, auf die fragliche Situation anwendbaren Vorschrift des nationalen oder des europäischen Rechts im Territorium eines Mitgliedstaats aufgenommen wurden. Der gegenteilige Ansatz würde insofern ernsthafte Risiken der Willkür mit sich bringen, als Personen, die nach der EMRK einen Anspruch auf Schutz haben, dieses Schutzes auf der Grundlage rein formeller Überlegungen beraubt werden könnten, etwa aus dem Grund, dass sie nach einem rechtswidrigen Grenzübertritt keinen gültigen Antrag auf Schutz nach der EMRK stellen können. Die legitimen Bemühungen der Staaten, die zunehmend häufigeren Versuche einer Umgehung von Einwanderungsbeschränkungen zu durchkreuzen, können nicht so weit gehen, dass sie den von der EMRK und insbesondere deren Art. 3 gewährten Schutz unwirksam machen.
(185) Diese Gründe haben den GH dazu veranlasst, den Begriff der »Ausweisung« in der allgemeinen Bedeutung seines aktuellen Gebrauchs auszulegen (»von einem Ort vertreiben«), wonach er sich auf jede gewaltsame Entfernung eines Fremden aus dem Territorium eines Staates bezieht, unabhängig von der Rechtmäßigkeit oder Dauer des Aufenthalts, dem Ort, an dem er festgenommen wurde, seinem Status als Migrant oder Asylwerber und seinem Verhalten beim Überqueren der Grenze. [...]
(186) Folglich wurden Art. 3 und Art. 4 4. Prot. EMRK als auf jede Situation anwendbar erklärt, die in die Hoheitsgewalt eines Staates fällt, einschließlich Situationen oder Zeitpunkte, in denen die Behörden des fraglichen Staates noch nicht geprüft haben, ob Gründe vorliegen, welche die betroffene Person dazu berechtigen, Schutz nach diesen Bestimmungen geltend zu machen. Dieser Ansatz wird nach Ansicht des GH durch die Draft Articles on the Expulsion of Aliens der ILC bestätigt, die im Hinblick auf Flüchtlinge die Nichtaufnahme im Gebiet eines Staates mit deren Zurückweisung (Refoulement) gleichsetzen [...].
(187) Diese Überlegungen, die den jüngsten Urteilen Hirsi Jamaa u.a./I, Sharifi u.a./I und GR und Khlaifia u.a./I betreffend Bf., die versucht hatten, das Gebiet eines Staates über das Meer zu erreichen, zugrunde lagen, haben [...] nichts von ihrer Relevanz verloren. Es gibt daher keinen Grund, den Begriff der »Ausweisung« im Hinblick auf die zwangsweise Entfernung aus dem Territorium eines Staates im Kontext eines Versuchs der Überquerung einer Landgrenze anders auszulegen. Dennoch ist klarzustellen, dass sich dieser Ansatz aus einer autonomen Interpretation der Begriffe der EMRK ergibt.
Anwendung auf den vorliegenden Fall
(190) Ohne Zweifel [...] wurden die Bf. auf spanischem Territorium von spanischen Grenzbeamten festgenommen und fielen daher unter die Hoheitsgewalt Spaniens iSv. Art. 1 EMRK. [...]
(191) Außer Streit steht auch, dass die Bf. aus dem Staatsgebiet Spaniens entfernt und von Mitgliedern der Guardia Civil gewaltsam gegen ihren Willen und in Handschellen nach Marokko zurückgeschoben wurden. Es hat somit eine Ausweisung iSv. Art. 4 4. Prot. EMRK stattgefunden. Folglich ist diese Bestimmung auf den vorliegenden Fall anwendbar. Der GH verwirft daher die sich darauf beziehende Verfahrenseinrede der Regierung (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum von Richterin Koskelo) und erklärt die Beschwerde in diesem Punkt für zulässig (einstimmig).
In der Sache
(192) Zu entscheiden ist nun, ob die Ausweisung »kollektiv« iSv. Art. 4 4. Prot. EMRK war.
Allgemeine Grundsätze
(193) [...] Nach der Rechtsprechung des GH ist eine Ausweisung als »kollektiv« iSv. Art. 4 4. Prot. EMRK anzusehen, wenn sie Fremde als eine Gruppe zum Verlassen eines Landes zwingt, es sei denn, dass eine solche Maßnahme auf der Grundlage einer vernünftigen und sachlichen Prüfung des spezifischen Falls jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe ergriffen wird.
(194) Die Gruppe muss nicht aus einer Mindestzahl von Personen bestehen, bei deren Unterschreitung der kollektive Charakter der Ausweisung in Frage gestellt wäre. Die Zahl der von einer bestimmten Maßnahme betroffenen Personen ist demnach irrelevant für die Entscheidung, ob es zu einer Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK gekommen ist.
(195) Zudem hat der GH bislang nie verlangt, dass der kollektive Charakter einer Ausweisung durch die Mitgliedschaft bei einer konkreten oder einer durch spezifische Merkmale wie Herkunft, Nationalität, Glaube oder irgendeinen anderen Faktor definierten Gruppe bestimmt wird, damit Art. 4 4. Prot. EMRK ins Spiel kommt. Das entscheidende Kriterium für die Charakterisierung einer Ausweisung als »kollektiv« ist das Fehlen »einer vernünftigen und sachlichen Prüfung des spezifischen Falls jedes einzelnen Mitglieds der Gruppe«.
(198) Wie aus dieser Rechtsprechung klar hervorgeht, zielt Art. 4 4. Prot. EMRK in dieser Kategorie von Fällen darauf ab, die Möglichkeit zu bewahren, dass jeder Einzelne der betroffenen Fremden ein im Fall seiner Rückkehr bestehendes Risiko einer mit der EMRK – und insbesondere ihrem Art. 3 – unvereinbaren Behandlung geltend machen kann, und dass es die Behörden vermeiden können, jemanden, der eine derartige Behauptung vertretbar vorbringt, einem solchen Risiko auszusetzen. Aus diesem Grund verlangt Art. 4 4. Prot. EMRK von den staatlichen Behörden sicherzustellen, dass jeder der betroffenen Fremden eine tatsächliche und wirksame Möglichkeit hat, gegen seine Ausweisung sprechende Argumente vorzubringen.
(199) Aus der Tatsache, dass eine gewisse Zahl von Fremden ähnlichen Entscheidungen unterworfen wird, kann [...] für sich alleine nicht auf eine Kollektivausweisung geschlossen werden, wenn jede der betroffenen Personen eine Gelegenheit bekommen hat, vor der zuständigen Behörde individuell Argumente gegen ihre Ausweisung vorzubringen. Art. 4 4. Prot. EMRK garantiert allerdings kein unter allen Umständen geltendes Recht auf eine Befragung, da den Anforderungen dieser Bestimmung auch entsprochen sein kann, wenn jeder Fremde eine tatsächliche und wirksame Möglichkeit hat, Argumente gegen seine Ausweisung vorzubringen und diese Argumente von den Behörden des belangten Staates angemessen geprüft werden. [...]
(200) Bei der Einschätzung des von Art. 4 4. Prot. EMRK zu gewährenden Schutzes ist schließlich auch das eigene Verhalten des Bf. ein relevanter Faktor. Nach der ständigen Rechtsprechung des GH liegt keine Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK vor, wenn das Fehlen einer individuellen Ausweisungsentscheidung auf das eigene Verhalten des Bf. zurückgeführt werden kann. In Berisha und Haljiti/MK und in Dritsas u.a./I [...] war es das Fehlen einer aktiven Kooperation im verfügbaren Verfahren zur individuellen Prüfung der Umstände der Bf., das den GH zur Feststellung brachte, die Regierung könne nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass keine solche Prüfung durchgeführt wurde.
(201) Nach Ansicht des GH muss derselbe Grundsatz auch gelten, wenn durch das Verhalten von Personen, die eine Landgrenze auf rechtswidrige Weise überqueren und dabei bewusst ihre große Zahl ausnutzen und Gewalt anwenden, eine eindeutig destabilisierende Situation geschaffen wird, die schwer zu kontrollieren ist und die öffentliche Sicherheit gefährdet. In diesem Kontext wird der GH allerdings bei der Prüfung einer Beschwerde unter Art. 4 4. Prot. EMRK maßgeblich berücksichtigen, ob der belangte Staat unter den Umständen des konkreten Falls wirklichen und wirksamen Zugang zu Mitteln der rechtmäßigen Einreise vorsah, insbesondere durch Verfahren an der Grenze. Wenn der belangte Staat solchen Zugang vorsah, ein Bf. aber keinen Gebrauch davon gemacht hat, wird der GH im vorliegenden Kontext und vorbehaltlich der Anwendung von Art. 2 und Art. 3 EMRK berücksichtigen, ob es zwingende Gründe dafür gab, dies nicht zu tun, und ob diese Gründe auf objektiven Tatsachen beruhten, für die der belangte Staat verantwortlich war.
Anwendung auf den vorliegenden Fall
(206) [...] Die Bf. waren [...] Mitglieder einer zahlreiche Personen umfassenden Gruppe, die versuchte, durch die unrechtmäßige Überquerung einer Landgrenze nach Spanien zu gelangen, wobei sie im Kontext einer im Voraus geplanten Operation ihre große Anzahl ausnutzte. [...]
(207) Die Bf. wurden [...] nicht identifiziert, da am 13.8.2014 kein schriftliches Verfahren zur Prüfung ihrer individuellen Umstände durchgeführt wurde. Ihre Rückschiebung nach Marokko war daher de facto eine individuelle, aber sofortige Übergabe [...].
(208) Der GH nimmt das Argument der Regierung zur Kenntnis, wonach die Bf. durch die Umgehung der bestehenden rechtlichen Verfahren zur Einreise nach Spanien ein »schuldhaftes Verhalten« an den Tag gelegt hätten. Dies wirft die Frage auf, ob zur damaligen Zeit solche Verfahren existierten, ob sie den Bf. eine wirkliche und wirksame Gelegenheit boten, Gründe – wenn man davon ausgeht, dass solche bestanden – gegen ihre Übergabe an die marokkanischen Behörden vorzubringen, und ob die Bf. gegebenenfalls von ihnen Gebrauch gemacht haben.
(209) Im Hinblick auf Mitgliedstaaten wie Spanien, deren Grenzen zumindest teilweise mit den Außengrenzen des Schengenraums zusammenfallen, verlangt die Effektivität der Konventionsrechte, dass diese Staaten einen wirklichen und wirksamen Zugang zu Mitteln der legalen Einreise zur Verfügung stellen, insbesondere in Form von Grenzverfahren [...]. Diese Mittel sollten es allen Personen, denen Verfolgung droht, erlauben, unter Bedingungen Schutz zu beantragen [...], die sicherstellen, dass der Antrag in einer mit den internationalen Normen einschließlich der EMRK vereinbaren Art und Weise geprüft wird. Im Kontext des vorliegenden Falls verweist der GH auch auf [...] den Schengener Grenzkodex, [...] der das Bestehen einer ausreichenden Zahl von Grenzübergangsstellen voraussetzt. Wenn es an angemessenen Vorkehrungen fehlt, kann die daraus resultierende Möglichkeit der Staaten, die Einreise in ihr Territorium zu verweigern, alle Bestimmungen der EMRK unwirksam machen, die dazu gedacht sind, Personen zu schützen, die einem tatsächlichen Risiko einer Verfolgung ausgesetzt sind.
(210) Wo solche Vorkehrungen bestehen und das Recht gewährleisten, in wirklicher und wirksamer Weise nach der Konvention und insbesondere Art. 3 Schutz zu begehren, hindert die EMRK Staaten nicht daran, in Erfüllung ihrer Verpflichtung, die Grenzen zu kontrollieren, zu verlangen, dass Anträge auf einen solchen Schutz bei den bestehenden Grenzübergängen gestellt werden [...]. Folglich können sie Fremden, einschließlich potentieller Asylwerber, die es ohne zwingende Gründe verabsäumt haben, diesen Regelungen zu entsprechen, indem sie versuchen, die Grenze an einem anderen Ort zu überqueren – und dabei insbesondere wie im vorliegenden Fall ihre große Zahl ausnutzen und Gewalt anwenden – die Einreise in ihr Staatsgebiet verweigern.
(211) Der GH muss sich folglich vergewissern, ob die Möglichkeiten, die den Bf. nach den Angaben der Regierung zur Verfügung standen, um rechtmäßig nach Spanien einzureisen, [...] zur damaligen Zeit existierten und ob sie gegebenenfalls für die Bf. wirklich und wirksam zugänglich waren. Falls dies der Fall war und die Bf. keinen Gebrauch von diesen rechtlichen Verfahren gemacht, sondern stattdessen die Grenze unrechtmäßig überquert haben [...], könnte nur das Fehlen zwingender Gründe, die einen Gebrauch dieser Verfahren verhinderten, dazu führen, dass dies als Folge des eigenen Verhaltens der Bf. anzusehen ist, was die Tatsache rechtfertigen würde, dass die spanischen Grenzbeamten sie nicht individuell identifizierten.
(212) [...] Das spanische Recht stellte den Bf. mehrere mögliche Mittel zur Verfügung, um die Einreise zu beantragen. Sie hätten entweder ein Visum oder internationalen Schutz beantragen können, insbesondere beim Grenzübergang Beni Enzar, aber auch bei diplomatischen und konsularischen Vertretungen Spaniens [...]. [...]
(213) [...] Am 1.9.2014 richteten die spanischen Behörden beim Grenzübergang Beni Enzar ein rund um die Uhr geöffnetes Büro für die Registrierung von Asylanträgen ein [...]. Schon zuvor [...] war eine entsprechende rechtliche Möglichkeit geschaffen worden [...]. Auf dieser Grundlage waren nach den Angaben der Regierung zwischen 1.1. und 31.8.2014 in Melilla 21 Asylanträge gestellt worden, sechs davon am Grenzübergang Beni Enzar, von wo die Asylwerber zur Polizeistation von Melilla gebracht wurden, damit sie dort ihren förmlichen Antrag stellen konnten. [...]
(214) [...] Die Richtigkeit der von der Regierung vorgelegten Statistiken wurde weder von den Bf. noch von den Drittbeteiligten überzeugend angefochten. [...] Der GH sieht daher keinen Grund daran zu zweifeln, dass selbst vor dem 1.9.2014 [...] nicht nur eine rechtliche Verpflichtung bestand, beim Grenzübergang Beni Enzar Asylanträge entgegenzunehmen, sondern auch eine tatsächliche Möglichkeit für die Bf., solche Anträge einzureichen.
(215) Die unbestrittene Tatsache, dass [...] zwischen 1.9. und 31.12.2014 in Beni Enzar 404 Asylanträge gestellt wurden, ändert nichts an dieser Schlussfolgerung. [...] Diese 404 Anträge wurden alle von syrischen Flüchtlingen zu einer Zeit gestellt, zu der sich die Krise in Syrien zugespitzt hatte. [...]
(217) Folglich erlaubt die bloße [...] Tatsache, dass in Beni Enzar vor dem 1.9.2014 nur sehr wenige Asylanträge gestellt wurden, nicht den Schluss, der belangte Staat hätte keinen wirklichen und wirksamen Zugang zu diesem Grenzübergang vorgesehen. Die allgemeine Behauptung der Bf. [...], es wäre zur damaligen Zeit für niemanden möglich gewesen, am Grenzübergang Beni Enzar Asyl zu beantragen, reicht nicht aus, um diese Schlussfolgerung zu widerlegen.
(218) Als nächstes wird sich der GH vergewissern, ob die Bf. zwingende Gründe dafür hatten, keinen Gebrauch von diesen Grenzverfahren am Grenzübergang Beni Enzar zu machen. Wie der GH [...] bemerkt, brachten mehrere Drittbeteiligte [...] vor, es wäre für Personen aus Schwarzafrika praktisch unmöglich oder sehr schwierig, sich dem Grenzübergang Beni Enzar physisch zu nähern. [...] Allerdings weist keiner dieser Berichte darauf hin, dass die spanische Regierung in irgendeiner Weise für diesen Zustand verantwortlich wäre.
(220) [...] Die Bf. behaupteten im Verfahren vor der GK zunächst nicht einmal, jemals versucht zu haben, legal nach Spanien einzureisen [...]. [...] Erst in der Verhandlung vor der GK brachten sie vor, dass sie versucht hätten, sich nach Beni Enzar zu begeben, aber von marokkanischen Beamten verjagt worden wären. Ganz abgesehen von den Zweifeln an der Glaubwürdigkeit dieser Behauptung, die sich daraus nähren, dass sie in einem sehr späten Verfahrensstadium gemacht wurden, stellt der GH fest, dass die Bf. in diesem Kontext nie behaupteten, die von ihnen angeblich erlebten Schwierigkeiten würden – sollten sie sich bestätigen – in die Verantwortung der spanischen Behörden fallen. Der GH ist daher nicht überzeugt, dass die Bf. über die geforderten zwingenden Gründe dafür verfügten, zur damaligen Zeit nicht den Grenzübergang Beni Enzar zu nutzen, um in einer angemessenen und rechtmäßigen Art und Weise Gründe gegen ihre Ausweisung vorzubringen.
(221) Wie der GH betont, ist die Konvention dazu gedacht, [...] praktische und effektive Rechte zu garantieren. Dies bringt jedoch keine generelle Pflicht eines Mitgliedstaats nach Art. 4 4. Prot. EMRK mit sich, Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Staates befinden, in ihr eigenes Hoheitsgebiet zu bringen. Selbst unter der Annahme, dass Schwierigkeiten bei der physischen Annäherung an diesen Grenzübergang auf marokkanischer Seite bestanden, wurde vor dem GH keine Verantwortung der belangten Regierung für diese Situation festgestellt.
(222) Diese Feststellung reicht für den GH für die Schlussfolgerung aus, dass es im vorliegenden Fall zu keiner Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK gekommen ist. Der GH nimmt das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach [...] die Bf. auch Zugang zu spanischen Konsulaten und Botschaften hatten, wo jeder einen Antrag auf internationalen Schutz stellen könne. [...] Der GH muss [...] nicht dazu Stellung beziehen, ob und in welchem Umfang solche Botschaften und Konsulate die Bf. in die Hoheitsgewalt Spaniens gebracht hätten, wenn sie dort internationalen Schutz beantragt hätten [...]. Angesichts des Vorbringens der Regierung und der von ihm empfangenen detaillierten Stellungnahmen wird sich der GH dennoch mit dieser Angelegenheit befassen.
(223) [...] Gemäß § 38 des Gesetzes 12/2009 waren die spanischen Botschafter schon damals aufgefordert, den Transfer von Personen, die Schutz benötigten, nach Spanien zu organisieren. [...]
(227) Der GH ist [...] nicht davon überzeugt, dass diese zusätzlichen rechtlichen Möglichkeiten, die damals bestanden, für die Bf. nicht wirklich und wirksam zur Verfügung gestanden wären. Das spanische Konsulat in Nador ist nur 13,5 km von der Stelle der Erstürmung der Grenzzäune entfernt. [...] Die Bf. [...] hätten mühelos dorthin fahren können, um internationalen Schutz zu beantragen. Sie lieferten vor dem GH keine Erklärung dafür, warum sie dies nicht taten. [...]
(228) Gleichermaßen stellten die Bf. nicht die wirkliche und wirksame Möglichkeit in Abrede, bei anderen spanischen Botschaften in ihrem Heimatland oder einem der Staaten, durch die sie gereist waren, ein Visum zu beantragen. [...]
(229) Wie dem auch sei, ist der GH aus den oben dargelegten Gründen nicht davon überzeugt, dass die belangte Regierung keinen wirklichen und wirksamen Zugang zu Verfahren für eine legale Einreise nach Spanien zur Verfügung gestellt hat [...] und dass die Bf. zwingende, auf objektiven Tatsachen, für die der belangte Staat verantwortlich war, beruhende Gründe hatten, keinen Gebrauch von diesen Verfahren zu machen.
(230) In jedem Fall bemerkt der GH, dass die Vertreter der Bf. weder in ihren schriftlichen Stellungnahmen noch in der Verhandlung vor der GK in der Lage waren, auch nur den geringsten konkreten faktischen oder rechtlichen Grund anzugeben, der nach internationalem oder innerstaatlichem Recht eine Ausweisung der Bf. ausgeschlossen hätte, wenn sie individuell registriert worden wären.
(231) Im Lichte dieser Überlegungen ist der GH der Ansicht, dass sich die Bf. selbst in Gefahr brachten, indem sie an der Erstürmung der Grenzzäune von Melilla am 13.8.2004 teilnahmen und dabei die Größe der Gruppe ausnutzten und Gewalt anwendeten. Sie machten keinen Gebrauch von den bestehenden rechtlichen Verfahren zur Erlangung einer den Vorschriften des Schengener Grenzkodex [...] entsprechenden rechtmäßigen Einreise in das Staatsgebiet Spaniens. Der GH ist folglich im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung der Ansicht, dass das Fehlen individueller Ausweisungsentscheidungen der Tatsache zugerechnet werden kann, dass die Bf. – sofern sie wirklich Konventionsrechte geltend machen wollten – keinen Gebrauch von den zu diesem Zweck bestehenden offiziellen Einreiseverfahren machten, und somit eine Konsequenz ihres eigenen Verhaltens war. Daher hat keine Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Pejchal und Richterin Koskelo).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 4 4. Prot. EMRK
(233) Die Bf. rügten das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung gegen ihre sofortige Rückschiebung nach Marokko. [...]
Zulässigkeit
(238) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig [...]. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(242) Soweit der GH festgestellt hat, dass das Fehlen eines individuellen Ausweisungsverfahrens die Konsequenz des eigenen Verhaltens der Bf. war [...], kann er den belangten Staat nicht dafür verantwortlich machen, keinen Rechtsbehelf gegen eben jene Ausweisung zur Verfügung gestellt zu haben.
(243) Das Fehlen eines Rechtsbehelfs im Hinblick auf die Ausweisung der Bf. begründet folglich als solches keine Verletzung von Art. 13 EMRK, da die Beschwerde betreffend die Risiken, denen die Bf. im Zielstaat ausgesetzt worden wären, bereits zu Beginn des Verfahrens abgewiesen wurde.
(244) Folglich hat keine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 4 4. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Conka/B v. 5.2.2002 = NL 2002, 22
Berisha und Haljiti/MK v. 16.6.2005 (ZE)
M. S. S./B und GR v. 21.1.2011 (GK) = NLMR 2011, 26 = EuGRZ 2011, 243
Dritsas u.a./I v. 1.2.2011 (ZE)
Hirsi Jamaa u.a./I v. 23.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 50
Sharifi u.a./I und GR v. 21.10.2014 = NLMR 2014, 433
Khlaifia u.a./I v. 15.12.2016 (GK) = NLMR 2016, 511
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.2.2020, Bsw. 8675/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2020, 53) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.