Bsw62903/15 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Kurt gg. Österreich, Urteil vom 4.7.2019, Bsw. 62903/15.
Spruch
Art. 2 EMRK - Positive Verpflichtung der Behörden zur Verhinderung tödlicher häuslicher Gewalt.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Die 1978 geborene Bf. und E. heirateten 2003. 2004 wurde ihr gemeinsamer Sohn A. geboren, 2005 ihre gemeinsame Tochter B.
Am 10.7.2010 rief die Bf. die Polizei, weil ihr Mann sie geschlagen hätte. Sie gab an, dass E. ihr gegenüber bereits seit Jahren gewalttätig wäre und sich dies nun verschlimmert hätte, da er spielsüchtig und verschuldet sei und seinen Job verloren hätte. Die Polizei ordnete gegenüber E. ein Betretungsverbot und eine Wegweisung zum Schutz vor Gewalt nach § 38a SPG (im Folgenden: »Betretungsverbot«) an. (Anm: Bis zum Inkrafttreten der Änderung des § 38a SPG im September 2013, die den Ereignissen des gegenständlichen Falles geschuldet war, war die Anordnung eines Betretungsverbotes nur für den Wohnbereich und dessen Umkreis vorgesehen. Seither kann es auch für Schulen únd Kinderbetreuungseinrichtungen erlassen werden.) Dadurch wurde er verpflichtet, der ehelichen Wohnung sowie der Wohnung der Eltern der Bf. und der jeweiligen Umgebung für zwei Wochen fernzubleiben. Es scheint, dass E. sich an das Verbot hielt. Das LG für Strafsachen Graz verurteilte E. am 10.1.2011 wegen gegenüber der Bf. begangener Körperverletzung und gegenüber seinem Bruder und seinem Neffen geäußerter gefährlicher Drohungen zu drei Monaten Haft auf Bewährung.
Am 22.5.2012 reichte die Bf. beim BG St. Pölten die Scheidung ein. Sie begründete diesen Schritt damit, dass E. sie ständig bedrohen würde und ihr gegenüber gewalttätig wäre. Am gleichen Tag zeigte sie ihren Mann wegen gefährlicher Drohung und Vergewaltigung bei der Polizei an. Zu der Vergewaltigung sei es am 19.5. gekommen, als sie ihm ihre Trennungsabsichten offengelegt hätte. Außerdem hob sie hervor, dass er sie seit März 2012 täglich mit Äußerungen wie »Ich werde dich töten«, »Ich werde unsere Kinder vor deinen Augen töten«, »Ich werde dir so weh tun, dass du mich bitten wirst, dich zu töten« und Ähnlichem bedroht hätte. Sie gab an, diese Drohungen nicht angezeigt zu haben, weil sie befürchtet hätte, dass er diese sonst wahr machen würde. Die Polizei fertigte Fotos von den Verletzungen an, welche die Bf. erlitten hatte. Bei einer medizinischen Untersuchung konnten allerdings keine vergewaltigungstypischen Verletzungen festgestellt werden. Der Staatsanwalt ordnete die sofortige Einvernahme von E. an, der die Vorwürfe bestritt, sich insgesamt aber kooperativ zeigte. Die Polizei verhängte gegenüber E. erneut ein Betretungsverbot nach § 38a SPG für die gemeinsame eheliche Wohnung, die Wohnung der Eltern der Bf. und die jeweilige Umgebung. Auch wurden ihm die Schlüssel für die eheliche Wohnung abgenommen. Noch am selben Tag leitete die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Vergewaltigung, Körperverletzung und gefährlichen Drohung ein Strafverfahren gegen E. ein. Sofort wurden die Kinder einvernommen, die bestätigten, dass E. sie selbst und ihre Mutter immer wieder geschlagen habe.
Am 25.5.2012 begab sich E. zur Schule seiner Kinder. Dort ersuchte er eine Lehrerin, kurz alleine mit seinem Sohn sprechen zu dürfen. Die Lehrerin, die über die familiäre Situation nicht informiert worden war, gewährte ihm den Wunsch. Als A. nicht in die Klasse zurückkehrte, begann die Lehrerin ihn zu suchen und fand ihn im Keller der Schule. Er wies einen Kopfschuss auf. Seine Schwester hatte die Tat mit ansehen müssen, blieb aber unversehrt. E. wurde später tot in seinem Wagen aufgefunden. Er hatte Selbstmord begangen. A. erlag am 27.5.2012 im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.
Im Februar 2014 erhob die Bf. eine Amtshaftungsklage, da sie der Ansicht war, dass die Staatsanwaltschaft bereits am 22.5.2012 die Untersuchungshaft gegen E. verhängen hätte sollen. Es hätte nämlich ein reales und unmittelbares Risiko bestanden, dass er erneut Straftaten gegen seine Familie begehen würde, und das auf den Wohnbereich beschränkte Betretungsverbot hätte keinen ausreichenden Schutz geboten. Das LG St. Pölten wies die Klage am 14.11.2014 ab. Es begründete seine Entscheidung damit, dass auf Basis der den Behörden zur betreffenden Zeit verfügbaren Informationen keine Hinweise auf ein unmittelbares Risiko für das Leben von A. erkennbar gewesen wäre. Insbesondere hätte die Staatsanwaltschaft korrekterweise die Rechte von E. nach Art. 5 EMRK berücksichtigt und insgesamt nicht rechtswidrig oder schuldhaft gehandelt, indem sie gegen ihn keine Untersuchungshaft angeordnet hätte. Die Berufung der Bf. gegen diese Entscheidung wurde vom OLG Wien am 30.1.2015 abgewiesen, das die Entscheidung des LG im Wesentlichen bestätigte. Der OGH wies eine außerordentliche Revision der Bf. am 23.4.2015 zurück.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete insbesondere eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), da die österreichischen Behörden es verabsäumt hätten, ihren positiven Verpflichtungen nachzukommen, sie und ihre Kinder vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu schützen. Zum einen hätten sie Letzteren nicht in Untersuchungshaft genommen, zum anderen sei der gesetzliche Rahmen unzureichend gewesen, da Betretungsverbote 2012 nur für den Wohnbereich, nicht aber auch für weitere Örtlichkeiten wie etwa Schulen erlassen werden hätten können.
Zulässigkeit
(51) Die Regierung brachte vor, die Rüge betreffend den angeblich unzureichenden gesetzlichen Rahmen sei wegen der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs unzulässig. Während es zutreffe, dass das von der Polizei angeordnete Betretungsverbot zur damaligen Zeit nicht auf die Schule der Kinder ausgeweitet werden konnte, wäre es der Bf. offengestanden, vor dem BG einstweilige Verfügungen nach den § 382b [Schutz vor Gewalt in Wohnungen] und § 382e [Allgemeiner Schutz vor Gewalt] EO zu verlangen. [...] Eine einstweilige Verfügung nach § 382e könne im Hinblick auf jeden Ort erlassen werden, den das Gericht für angemessen hält. Die Polizei [...] hätte die Bf. über diese Möglichkeit bei zwei Gelegenheiten informiert: Nach dem ersten Betretungsverbot gegen ihren Mann im Juli 2010 und am 22.5.2012.
(53) Der GH bemerkt, dass der Teil der Beschwerde, der die angebliche Unzulänglichkeit des rechtlichen Rahmens anbelangt, den Umstand anspricht, dass die Polizei zur betreffenden Zeit unter § 38a SPG nicht die Möglichkeit hatte, das Betretungsverbot über die Wohnräumlichkeiten hinaus zu erstrecken, damit dieses insbesondere die Schule der Kinder erfasste, wo der Mord begangen wurde. In diesem Zusammenhang brachte die Bf. vor, dass sie und ihre Kinder am 22.5.2012 eines unmittelbaren Schutzes vor weiterer Gewalt durch ihren Ehemann bedurft hätten. Der GH stimmt mit der Regierung überein, dass die Bf. im Hinblick auf andere Örtlichkeiten als die Wohnungen sogar schon am 22.5.2012 eine einstweilige Verfügung nach § 382e EO verlangen hätte können. Sie wurde über diese Möglichkeit informiert [...]. Der GH ist jedoch nicht überzeugt davon, dass der Antrag, auch wenn ihn die Bf. am 22.5.2012 gestellt hätte, ihrer Familie unmittelbaren Schutz gewähren hätte können. Er musste nämlich separat beim BG gestellt werden und dieses hatte bis zu vier Wochen Zeit, um eine einstweilige Verfügung zu erlassen. Auch wenn es nicht unmöglich ist, so ist es doch alles andere als gewiss, dass das Gericht sofort eine Entscheidung erlassen hätte. Der GH ist nicht überzeugt davon, dass ein solcher Antrag im vorliegenden Fall ein wirksamer Rechtsbehelf gegen das behauptete Risiko gewesen wäre. Er weist die Einrede der Regierung deshalb zurück.
(54) Der GH hält fest, dass die Rügen unter Art. 2 EMRK nicht [...] offensichtlich unbegründet [...] sind. Sie sind auch nicht aus anderen Gründen unzulässig und müssen deshalb für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(63) Die positive Verpflichtung [unter Art. 2 EMRK] umfasst zunächst eine Pflicht des Staates, das Recht auf Leben durch die Einrichtung eines legislativen und administrativen Rahmen sicherzustellen, der darauf gerichtet ist, eine wirksame Abschreckung gegen Bedrohungen für dieses Recht zu bieten. Zweitens besteht unter entsprechenden Umständen eine positive Verpflichtung für die Behörden, präventive operative Maßnahmen zu setzen, um ein Individuum, dessen Leben in Gefahr ist, vor den kriminellen Handlungen eines anderen Individuums zu schützen. Kinder und andere verwundbare Individuen genießen besonderen staatlichen Schutz.
(65) Damit eine solche positive Verpflichtung entsteht, muss nachgewiesen werden, dass die Behörden zur betreffenden Zeit von der Existenz einer realen und unmittelbaren Gefahr für das Leben eines bestimmten Individuums durch die kriminellen Handlungen eines Dritten wussten oder hätten wissen müssen und sie es verabsäumten, im Rahmen ihrer Befugnisse Maßnahmen zu setzen, die angemessenerweise erwartet werden hätten können, um diese Gefahr zu vermeiden. Ob dies der Fall war, kann nur vor dem Hintergrund aller Umstände des speziellen Falles beurteilt werden. [...]
Die positive Verpflichtung zur Setzung präventiver operativer Maßnahmen
(67) [...] Die Polizei verhängte 2010 sofort nach der Anzeige der Bf. ein Betretungsverbot gegenüber E. im Hinblick auf die Wohnung. Letzterer wurde nur sechs Monate nach der Anzeige bei der Polizei strafrechtlich verurteilt, und dies obwohl die Bf. von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machte. In den folgenden zwei Jahren meldete sie der Polizei keine weiteren Vorfälle. 2012 ordnete Letztere direkt nach der Anzeige von häuslicher Gewalt durch die Bf. erneut sofort ein Betretungsverbot gegenüber E. sowie eine Abnahme seiner Schlüssel an. Ebenso wurde ein weiteres Betretungsverbot im Hinblick auf die Wohnung der Eltern der Bf. verfügt. Die Polizei meldete den Vorfall direkt dem Staatsanwalt, der am selben Tag eine strafrechtliche Untersuchung wegen häuslicher Gewalt und Vergewaltigung einleitete. Der GH befindet, dass die Behörden anders als im Fall Talpis/I unverzüglich auf die Anzeigen von häuslicher Gewalt durch die Bf. reagierten. Während die Behörden somit ihrer Pflicht nachkamen, ohne Verzögerung zu handeln, sobald sie über die behauptete Gewalt in Kenntnis gesetzt worden waren, bleibt es dem GH zu untersuchen, ob ihre Handlungen 2012 auch vor dem Hintergrund ihres Wissens um die von E. ausgehende Gefahr ausreichend waren.
(68) In diesem Zusammenhang ist die Frage zu beantworten, ob die Behörden auf Basis der zur betreffenden Zeit verfügbaren Informationen wissen konnten oder mussten, dass E. außerhalb der Orte, für die ein Betretungsverbot angeordnet worden war, eine reale und unmittelbare Gefahr für das Leben seines Sohnes darstellte, die nur dadurch abgewehrt werden hätte können, dass er in Haft genommen wurde.
(69) Der GH ist der Ansicht, dass die Umstände des vorliegenden Falles unbedingt auf der Basis dessen beurteilt werden müssen, was den zuständigen Behörden zur betreffenden Zeit bekannt war, und nicht im Nachhinein. [...] Der Umfang der positiven Verpflichtung muss auf eine Weise interpretiert werden, die den Behörden keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt. Der GH ist sich der Schwierigkeiten voll bewusst, denen die innerstaatlichen Behörden begegnen, wenn sie wie im vorliegenden Fall entscheiden, ob sie gegen einen Verdächtigen auf der Grundlage von eingeschränkten Informationen, oft unter Zeitdruck und trotzdem unter sorgfältiger Abwägung der Rechte der Person, von welcher die Gefahr ausgeht, gegen die Rechte des oder der Opfer ein Betretungsverbot erlassen oder ihn sogar festnehmen sollen. Deshalb ist es am Wichtigsten zu rekapitulieren, was den Behörden zur Zeit bekannt war, als sie entschieden, welche Maßnahmen im Hinblick auf E. gesetzt werden sollten, wobei die ihnen gesetzlich eingeräumten Befugnisse und ein gewisses durch das Gesetz gewährtes Ermessen zu berücksichtigen sind.
(70) Die Staatsanwaltschaft hatte die folgenden Informationen zur Verfügung, als sie darüber entschied, welche Maßnahmen gegen E. zu setzen waren: Der Ehemann der Bf. wies eine gewisse Vorgeschichte von Gewalt auf; zwei Jahre zuvor war ihm gegenüber ein Betretungsverbot und eine Wegweisung zum Schutz vor Gewalt angeordnet worden; und er war verurteilt worden, weil er seine Frau am Körper verletzt sowie gegenüber seinem Bruder und seinem Neffen gefährliche Drohungen geäußert hatte. Die Strafe war ausgesetzt worden, allerdings befand er sich noch immer innerhalb des Bewährungszeitraums dieser Verurteilung und es existierten starke Beweise dafür, dass er dieselben Straftaten erneut begangen hatte. Im Hinblick auf die neuen Behauptungen von Körperverletzung gab es physische Belege, nämlich Hämatome am Hals der Bf. und Kratzer an ihrem Kinn. Zusätzlich wurde die Beschuldigung einer Vergewaltigung erhoben, im Hinblick auf die aber keine physischen Belege entdeckt wurden. Die Bf. schilderte der Polizei die behauptete Vergewaltigung im Detail, während E.’s Aussagen mehrere Widersprüche beinhalteten. Allerdings hatte die Bf., bevor sie die angebliche Vergewaltigung zur Anzeige brachte, drei weitere Tage in der Wohnung verbracht, welche sie sich mit ihm teilte. Vor der Tötung seines Sohnes waren die Gewaltausbrüche von E. auf die eheliche Wohnung beschränkt gewesen, aus der er wirksam verwiesen worden war. Außerdem gab es keine Hinweise darauf, dass E. eine Schusswaffe oder eine andere Waffe besaß oder versucht hatte, eine zu erlangen. Als er mit der Polizei konfrontiert wurde, blieb er ruhig und kooperierte, erschien aus eigenem Antrieb bei der Polizei und erweckte nicht den Anschein, dass er für irgendjemanden eine unmittelbare Gefahr darstellte. Zudem hatte er das Betretungsverbot aus 2010 befolgt, waren die Behörden bis zu den fraglichen Vorfällen im Mai 2012 von keinen weiteren gewaltsamen Handlungen in Kenntnis gesetzt worden und gab es keine Hinweise auf eine Eskalation der Situation.
(71) Zum Argument der Bf., in den verschiedenen Aussagen von E. gegenüber der Polizei zeigten sich Widersprüche, bemerkt der GH, dass die Behörden die Aussagen der Bf. jedenfalls als glaubwürdiger erachtet hatten als jene von E. Deshalb ordnete die Polizei das Betretungsverbot sowie die Abnahme von E.’s Schlüssel an und kontaktierte die Staatsanwaltschaft, die unverzüglich ein Strafverfahren gegen ihn einleitete.
(72) Der GH wiederholt, dass eine Gefahr real und unmittelbar sein muss, um die positive Verpflichtung eines Staates unter Art. 2 EMRK auszulösen, präventive operative Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu treffen. Gemäß den aktenkundig gemachten Dokumenten war den Behörden bekannt, dass E. 2010 wegen einer gegenüber der Bf. begangenen Körperverletzung und wegen gegen seinen Bruder und seinen Neffen geäußerter gefährlicher Drohungen verurteilt worden war und im März 2012, zwei Monate vor den betreffenden Ereignissen, angeblich begonnen hatte, die Bf. und ihre Kinder mit denselben wiederkehrenden Formulierungen zu bedrohen. Diese Drohungen waren jedoch zum Teil nicht eindeutig (z.B. hatte E. einerseits gedroht, seine Kinder vor den Augen der Bf. zu töten, andererseits hatte er gedroht, sie mit in die Türkei zu nehmen, oder auch damit, Selbstmord zu begehen) und wurden angeblich während einer Periode von zwei Monaten täglich geäußert, ohne dass ihnen Taten folgten. Der GH stimmt den Behörden deshalb zu, dass die Drohungen nicht auf eine unmittelbare Gefahr für das Leben der Kinder außerhalb der Wohnräumlichkeiten hinwiesen.
(73) Zur Frage des Besitzes von Waffen hält der GH fest, dass [...] es keinen Hinweis darauf gab, dass der Mann der Bf. je eine Schuss- oder sonstige Waffe besessen hatte oder versuchen würde, eine solche zu erlangen. Die Bf. erwähnte nie, dass ihr Mann Waffen besessen hätte. Deshalb hatten die Behörden keinen Grund zu glauben, dass aufgrund des Gebrauchs von Waffen ein spezifisches Risiko für das Leben existierte.
(74) Nachdem er [...] alle Aspekte des Falles berücksichtigt hatte, entschied der Staatsanwalt daher, eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten, und – nach einer umfassenden Risikobeurteilung – den Mann der Bf. nicht in Haft zu nehmen oder über das Betretungsverbot hinausgehende Maßnahmen zu setzen.
(75) Der GH bemerkt, dass die innerstaatlichen Behörden nach dem Mord eine ausführliche Untersuchung der Umstände des Todes von A. und der vorangegangenen Ereignisse vornahmen. Dies wurde von der Bf. nicht bestritten. Die Beurteilung der Tatsachen durch die innerstaatlichen Gerichte im von der Bf. 2014 angestrengten Amtshaftungsverfahren war umfassend, stichhaltig, überzeugend und stand im Einklang mit der Rechtsprechung des GH. Die Gerichte wogen die Rechte der Bf. unter den Art. 2 und Art. 3 EMRK einerseits und die Rechte von E. unter Art. 5 EMRK andererseits gegeneinander ab. Sie stellten im Wesentlichen fest, dass es nicht verhältnismäßig gewesen wäre, Letzteren festzunehmen und ihm gegenüber die Untersuchungshaft zu verhängen, weil er in der Öffentlichkeit nie aggressiv gewesen wäre, seinen Drohungen zuvor nie Taten folgen lassen hätte, sich zwei Jahre zuvor an die Bedingungen eines Betretungsverbots gehalten hätte, im Hinblick auf ihn zwei Jahre lang keine weiteren Vorfälle gemeldet worden wären und die Bf. die Polizei nicht sofort nach dem angezeigten Vorfall kontaktiert hätte. Zudem hätte niemand gewusst, dass E. im Besitz einer Schuss- oder sonstigen Waffe war oder er versucht hätte, eine solche zu erlangen. Nach Ansicht der Behörden hätte der Staatsanwalt rechtmäßig gehandelt und nicht schuldhaft, womit eine staatliche Haftung in dem Fall ausgeschlossen wäre.
(76) Der GH stimmt den innerstaatlichen Behörden zu, dass sie auf Basis der oben genannten Faktoren insgesamt gesehen berechtigt waren zum Schluss zu kommen, dass das Betretungsverbot für die Wohnungen der Bf. und deren Eltern und den jeweiligen Umkreis in Verbindung mit der Abnahme von E.’s Schlüssel ausreichen würde, um das Leben der Bf. sowie jenes von A. und B. zu schützen. Seine Gewaltausbrüche waren zuvor auf den Umkreis des Zuhauses beschränkt gewesen. Ein Betretungsverbot war geeignet, diese zu verhindern, insbesondere weil er sich an eine solche Maßnahme 2010 vollumfänglich gehalten hatte. Auch wenn es aufgrund des anhängigen Scheidungsverfahrens Hinweise auf eine gewisse Gewalteskalation gab, so führte das nicht zur Schlussfolgerung, dass an einem öffentlichen Ort eine Gefahr für das Leben der Kinder existierte. Unter diesen Umständen war keine reale und unmittelbare Gefahr wahrnehmbar, dass E. einen geplanten Mord begehen würde, indem er eine Schusswaffe erlangte und seinen Sohn in der Schule erschoss. Der GH sieht deshalb keinen Grund, von der Beurteilung der innerstaatlichen Behörden abzugehen, wonach kein erkennbares reales und unmittelbares Risiko für das Leben der Kinder bestand, berücksichtigt man alle Umstände und insbesondere die Tatsachen, dass: ein Betretungsverbot erlassen worden war, das es ihm untersagte, in die eheliche Wohnung und zur Wohnung der Eltern der Bf. und der jeweiligen Umgebung zurückzukehren und das zwei Jahre zuvor wirksam gewesen war; im Zeitraum zwischen Juli 2010 und Mai 2012 kein weiterer Vorfall gemeldet worden war; und nicht bekannt war, dass E. eine Waffe besaß. Der GH stimmt zu, dass die Behörden berechtigt waren zum Schluss zu kommen, dass eine schwerwiegendere Maßnahme gegen E. wie etwa Untersuchungshaft unter den ihnen bekannten Umständen nicht gerechtfertigt war.
Die positive Verpflichtung, einen Regelungsrahmen einzusetzen
(77) Zum Zweiten wendet sich der GH der Rüge der Bf. zu, wonach der Regelungsrahmen zur Zeit der Ereignisse unzureichend gewesen sei, um das Leben ihres Sohnes zu schützen. In diesem Zusammenhang wiederholt der GH, dass seine Prüfung des innerstaatlichen Regelungsrahmens keine abstrakte ist, sondern er die Weise beurteilt, auf welche dieser die Bf. im speziellen Fall betraf.
(78) Die Bf. rügte, dass das SPG in seiner damaligen Fassung eine »Lücke« aufgewiesen hätte, da es der Polizei nicht gestattet hätte, das Betretungsverbot auf Örtlichkeiten jenseits des Umkreises der Wohnung auszuweiten. Diesbezüglich verweist der GH auf seine obige Begründung, wonach unter den den Behörden bekannten Umständen keine Gefahr für das Leben des Sohnes der Bf. erkennbar war, wenn er sich in der Schule befand. Ihr Argument, wonach die Änderung von § 38a SPG nach den fraglichen Ereignissen als »Anerkennung« der behaupteten rechtlichen Mängel interpretiert werden und folglich zur Zuerkennung einer Entschädigung zu ihren Gunsten führen müsse, ist nicht schlüssig. Die Verbesserung eines rechtlichen Rahmens nach einem Verbrechen kann als solche nicht als Anerkennung eines vorherigen Mangels verstanden werden.
(79) Es ist wert festzuhalten, dass die Bf. selbst sich der akuten Gefahr nicht bewusst gewesen zu sein scheint, die von ihrem Mann nach dem gemeldeten Vorfall vom 22.5.2012 im Hinblick auf ihre Kinder ausging. Sie blieb nach dem Vorfall drei Tage lang in der ehelichen Wohnung, bevor sie sich an die Behörden wandte. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es ihr unmöglich gewesen wäre, früher polizeilichen Schutz zu suchen. Außerdem wusste sie, dass sie vom zuständigen BG eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO erlangen hätte können. Eine Anordnung nach der letztgenannten Bestimmung hätte E. von öffentlichen Orten [...] verbannen können. Der Umstand, dass sie nach dem Gewaltausbruch ihres Mannes keinen solchen Antrag stellte, weist darauf hin, dass sie selbst keinen unmittelbaren Bedarf für eine solche Maßnahme sah. In diesem Zusammenhang bemerkt der GH auch, dass die Bf. ihren Kindern nach dem Erlass des Betretungsverbots sagte, dass sie ihren Vater sehen könnten, wann immer sie wollten. Diese Erwägungen implizieren keine Kritik gegenüber der Bf., zeigen aber, dass obwohl ein Rechtsrahmen für den Schutz der Bf. und ihrer Kinder existierte, davon kein voller Gebrauch gemacht wurde, weil tragischerweise zu dieser Zeit kein reales und unmittelbares Risiko für das Leben des A. in der Schule erkennbar war.
Ergebnis
(80) Unter diesen Umständen kommt der GH zum Schluss, dass die zuständigen Behörden es nicht verabsäumten, ihren positiven Verpflichtungen im Hinblick auf das Leben des Sohnes der Bf. nachzukommen. Er stellt daher fest, dass keine Verletzung von Art. 2 EMRK erfolgte (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Hüseynov).
Vom GH zitierte Judikatur:
Osman/GB v. 28.10.1998 (GK) = NL 1998, 221
Kontrová/SK v. 31.5.2007 = NL 2007, 133
Opuz/TR v. 9.6.2009 = NL 2009, 154
Talpis/I v. 2.3.2017
Fernandes de Oliveira/P v. 31.1.2019 (GK) = NLMR 2019, 21
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.7.2019, Bsw. 62903/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 289) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.