Bsw50053/16 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Harisch gg. Deutschland, Urteil vom 11.4.2019, Bsw. 50053/16.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Begründung der Ablehnung der Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens beim EUGH.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Der Bf. ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in München, wo er mit seinem Partner einen Telefonauskunftsdienst, die T. AG, gründete. Letztere erhielt gegen eine Gebühr die erforderlichen Teilnehmerinformationen von der Deutschen Telekom AG (DTAG). 2007 und 2008 musste die DTAG der T. AG einen Teil der bezahlten Gebühren rückerstatten, da sie exzessiv gewesen waren.
2005 brachte der Bf. eine Klage gegen die DTAG ein, da seine Anteile und die seines Partners vor dem Börsengang der Firma aufgrund der von der T. AG bezahlten exzessiven Gebühren geschmälert worden wären. Aufgrund der niedrigeren Einstufung der Firma am Tag des Bösengangs hätte er einen finanziellen Schaden erlitten. Das Landgericht München wies seine Klage jedoch ab.
Der Bf. legte dagegen ein Rechtsmittel ein, worin er sich auch über die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf seinen Fall und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH und des BGH äußerte. Diese Frage wurde vom OLG München im Zuge der mündlichen Verhandlung erörtert, wobei es zu dem Schluss kam, dass die Rechtsprechung des EuGH zur strittigen Frage klar sei und das EU-Recht auf den Fall des Bf. nicht zur Anwendung komme. Letzterer stellte daraufhin den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens und Einholung einer Vorabentscheidung beim EuGH zur Auslegung von Art. 102 AEUV (missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt).
Mit Urteil vom 2.7.2014 wies das OLG München das Rechtsmittel des Bf. mit der Begründung ab, die von ihm geltend gemachten Ansprüche könnten nicht auf das EU-Recht gestützt werden. Das OLG führte im Detail aus, warum die Rechtsansicht des Bf. von der Judikatur des EuGH, auf die es ausführlich Rückgriff nahm, nicht gestützt werden könne und bezog sich auch auf die einschlägige Rechtsprechung des BGH. Es sah ebenso keinen Grund, dem Bf. die Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zu gestatten, da der Rechtsfrage, wer vom Schutzbereich des Art. 102 AEUV umfasst und folglich zu einer Entschädigung iSv. Art. 823 Abs. 2 BGB oder § 33 Abs. 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen berechtigt sei, keine erhebliche Bedeutung zukomme.
Der Bf. erhob gegen die Verweigerung der Zulassung zur Revision Beschwerde an den BGH, worin er sein die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH betreffendes Vorbringen wiederholte. Der BGH wies seine Beschwerde mit Beschluss vom 14.4.2015 mit kurzer Begründung ab und nahm gemäß § 544 Abs. 4 ZPO 2. Satz 2. Halbsatz (Anm: Diese Bestimmung lautet: »[…] Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. […]«) von einer weiteren Begründung Abstand. Die dagegen eingebrachte Anhörungsrüge des Bf. wegen unzureichender Begründung der Verweigerung der Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens wurde vom BGH mit dem Hinweis zurückgewiesen, seine Entscheidung als Höchstgericht hätte keiner detaillierteren Begründung bedurft.
Das vom Bf. angerufene BVerfG lehnte eine Behandlung seiner Beschwerde ohne Angabe von Gründen ab.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. beklagt sich über die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen zu unterbreiten, ohne dafür ausreichende Gründe anzuführen, was eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK darstelle.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK
(29) [...] Der GH erklärt die Beschwerde für zulässig (einstimmig).
(33) Er erinnert vorerst daran, dass den nationalen Gerichten die Interpretation und Anwendung innerstaatlichen Rechts – im Einklang mit dem EU-Recht, sofern es anwendbar ist – ebenso zukommt wie die Entscheidung darüber, ob sie vor Fällung eines Urteils den EuGH zwecks Einholung einer Vorabentscheidung anrufen sollten. Die Konvention als solche gewährleistet kein Recht auf Verweisung eines Falls an den EuGH zur Vorabentscheidung durch ein innerstaatliches Gericht. Andererseits hat der GH bereits festgehalten, dass diese Angelegenheit insofern nicht von Art. 6 Abs. 1 EMRK losgelöst betrachtet werden kann, als die Weigerung eines Gerichts, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, unter gewissen Umständen die Fairness eines Verfahrens beeinträchtigen kann, sollte sich die Weigerung als willkürlich herausstellen. Letzteres ist dann der Fall, wenn die anwendbaren Regeln ausnahmslos keine Vorabentscheidung zulassen, wenn die Verweigerung einer solchen auf anderen als in den Verfahrensregeln vorgesehenen Gründen beruht oder wenn die Weigerung nicht ordnungsgemäß begründet wird (vgl. Ullens de Schooten und Rezabek/B, Rn. 54-59). [...]
(34) Allerdings darf die Verpflichtung zur Angabe von Gründen nicht so verstanden werden, dass sie eine detaillierte Antwort auf jedes vorgetragene Argument erfordern würde, variiert deren Ausmaß doch je nach der Natur der Entscheidung und muss anhand der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden. [...]
(35) Aus dem Blickwinkel von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist es akzeptabel, wenn die nationalen übergeordneten Gerichte eine Beschwerde unter bloßem Verweis auf die relevanten rechtlichen Bestimmungen, die derartige Beschwerden erfassen, abweisen, falls die Angelegenheit kein rechtliches Problem von fundamentaler Bedeutung aufwirft. Bei der Abweisung eines Rechtsmittels braucht ein Rechtsmittelgericht daher im Prinzip den von der Unterinstanz angeführten Gründen einfach nur beizupflichten [...].
(36) Diese Prinzipien spiegeln sich in der Rechtsprechung des GH wider, wie sie kürzlich im Fall Baydar/NL zusammengefasst wurden. [...] In [seinem Urteil im Fall] Dhabi/I formulierte der GH folgende Prinzipien hinsichtlich der Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte unter Art. 6 EMRK für den Fall eines Antrags auf Einholung einer Vorabentscheidung an den EuGH, sofern dieser [vom Antragsteller] angemessen begründet wurde:
»Art. 6 EMRK verpflichtet die nationalen Gerichte zur Angabe von Gründen im Lichte des anzuwendenden Rechts in allen Fällen, in denen sie sich weigern, [dem EuGH] eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen; [...]
– im speziellen Kontext von Art. 234 EUV (nun Art. 267 AEUV) bedeutet dies, dass nationale Gerichte, gegen deren Entscheidungen kein Rechtsmittel gemäß innerstaatlichem Recht zur Verfügung steht und die ein Ersuchen um Einholung einer Vorabentscheidung an den EuGH betreffend eine im Zuge des Verfahrens aufgeworfene Frage bezüglich der Auslegung des Unionsrechts abgelehnt haben, eine Begründung für die Ablehnung im Lichte der vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelten Ausnahmen abgeben müssen. Sie müssen daher Gründe dafür angeben, warum genau diese Frage irrelevant ist bzw. die fragliche Bestimmung des Unionsrechts vom EuGH bereits ausgelegt wurde oder die korrekte Anwendung des EU-Rechts so offensichtlich ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel bleibt.«
(37) Angewendet auf den gegenständlichen Fall ist zunächst zu vermerken, dass der BGH iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV jenes Gericht darstellte, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden konnten, mag dieser auch »nur« über die Beschwerde des Bf. gegen die Nichtzulassung zur Revision entschieden haben. Der GH hält ferner fest, dass der BGH die Gründe für die Verweigerung der Zulassung zur Revision nur kurz darlegte und unter Berufung auf § 544 ZPO von einer weiteren Begründung absah.
(38) Andererseits ist festzuhalten, dass der Bf. ein Vorabentscheidungsersuchen nicht nur beim BGH, sondern zuvor auch beim OLG München stellte. Letzteres prüfte ungeachtet dessen, dass es sich bei ihm nicht um das letztinstanzliche Gericht iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV handelte, das Unionsrecht im Detail und bezog sich in seinen Schlussfolgerungen ausführlich auf die Rechtsprechung des EuGH. Das OLG hielt in seinem Urteil auch fest, »dass keine Notwendigkeit für eine Klarstellung der vom Bf. aufgeworfenen Rechtsfrage vorliegt, da hinsichtlich der Reichweite und der Auslegung dieser rechtlichen Bestimmungen kein Zweifel besteht.« Darüber hinaus wurde die Frage der Anwendbarkeit des EU-Rechts von den Parteien im Zuge der mündlichen Verhandlung diskutiert, wobei das OLG darlegte, dass seiner Ansicht nach die Rechtsprechung des EuGH in diesem Punkt klar und das EU-Recht – im Gegensatz zum Standpunkt des Bf. – auf seinen Fall nicht anwendbar sei. Der GH ist daher insgesamt der Meinung, dass das OLG erklärte, warum hinsichtlich der korrekten Anwendung von deutschem und EU-Recht keine vernünftigen Zweifel bestanden und wie die aufgeworfene Frage gelöst werden konnte.
(39) Der GH hält ferner fest, dass das OLG gemäß § 543 ZPO darüber zu entscheiden hatte, ob der Fall von »grundsätzlicher Bedeutung« und die Revision daher aus diesem Grund zuzulassen war. Wie auch die Regierung hervorgehoben hat, ist eine rechtliche Angelegenheit nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH und des BVerfG stets von »grundsätzlicher Bedeutung«, wenn sie eine einheitliche Auslegung des – für den Fall entscheidungsrelevanten – EU-Rechts erfordert und daher die Verweisung der Sache [an den EuGH] zwecks Einholung einer Vorabentscheidung während des Rechtsmittelverfahrens sehr wahrscheinlich macht. Basierend auf der besagten Rechtsprechung schließt die Verweigerung der Zulassung zur Revision die Erwägung ein, dass eine Verweisung der Sache an den EuGH im fraglichen Fall nicht erforderlich ist. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass das OLG den diesbezüglichen Antrag des Bf. in Erwägung zog und ihn gleichzeitig mit der Nichtzulassung zur Revision ablehnte.
(40) Aus demselben Grund ist der GH der Ansicht, dass der BGH als zur Entscheidung über die Vorlage einer Frage iSv. Art. 267 AEUV berufenes Gericht keine Notwendigkeit für eine Verweisung [der vom Bf. formulierten Frage] an den EuGH sah, indem er bekräftigte, dass diese keine rechtliche Angelegenheit von »grundsätzlicher Bedeutung« betraf.
(41) Der GH hat bereits in früheren Fällen akzeptiert, dass ein übergeordnetes Gericht seine Entscheidungsgründe unter Umständen aus dem Sachverhalt ableiten oder sich einfach den Schlussfolgerungen der Unterinstanz anschließen kann. In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass auch das BVerfG nur verlangt, dass sich die Gründe für eine Ablehnung entweder den Schlussfolgerungen des Gerichts letzter Instanz oder andernfalls jenen eines untergeordneten Gerichts entnehmen lassen. Angesichts der Tatsache, dass das OLG hinsichtlich der Verweigerung der Zulassung zur Revision detaillierte Gründe vorbrachte, nachdem es die Frage [der Anwendbarkeit] des EU-Rechts mit den Parteien in der mündlichen Verhandlung diskutiert hatte, vertritt der GH die Meinung, dass die Umstände des vorliegenden Falles es dem Bf. gestatteten, die Entscheidung des BGH nachzuvollziehen.
(42) Unter Berücksichtigung [...] der Pflicht der innerstaatlichen Gerichte gemäß Art. 6 EMRK, Gründe [für ihre Entscheidung] anzuführen und nach Prüfung des Verfahrens als Ganzes kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die nationalen Gerichte dem Bf. eine detaillierte Erklärung lieferten, warum die von diesem beantragte Verweisung [des Falls zur Vorabentscheidung] an den EuGH abgelehnt wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich beim BGH um das letztinstanzliche Gericht iSv. Art. 267 AEUV handelte, ist der GH dennoch der Auffassung, dass es unter den speziellen Umständen des vorliegenden Falls akzeptabel war, dass der BGH von einer umfassenderen Offenlegung seiner Beweggründe Abstand nahm und im Zuge der Entscheidung über die Beschwerde des Bf. gegen die Nichtzulassung zur Revision bloß auf die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen verwies.
(43) Die vorhergehenden Erwägungen reichen aus, um zum Schluss zu gelangen, dass die Verweigerung, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, welche nicht willkürlich erscheint, ausreichend begründet wurde. Folglich hat keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Ullens de Schooten und Rezabek/B v. 20.9.2011 = NLMR 2011, 279
Stichting Mothers of Srebrenica u.a./NL v. 11.6.2013 (ZE) = NLMR 2013, 229
Dhahbi/I v. 8.4.2014
Baydar/NL v. 24.4.2018
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.4.2019, Bsw. 50053/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 138) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.