JudikaturAUSL EGMR

Bsw28859/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. März 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Drelingas gg. Litauen, Urteil vom 12.3.2019, Bsw. 28859/16.

Spruch

Art. 7 EMRK - Rückwirkende Verurteilung für in den 1950ern begangenen Völkermord.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Am 15.6.1940 marschierte die sowjetische Armee in Litauen ein. Am 3.8.1940 wurde Letzteres der Sowjetunion einverleibt. Nachdem Deutschland Litauen zwischen 1941 und 1944 besetzt hatte, wurde die sowjetische Herrschaft im Juli 1944 wiederhergestellt. In Litauen entwickelte sich sodann eine landesweite Partisanenbewegung gegen die russische Besatzung mit dem Ziel der litauischen Unabhängigkeit. Diese wurde erst am 11.3.1990 erreicht und von der Sowjetunion am 6.9.1991 offiziell anerkannt. Die russische Armee verließ Litauen am 31.8.1993.

Der Bf. gehörte nach dem 2. Weltkrieg dem litauischen Staatssicherheitsdienst an. 1956 nahm er an einer Operation zur Festnahme von zwei bedeutenden Partisanen, A. R. und B. M., teil. A. R. wurde in der Folge exekutiert, B. M. in ein Gefangenenlager in Sibirien verbracht.

Der Bf. wurde im Zusammenhang mit dieser Operation vom Landgericht Kaunas am 12.3.2015 wegen Mittäterschaft zum Völkermord nach Art. 99 StGB (Anm: Dieser lautet: »Eine Person, die versucht, einige oder alle Mitglieder einer nationalen, ethnischen, rassischen, religiösen, sozialen oder politischen Gruppe physisch zu vernichten, und dazu deren Tötung, Folter oder Körperverletzung organisiert, dafür die Verantwortung trägt oder sich daran beteiligt, [...] sie deportiert, [...] ist mit einer Haftstrafe zwischen fünf und 20 Jahren oder lebenslänglicher Haft zu bestrafen.«) für schuldig befunden und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Berufungsgericht und das Oberste Gericht (im Plenum) bestätigten die Verurteilung am 10.7.2015 bzw. am 12.4.2016. Letzteres reduzierte die Haftstrafe des Bf. dabei jedoch auf fünf Monate. Zur Begründung verwiesen die Gerichte darauf, dass Völkermord zur Zeit der Begehung der Tat durch den Bf. im Völkerrecht als Straftat anerkannt gewesen sei. (Anm: Art. 2 der Völkermordkonvention (Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948, BGBl. 91/1958) bestimmt: »In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe [...].« Litauen trat der Völkermordkonvention erst 1992 bei. In der Folge wurde der Straftatbestand des Völkermordes im innerstaatlichen Recht verankert.) Das Oberste Gericht erläuterte ausführlich, warum die beiden Partisanen als Mitglieder einer eigenen nationalen und ethnischen Gruppe angesehen werden konnten und daher unter die Völkermordkonvention fielen. Der Bf. hätte sich daher bewusst sein müssen, dass er für seine Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden konnte. Die Gerichte betonten zudem, dass auch wenn der Bf. behauptete, die Partisanen nicht persönlich festgenommen zu haben und nichts mit ihrer Verurteilung, Exekution bzw. Deportation zu tun gehabt zu haben, ihm deren drohendes Schicksal als ranghoher Offizier wohl bewusst sein musste.

Der vorliegende Fall steht in einem engen Zusammenhang mit dem Urteil des EGMR in Vasiliauskas/LT in einem ähnlich gelagerten Fall. Die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigten die in letztgenanntem Urteil getroffenen Feststellungen bei ihrer Beurteilung des vorliegenden Falles. In Vasiliauskas/LT hatte der EGMR eine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt, weil die Gerichte das Delikt des Völkermords auf eine unvorhersehbare Weise ausgelegt hatten. Insbesondere hatten sie nicht ausreichend begründet, inwiefern die Partisanen von den Begriffen »nationale« und »ethnische« Gruppe in der zur Zeit der Tat bereits geltenden Völkermordkonvention umfasst und inwiefern sie als »politische Gruppe« von dieser geschützt gewesen wären.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte, dass die weite Auslegung des Verbrechens des Völkermords durch die litauischen Gerichte keine Grundlage im Wortlaut dieser Straftat hatte, so wie sie im Völkerrecht definiert war. Dadurch sei eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) erfolgt.

Zulässigkeit

(58) Der GH hält fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

In der Sache

(100) Im vorliegenden Fall beschränkte sich das Vorbringen der Regierung im Wesentlichen auf die Frage, ob die Situation des Bf. im Hinblick auf seine Verurteilung wegen Völkermord [...] im Einklang mit den Anforderungen aus Art. 7 EMRK steht, so wie diese im Urteil Vasiliauskas/LT dargelegt wurden. In diesem Zusammenhang wird der GH zunächst untersuchen, ob die mangelnde Klarheit in der innerstaatlichen Rechtsprechung nun beseitigt wurde und bejahendenfalls, ob die einschlägigen Erfordernisse im Fall des Bf. nun erfüllt wurden.

(101) Das Oberste Gericht analysierte in seiner Entscheidung vom 12.4.2016 den Inhalt des Urteils des GH vom 20.10.2015. Er leitete aus dem letztgenannten Urteil ab, dass der GH eine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt hätte, weil die litauischen Gerichte es verabsäumt hätten, ihre Schlussfolgerungen angemessen zu substantiieren, wonach die litauischen Partisanen einen wesentlichen Teil einer nationalen Gruppe darstellten, also einer Gruppe, die von Art. 2 der Völkermordkonvention geschützt wird. Ein solches Verständnis des Urteils des GH durch das Oberste Gericht wird auch durch dessen folgende Entscheidung im wiederaufgenommenen Fall Vasiliauskas bestätigt, wo er darauf hinwies, dass die innerstaatlichen Gerichte während des ursprünglichen Verfahrens gegen Herrn V. Vasiliauskas keine ausreichende Begründung geliefert hätten, um die spezifische [Rolle] der Partisanen im Hinblick auf die nationale Gruppe zu rechtfertigen.

(102) Im Lichte der Grundsätze, welche die Vollstreckung von Urteilen regeln, erachtet der GH es für unnötig, zur Gültigkeit der Auslegung des Obersten Gerichtes Position zu beziehen. Tatsächlich reicht es für den GH aus, sich davon zu überzeugen, dass die Entscheidung vom 12.4.2016 sein Urteil nicht verzerrte oder falsch darstellte.

(103) Der GH kann nur festhalten, dass das Oberste Gericht im Fall des Bf. in der Tat eine umfassende Erklärung lieferte und nähere Ausführungen dazu traf, was unter der »Nation« zu verstehen war, sowie zu Elementen, die zum Schluss geführt hatten, dass die litauischen Partisanen »einen bedeutenden Teil der litauischen Nation als nationaler und ethnischer Gruppe« darstellten. Unter anderem hielt das Oberste Gericht fest, dass die sowjetische Unterdrückung gegen den aktivsten und prominentesten Teil der litauischen Nation (lietuviu tauta) zielte, die definiert wurde durch die Kriterien der Nationalität und Ethnizität. Diese repressiven Akte hätten das klare Ziel gehabt, die demografische Situation der litauischen Nation zu beeinflussen. Im Gegenzug hätten die Mitglieder des Widerstands – litauische Partisanen, ihre Verbindungspersonen und ihre Unterstützer – einen bedeutenden Teil der litauischen Bevölkerung als nationaler und ethnischer Gruppe repräsentiert, weil die Partisanen eine wesentliche Rolle beim Schutz der nationalen Identität, Kultur und des nationalen Selbstbewusstseins der litauischen Nation gespielt hätten. Solche Charakteristika würden laut dem Obersten Gericht zum Schluss führen, dass die Partisanen als Gruppe ein bedeutender Teil einer geschützten nationalen und ethnischen Gruppe waren und ihre Auslöschung deshalb Völkermord dargestellt hätte, und zwar sowohl nach Art. 99 StGB als auch nach Art. 2 der Völkermordkonvention [...]. Somit befindet der GH, dass das Oberste Gericht sich mit der Schwachstelle befasst hat, die von ihm im Urteil Vasiliauskas/LT identifiziert wurde, wo er festgehalten hatte, dass »in der Sachverhaltsfeststellung durch die innerstaatlichen Strafgerichte keine solide Feststellung zu finden war, um es dem GH zu ermöglichen zu beurteilen, auf welcher Basis die innerstaatlichen Gerichte zum Schluss gekommen waren, dass die litauischen Partisanen 1953 einen bedeutenden Teil der nationalen Gruppe oder mit anderen Worten einer unter Art. 2 der Völkermordkonvention geschützten Gruppe dargestellt hätten«.

(104) Der GH hält ebenso fest, dass das Oberste Gericht sich [...] auch auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 18.3.2014 stützte, das [...] einen historischen Kontext im Hinblick auf die Partisanenbewegung in Litauen und deren Bedeutung für die litauische Nation lieferte. Der GH anerkennt daher das Argument der Regierung hinsichtlich einer sukzessiven Klarstellung der innerstaatlichen Rechtsprechung zur speziellen Rolle der Partisanen.

(105) Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität und des Wortlauts seines Urteils aus 2015 befindet der GH, dass die Feststellung des Obersten Gerichts, wonach der Bf. des Völkermords an den Partisanen A. R. [...] und B. M. [...] schuldig wäre und die Partisanen wesentlich für das Überleben der gesamten nationalen Gruppe (der litauischen Nation) in ihrer Definition nach ethnischen Merkmalen gewesen wären, reichlich Hinweise auf die Gründe bietet, auf die sie gestützt wurde. Diese Gründe verfälschen das Urteil des GH nicht. Ganz im Gegenteil handelte es sich dabei um eine loyale Interpretation des Urteils des GH, die im guten Glauben vorgenommen wurde, um die internationalen Verpflichtungen Litauens zu erfüllen. Der GH kommt daher zum Schluss, dass die Auslegung des Urteils des GH aus 2015 durch das Oberste Gericht insgesamt gesehen nicht das Ergebnis eines offenkundigen tatsächlichen oder rechtlichen Fehlers war und nicht zur unvorhersehbaren Verurteilung des Bf. wegen Völkermord führte.

(106) Gleichermaßen misst der GH im Zusammenhang mit der Untersuchung, wie das Oberste Gericht die Quintessenz der Feststellungen des GH in Vasiliauskas/LT aufnahm, dem Umstand Gewicht bei, dass es in dem wiederaufgenommenen Strafverfahren in dem Fall ohne den leisesten Vorbehalt anerkannte, dass die Auslegung der Rolle der Partisanen, die in diesem Fall zuvor von den Strafgerichten vorgenommen worden war, unzureichend und somit mangelhaft gewesen wäre.

(107) Der GH beobachtet, dass das Oberste Gericht in seinen Entscheidungen [...] auch einen anderen Mangel behob, auf den vom GH im Fall Vasiliauskas/LT hingewiesen worden war. Im Fall M. M. hielt es nämlich fest, dass der Genozid an Personen, die einer politischen Gruppe angehörten, die von Art. 2 der Völkermordkonvention nicht geschützt wurde, nicht rückwirkend verfolgt werden konnte. Im wiederaufgenommenen Strafverfahren gegen Herrn V. Vasiliauskas hielt das Oberste Gericht gleichermaßen fest, dass [...] eine solche Verfolgung nicht fortgesetzt werden konnte.

(108) Der GH befindet, dass die Entscheidung in Drelingas [...] die Unklarheit beseitigte, die in Vasiliauskas/LT identifiziert wurde und die aus einer Diskrepanz im innerstaatlichen Recht entstand, nämlich zwischen Art. 99 StGB und Art. 2 der Völkermordkonvention. Zudem brachte das Oberste Gericht eine Klarstellung im Hinblick auf den Umfang der Prüfung mit sich, wenn von den innerstaatlichen Gerichten die Anklagen wegen Völkermord untersucht werden, einschließlich des Verbots der rückwirkenden Verfolgung von Völkermord von Individuen, die zu einer politischen Gruppe gehören, und der Notwendigkeit, Vorsatz nachzuweisen. [...] Somit weist das innerstaatliche System [...] nicht länger den Widerspruch auf, den der GH in Vasiliauskas/LT identifizierte. Die gesetzliche Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte, die Rechtsprechung des Obersten Gerichtes zu berücksichtigen, bietet einen wichtigen Schutzmechanismus für die Zukunft.

(109) Wie der GH oft festgehalten hat, liegt die primäre Verantwortung für den Schutz der Rechte aus der Konvention bei den innerstaatlichen Behörden. Er befindet, dass das Oberste Gericht aus dem Vasiliauskas-Urteil die nötigen Schlussfolgerungen zog und sich durch die Klarstellung der innerstaatlichen Rechtsprechung mit der Ursache der Konventionsverletzung befasste.

(110) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zum Schluss, dass die Verurteilung des Bf. wegen Völkermord [...] als vorhersehbar angesehen werden kann [...].

(111) Die vorangehenden Erwägungen reichen aus, um zum Schluss zu kommen, dass keine Verletzung von Art. 7 EMRK erfolgte (5:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richterin Motoc und Richter Ranzoni).

Vom GH zitierte Judikatur:

Vasiliauskas/LT v. 20.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 419

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.3.2019, Bsw. 28859/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 141) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise