JudikaturAUSL EGMR

Bsw60561/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Juli 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache S. M. gg. Kroatien, Urteil vom 19.7.2018, Bsw. 60561/14.

Spruch

Art. 4 EMRK - Behördliche Ermittlungspflicht in Fall von Zwangsprostitution.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 4 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 27.9.2012 erstattete die Bf. bei der Polizei Anzeige gegen einen gewissen T. M., mit dem sie gemeinsam in einer Wohnung lebte, und behauptete, dieser hätte sie zwischen Sommer und September 2011 mit psychischer und körperlicher Gewalt zur Prostitution gezwungen.

Die Staatsanwaltschaft eröffnete daraufhin eine Untersuchung, im Zusammenhang mit der sie auch die Räumlichkeiten von T. M. durchsuchte, und nahm die Aussage der Bf. auf. Diese gab an, von T. M. ab Juli 2011 immer wieder zur Gewährung sexueller Dienstleistungen an Dritte gezwungen worden zu sein, zum Teil in ihrer gemeinsamen Wohnung, zum Teil auch bei den Freiern zuhause. Insgesamt hätte sie in dieser Zeit etwa dreißig Kunden gehabt. T. M. hätte sie ständig kontrolliert und ihr auch den Schlüssel für die gemeinsame Wohnung abgenommen, so dass sie Letztere nicht frei verlassen hätte können. Wenn er mit ihr nicht zufrieden gewesen sei, hätte er sie geschlagen. Sie hätte Angst davor gehabt, die Polizei zu kontaktieren, da T. M. früher selbst Polizist gewesen war und betont hätte, noch gute Beziehungen zu dieser zu haben. Überdies hätte er ihr mit Gewalt gedroht, sollte sie irgendjemand Bescheid sagen. Eines Tages hätte sie dennoch ihre Freundin M. I. angerufen und um Hilfe gebeten, um ihrem Martyrium entkommen zu können. Der Partner ihrer Freundin hätte sie daraufhin abgeholt und sie sich sodann bei ihrer Freundin einquartiert.

Nachdem die Strafverfolgungsbehörden M. I. einvernommen hatten, erhoben sie am 6.11.2012 Anklage gegen T. M. wegen Zwingens einer anderen Person zu Prostitution im Zusammenhang mit Zuhälterei.

Die Bf. erhielt am 21.12.2012 den Status eines Opfers von Menschenhandel zugesprochen. Die Polizei informierte das kroatische Rote Kreuz, dessen Mitarbeiter die Bf. über ihre Rechte (Unterkunft, ärztliche Untersuchungen, psychosoziale sowie materielle Unterstützung, Rechtsbeistand) informierten. Die Bf. nahm einige dieser Rechte in Anspruch, verzichtete aber etwa auf jenes auf Unterbringung, da sie über eine Wohngelegenheit verfügte. Die gerichtliche Vorladung der Bf. enthielt ebenfalls detaillierte Informationen über ihre Opferrechte.

T. M. bestritt bei seiner Einvernahme im Strafverfahren, die Bf. zur Prostitution gezwungen zu haben. Diese hätte die sexuellen Dienstleistungen vielmehr freiwillig angeboten. Die Bf. wiederholte ihre frühere Aussage. Nachdem sie darauf hingewiesen hatte, dass sie sich vor dem Angeklagten fürchten würde, wurde dieser währenddessen aus dem Gericht entfernt.

Am 15.2.2013 sprach das Strafgericht T. M. vom Vorwurf frei, die Bf. zur Prostitution gezwungen zu haben. Es begründete dies insbesondere damit, dass die Aussage der Bf. nicht ausreichend glaubwürdig sei. Diese sei nämlich inkohärent und die Bf. selbst unsicher gewesen. Insbesondere habe sie beim Sprechen immer wieder pausiert und gezögert. Da es keine weiteren schlüssigen Beweise gebe, sei T. M. im Zweifel freizusprechen. Das Landgericht bestätigte dieses Urteil in der zweiten Instanz. Das Verfassungsgericht erklärte die von der Bf. dagegen erhobene Beschwerde für unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügte eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) wegen der Unzulänglichkeit des innerstaatlichen Rechtsrahmens und des Fehlens einer angemessenen Reaktion der innerstaatlichen Behörden auf ihre Behauptungen, sie sei von T. M. zur Prostitution gedrängt oder von ihm durch Prostitution ausgebeutet worden. Insbesondere rügte sie, die innerstaatlichen Behörden hätten es verabsäumt, alle Umstände des Falles zu erhellen und hätten ihre Beteiligung am Verfahren nicht angemessen gewährleistet.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Zulässigkeit

Einhaltung der sechsmonatigen Frist

(37) Die Regierung brachte vor, dass die Beschwerde nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist erhoben worden sei, die von dem Zeitpunkt ausgehend berechnet werden müsse, als das Berufungsurteil der Bf. zugestellt wurde, da ihre Verfassungsbeschwerde für unzulässig erklärt wurde. [...]

(39) Der GH muss die Frage nicht behandeln, ob eine Verfassungsbeschwerde im vorliegenden Fall ein Rechtsbehelf war, der im Hinblick auf die Anwendung der sechsmonatigen Frist erschöpft werden musste. Insbesondere ist festzuhalten, dass auch wenn die Frist von dem Zeitpunkt an zu berechnen ist, als der Bf. das Urteil des Landgerichts zugestellt wurde [...], dies am 28.2.2014 geschah, während sie ihre Beschwerde an den GH am 27.8.2014 erhob [...].

(40) Angesichts des Vorgesagten muss die Einrede der Regierung [...] zurückgewiesen werden.

Opferstatus der Bf.

(41) Die Regierung brachte ebenso vor, die Bf. hätte ihre Opfereigenschaft verloren, weil die nationalen Behörden ihren Status als Opfer von Menschenhandel anerkannt und ihr diesbezüglich Beistand und Unterstützung gewährt hätten.

(43) Die Argumente der Regierung betreffen mehr die Frage, ob die Bf. Unterstützung und Beistand als Opfer von Menschenhandel erhielt. Eine solche Frage ist im Zusammenhang mit der inhaltlichen Behandlung der Rügen der Bf. unter Art. 4 EMRK zu klären. Der GH weist die Einrede der Regierung daher zurück.

Ergebnis zur Zulässigkeit

(44) Der GH bemerkt, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und deshalb für zulässig zu erklären ist (mehrheitlich; abweichendes Sondervotum von Richterin Koskelo).

In der Sache

Anwendung von Art. 4 EMRK

(52) Zum vorliegenden Fall hält der GH fest, dass die Bf. vor den innerstaatlichen Gerichten rügte, von T. M. psychisch und physisch gezwungen worden zu sein, an einem von diesem organisierten Prostitutionsring teilzunehmen. Im innerstaatlichen Verfahren behauptete die Bf. auch, T. M. hätte den Geldbetrag festgelegt, der von ihren Kunden zu bezahlen war, und dass sie die Hälfte des Geldes, das sie durch das Anbieten sexueller Dienstleistungen verdient hatte, an T. M. abgegeben hätte. Dies führte zur Anerkennung ihres Status als Opfer von Menschenhandel durch die nationalen Behörden.

(53) Die nationalen Gerichte erachteten es für unbestritten, dass T. M. der Bf. ein Mobiltelefon übergeben hatte, damit Kunden sie für sexuelle Dienstleistungen kontaktieren konnten, dass T. M. sie zu den Kunden gefahren hatte oder dass sie in der Wohnung, die sie zusammen mit ihm bewohnt hatte, sexuelle Dienstleistungen gewährt hatte.

(54) Es gibt keinen Zweifel daran, dass Menschenhandel und die Ausnutzung der Prostitution die menschliche Würde und grundlegende Freiheiten der Opfer bedrohen und nicht als mit der demokratischen Gesellschaft und den in der Konvention dargelegten Werten vereinbar sind. Angesichts seiner Verpflichtung, die Konvention im Lichte der gegenwärtigen Bedingungen auszulegen, erachtet es der GH für unnötig festzulegen, ob die von der Bf. gerügte Behandlung »Sklaverei«, »Leibeigenschaft« oder »Zwangs- und Pflichtarbeit« darstellte. Stattdessen kommt der GH zum Schluss, dass der Menschenhandel selbst sowie die Ausnutzung der Prostitution iSv. Art. 3 lit. a des Palermo-Protokolls (Anm: Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15.11.2000, StF. BGBl. III 2005/220.) , Art. 4 lit. a des Europaratsübereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels (Anm: Konvention vom 16.5.2005, StF. BGBl. III 2008/10.), Art. 1 des UN-Übereinkommens zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer (Anm: Konvention vom 2.12.1949, UNTS vol. 96, 271.)und iSd. UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (Anm: Konvention vom 18.12.1979, BGBl. Nr. 1982/443.) in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fallen, und wird den vorliegenden Fall unter dieser Bestimmung prüfen. In diesem Zusammenhang ist es irrelevant, dass die Bf. Staatsangehörige des belangten Staates ist und kein internationales Element vorliegt, da Art. 2 des Europaratsübereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels »alle Formen des Menschenhandels, sei er innerstaatlich oder grenzüberschreitend« umfasst und das UN-Übereinkommen zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer sich auf die Ausnutzung der Prostitution im Allgemeinen bezieht.

Anwendung der allgemeinen Grundsätze aus der Rechtsprechung des EGMR auf den vorliegenden Fall

Existierte ein angemessener rechtlicher Rahmen?

(62) Im internationalen Recht stehen Prostitution, sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel in einer engen Beziehung zueinander. Um ihren Verpflichtungen unter Art. 4 EMRK nachzukommen, müssen die Staaten einen gesetzlichen und administrativen Rahmen errichten, der Zwangs- oder Pflichtarbeit, Leibeigenschaft und Sklaverei verbietet und bestraft. Von den Mitgliedstaaten muss ebenso verlangt werden sicherzustellen, dass im Hinblick auf Fälle von Zwangsprostitution wirksame strafrechtliche Bestimmungen in Kraft sind. [...]

(63) Auf der internationalen, europäischen und nationalen Ebene existiert ein breites Spektrum an Rechtsvorschriften, die sexuelle Ausbeutung – selbst mit der Zustimmung der ausgebeuteten Person – als Straftat qualifizieren. Es wird ebenso verbreitet anerkannt, dass Opfern von Ausnutzung der Prostitution angemessene Unterstützungsmaßnahmen gewährt werden müssen statt sie zu verfolgen.

(64) Um festzustellen, ob im vorliegenden Fall eine Verletzung von Art. 4 EMRK erfolgte, muss Ausgangspunkt daher der innerstaatliche rechtliche Rahmen und dessen Anwendung im individuellen Fall [...] sein.

(65) Der GH hält fest, dass Prostitution in Kroatien illegal ist. Sowohl die Ausnutzung der Prostitution, einschließlich Zwangsprostitution [...] als deren erschwerter Form, als auch das persönliche Anbieten von sexuellen Dienstleistungen sind unter Strafe gestellt. Die Delikte des Menschenhandels, der Sklaverei, der Zwangsarbeit und der Zuhälterei waren zu der Zeit, als die angeblichen Handlungen begangen und das fragliche Strafverfahren durchgeführt wurden, nach dem StGB verboten und sind es auch heute noch. Die Zustimmung eines Opfers ist für das Vorliegen der Straftat des Menschenhandels irrelevant. Seit 2013 wird dasselbe auch für Zuhälterei im StGB ausdrücklich festgehalten. Zudem ist der Kauf sexueller Dienstleistungen seit 2013 eine strafbare Handlung. Die Verfolgung aller obiger Straftaten oblag dem Büro des Staatsanwalts.

(66) Die kroatische StPO enthält daneben Bestimmungen zu den Rechten von Opfern von Straftaten und insbesondere von Opfern von Delikten gegen die sexuelle Freiheit [...].

(67) Weiters nahm die kroatische Regierung verschiedene strategische Dokumente an, die auf Prävention und die Bekämpfung von Menschenhandel abzielten und richtete spezialisierte Arbeitsgruppen ein, um Opfer von Menschenhandel zu unterstützen.

(68) Der GH ist daher überzeugt davon, dass zur Zeit, als die angebliche Straftat begangen und verfolgt wurde, in Kroatien ein angemessener Rechtsrahmen existierte, um sie im Hinblick auf Menschenhandel, Zwangsprostitution und Ausnutzung der Prostitution zu prüfen. [...]

Die der Bf. gewährte Unterstützung

(69) Die Regierung brachte vor, dass die Bf. über eine Reihe von Rechten im Zusammenhang mit ihrem Status als Opfer von Menschenhandel informiert worden sei und ihr verschiedene Formen von Unterstützung und Hilfe zuteil geworden seien, einschließlich des Rechtes zur Beratung sowie zur kostenlosen Verfahrenshilfe und des Rechtes, in der Verhandlung in Abwesenheit des Täters auszusagen. Die Bf. bestritt dieses Vorbringen allgemein, ohne speziell darauf hinzuweisen, welche Rechte oder Formen von Unterstützung ihr exakt verweigert worden wären.

(70) Der GH hält auch fest, dass die Bf. das Verhalten der nationalen Behörden, einschließlich des Verhaltens des Gerichts bei der Durchführung des Strafverfahrens gegen T. M., nie beanstandete oder diesbezüglich irgendeine Beschwerde erhob [...]. Auch brachte sie keine Rüge betreffend ihre Rechte als Opfer von Menschenhandel oder den Beistand, die Unterstützung oder irgendeine Form von Beratung vor, die ihr gewährt oder nicht gewährt wurden.

(72) Unter diesen Umständen akzeptiert der GH, dass die Bf. in der Tat die Unterstützung und den Beistand erhalten hat, die von der Regierung erwähnt wurden. Das umfasste an erster Stelle die Anerkennung ihres Status als Opfer von Menschenhandel. Als solches erhielt sie Beratung durch das kroatische Rote Kreuz und kostenlose rechtliche Unterstützung durch das von einer NGO durchgeführte, staatlich finanzierte und unterstützte Programm. Zudem wurde der Beschuldigte auf den Antrag der Bf. hin sofort aus dem Gerichtssaal entfernt, so dass sie in seiner Abwesenheit aussagen konnte.

Kam der Staat seinen verfahrensrechtlichen Verpflichtungen nach?

(74) Die Bf. behauptete vor den innerstaatlichen Behörden, sie sei von T. M. psychisch und physisch zur Prostitution gezwungen worden. Dies führte zur Anerkennung ihres Status als Opfer von Menschenhandel durch die nationalen Behörden. Diese Umstände brachten die Verpflichtung des Staates unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 4 EMRK mit sich, die Behauptungen der Bf. angemessen zu untersuchen.

(75) Der wesentliche vom GH zu prüfende Punkt ist, ob und inwieweit die Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit der Vornahme ihrer Handlungen und die Gerichte bei ihren Schlussfolgerungen den Fall der von Art. 4 EMRK verlangten sorgfältigen Prüfung unterworfen haben, so dass die abschreckende Wirkung des bestehenden Strafrechtssystems und die bedeutende Rolle, die es bei der Prävention von Verletzungen der durch Art. 4 EMRK geschützten Rechte spielen muss, nicht untergraben werden.

(76) Was die von den nationalen Behörden gesetzten Schritte betrifft, anerkennt der GH, dass die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden rasch handelten, insbesondere, indem sie die Räumlichkeiten von T. M. durchsuchten, die Bf. befragten und T. M. anklagten.

(77) Andererseits kann der GH nur festhalten, dass die Bf. selbst und ihre Freundin M. I. die einzigen Zeugen waren, die während der Ermittlungen befragt wurden. Während es zutrifft, dass M. I. die Aussage der Bf. nicht vollständig untermauerte, bemerkt der GH, dass es Hinweise gibt, dass es die Mutter von M. I. war und nicht M. I. selbst, an die sich die Bf. zwecks Hilfe wandte und mit der sie an dem Tag telefonierte, als sie aus der Wohnung flüchtete, die sie mit T. M. teilte. Unmittelbar, nachdem sie T. M. verlassen hatte, verbrachte die Bf. mehrere Monate bei M. I. und deren Mutter. Die Ermittlungsbehörden nahmen allerdings keine Aussage von M. I.’s Mutter auf. Desgleichen befragten sie M. I.’s Freund nicht, der die Bf. von ihrer Wohnung abgeholt und zur Wohnung von M. I. [...] gefahren hatte.

(78) Diese Elemente zeigen in Verbindung mit den weiter unten genannten, dass die nationalen Behörden keinen ernstzunehmenden Versuch unternahmen, alle relevanten Umstände gründlich zu untersuchen und alle verfügbaren Beweise zu sammeln. Sie machten keine weiteren Versuche, um die Freier der Bf. [...] zu identifizieren und zu befragen. Sie nahmen auch keine Aussagen von der Mutter der Bf., vom Vermieter oder von den Nachbarn der Bf. und von T. M. auf, die alle relevantes Wissen über die wahre Beziehung zwischen den beiden Letztgenannten sowie angebliche Züchtigungen durch T. M. und das Einsperren der Bf. in der Wohnung gehabt haben könnten.

(79) Der GH nimmt die Behauptungen der Bf. zur Kenntnis, sie sei wirtschaftlich von T. M. abhängig gewesen. Zudem hätte dieser verschiedene Formen von Zwang gegen sie eingesetzt wie etwa zu betonen, dass er ein ehemaliger Polizist sei, der ein »Waffenarsenal« besitze, oder Drohungen zu äußern, ihrer Familie wehzutun. Auch hätte er sie mit falschen Versprechungen manipuliert, dass er für sie einen »geeigneten Job« finden würde. Ebenso nimmt er Notiz von der Aussage von M. I., wonach die Bf. sehr verzweifelt gewesen sei und Angst vor T. M. gehabt habe, der die Bf. weiter über soziale Medien bedroht hätte, als sie bei M. I. lebte. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die nationalen Behörden einen ernstzunehmenden Versuch unternommen haben, diese Umstände gründlich zu untersuchen, die alle relevant für die Beurteilung waren, ob T. M. die Bf. zur Prostitution gezwungen hatte. Es scheint nicht berücksichtigt worden zu sein, dass die Polizei bei der Durchsuchung der Räumlichkeiten von T. M. mehrere automatische Gewehre gefunden hatte. Die nationalen Gerichte gewährten diesen Elementen keine angemessene Aufmerksamkeit und kamen zum Schluss, dass die Bf. freiwillig sexuelle Dienstleistungen vorgenommen habe. Zudem bemerkt der GH, dass die Einwilligung des Opfers nach dem UN-Übereinkommen zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer und nach dem Europaratsübereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels irrelevant ist.

(80) Der GH hält weiter fest, dass die nationalen Gerichte die Aussage der Bf. als unzuverlässig verwarfen, weil sie diese für inkohärent erachteten, die Bf. unsicher gewesen sei und beim Sprechen pausiert und gezögert hätte. Die nationalen Behörden nahmen keine Beurteilung der möglichen Auswirkung des seelischen Traumas auf die Fähigkeit der Bf. vor, die Umstände ihrer Ausbeutung widerspruchsfrei und klar wiederzugeben. Der GH akzeptiert angesichts der Verwundbarkeit von Opfern von Sexualdelikten auch, dass die Begegnung mit T. M. im Gerichtssaal negative Auswirkungen auf die Bf. gehabt haben konnte – ungeachtet dessen, dass T. M. später aus dem Gerichtssaal entfernt wurde.

Ergebnis

(81) Im Ergebnis zeigen die obigen Elemente, dass die [...] staatlichen Behörden unter den speziellen Umständen des Falles ihren prozessualen Verpflichtungen unter Art. 4 EMRK nicht nachgekommen sind. Es erfolgte daher eine Verletzung dieser Bestimmung (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Koskelo).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Beganovic/HR v. 25.6.2009

Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NLMR 2010, 20

C. N. und V./F v. 11.10.2012 = NLMR 2012, 332

C. N./GB v. 13.11.2012

Chowdury u.a./GR v. 30.3.2017 = NLMR 2017, 132

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.7.2018, Bsw. 60561/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 337) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_4/S.M..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise