Bsw76607/13 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Bikas gg. Deutschland, Urteil vom 25.1.2018, Bsw. 76607/13.
Spruch
Art. 6 Abs. 2 EMRK - Berücksichtigung weiterer Taten bei der Strafbemessung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wurde im Oktober 2009 wegen sexueller Nötigung in zumindest 300 Fällen angeklagt. Nach 17 Verhandlungstagen wurde die Anklage durch das Landgericht München II auf vier Vorfälle eingeschränkt, die sich zwischen 19. und 25.8.2007 zugetragen hatten. Im Hinblick auf alle weiteren Delikte, derer der Bf. angeklagt war, wurde das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt (Anm: Gemäß § 154 StPO kann das Gericht aus Gründen der Prozessökonomie und der Verfahrensbeschleunigung das Verfahren im Hinblick auf einzelne angeklagte Taten vorläufig einstellen, wenn die Strafe, zu der die Verfolgung führen kann, neben der wegen einer anderen Tat zu erwartenden Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fällt.). Der Bf. wurde darauf hingewiesen, dass die im Hinblick auf die weiteren Vorfälle getroffenen Feststellungen im Fall einer Verurteilung bei der Strafbemessung berücksichtigt werden könnten.
Am selben Tag verurteilte das Landgericht den Bf. wegen sexueller Nötigung in vier Fällen zu sechs Jahren Haft. Das Gericht stellte fest, dass der Bf. die psychisch leicht beeinträchtigte und an einer Sprachstörung leidende P. zwischen Jänner 2001 und Oktober 2007 mindestens 50 Mal dazu gezwungen hätte, ihn oral oder mit der Hand zu befriedigen. Zwischen 19. und 25.8.2007 hätte er sein Opfer gezwungen, ihn zumindest zweimal oral und weitere zweimal mit der Hand zu befriedigen. Das Gericht stützte sich auf die ausführliche Beschreibung verschiedener Vorfälle durch P., deren Wahrheitsgehalt durch weitere Zeugenaussagen und ein psychologisches Gutachten untermauert wurde. Das Gericht erklärte, dass es die Verurteilung auf die vier Vorfälle vom August 2007 beschränkt habe, aber »davon überzeugt [sei], dass es neben den vier abgeurteilten Taten im Zeitraum Januar 2001 bis Oktober 2007 zu mindestens 50 weiteren, vergleichbaren Fällen kam.« Eine Verurteilung dieser Vorfälle sei lediglich an der mangelnden Fähigkeit der Geschädigten gescheitert, die Vorfälle zeitlich und örtlich so zu konkretisieren, dass diese als prozessuale Taten abgrenzbar waren. Bei der Strafbemessung wertete das Landgericht den Umstand als erschwerend, »dass es nach Überzeugung der Kammer neben den verurteilten vier Vorfällen im August 2007 bereits ab Januar 2001 zu mindestens 50 vergleichbaren Vorfällen gekommen war. Da sich nicht mehr mit Sicherheit aufklären ließ, in welchen Fällen der Angeklagte die Geschädigte durch seine Drohung zu einer oralen und in welchen zu einer manuellen Befriedigung brachte, geht die Kammer insoweit von 50 weiteren Fällen der manuellen Befriedigung aus.«
Der BGH verwarf die Revision des Bf. am 6.2.2013 als unbegründet. Das BVerfG nahm die Beschwerde am 28.5.2013 nicht zur Entscheidung an.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung), weil das Landgericht bei der Strafbemessung Taten als Erschwerungsgründe berücksichtigt hätte, wegen derer er nicht für schuldig befunden worden sei.
Zulässigkeit
(27) Die Regierung vertritt [...] die Ansicht, die Unschuldsvermutung wäre nicht länger anwendbar gewesen, als die umstrittenen Feststellungen im Strafverfahren gegen den Bf. getroffen wurden. [...] Das zuständige Landgericht hätte den »gesetzlichen Beweis seiner Schuld« erbracht, sodass der von der Unschuldsvermutung gewährte Schutz keine Wirkung mehr entfaltet hätte.
(35) [...] Der Bf. war ursprünglich iSv. Art. 6 Abs. 2 EMRK »angeklagt«, eine größere Zahl von Straftaten begangen zu haben [...]. In einer am letzten Prozesstag getroffenen Entscheidung wurde das Verfahren im Hinblick auf diese Straftaten vom Landgericht gemäß § 154 StPO vorläufig eingestellt. Nach dieser Bestimmung konnte das Verfahren vorläufig eingestellt werden, weil die Strafe, zu der die Verfolgung dieser 50 Taten führen konnte, neben der Strafe, mit welcher der Bf. wegen der verbleibenden vier Fälle sexueller Nötigung rechnen musste, nicht beträchtlich ins Gewicht gefallen wäre. Nach der deutschen Rechtsprechung schloss diese Einstellung allerdings die Berücksichtigung als Erschwerungsgrund bei der Strafbemessung nicht aus, wenn ihr Bestehen ausreichend festgestellt wurde (Anm: Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH (vgl. 12.9.2012, 5 StR 425/12 mwN.) kann das Strafgericht die Taten nur unter der Voraussetzung als Erschwerungsgrund berücksichtigen, dass sie in der Hauptverhandlung prozessordnungsgemäß festgestellt wurden und das Tatgericht von ihrem Bestehen überzeugt ist.).
(36) [...] Als das Landgericht sofort nach der vorläufigen Einstellung des Verfahrens hinsichtlich der 50 weiteren fraglichen Taten sein Urteil erließ, das die umstrittenen Feststellungen enthielt, war der Bf. bereits gewarnt worden, dass diese Fälle von Nötigung bei der Strafbemessung für die verbleibenden vier Fälle berücksichtigt werden könnten [...]. Im selben Urteil beurteilte das Landgericht ausführlich die Beweise hinsichtlich der 50 weiteren Taten und es stellte wiederholt fest, dass es davon überzeugt war, dass diese Vorfälle stattgefunden hatten.
(37) Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass der Bf. zu dem Zeitpunkt, als das Landgericht die 50 weiteren Fälle sexueller Nötigung berücksichtigte, nach wie vor als über eine Anschuldigung, er habe weitere Fälle sexueller Nötigung begangen, verständigt und damit als unter anderem wegen der 50 weiteren Taten »angeklagt« im autonomen Sinn dieses Begriffs in Art. 6 Abs. 2 EMRK angesehen werden musste. Art. 6 Abs. 2 EMRK, der in erster Linie im Kontext anhängiger Strafverfahren zur Anwendung gelangt, war daher in dem Verfahren, um das es hier geht, anwendbar.
(38) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die umstrittenen Äußerungen im Urteil des Landgerichts in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 2 EMRK fallen. Die diesbezügliche Einrede der Regierung ist daher zu verwerfen (einstimmig).
(39) [...] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Allgemeine Grundsätze
(42) [...] Als prozessuale Garantie im Kontext eines Strafverfahrens selbst gesehen stellt die Unschuldsvermutung Anforderungen unter anderem im Hinblick auf die Beweislast, Tatsachen- und Rechtsvermutungen, das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung, Veröffentlichungen vor dem Strafverfahren und verfrühte Äußerungen des Gerichts oder anderer öffentlicher Amtsträger über die Schuld eines Angeklagten. [...]
(43) Die Unschuldsvermutung [...] hat jedoch noch einen anderen Aspekt. In diesem zweiten Aspekt besteht ihr generelles Ziel darin, Personen, die von einer Anklage freigesprochen wurden oder im Hinblick auf die ein Strafverfahren eingestellt wurde, davor zu schützen, von öffentlichen Amtsträgern und Behörden so behandelt zu werden, als ob sie tatsächlich der angeklagten Straftaten schuldig wären. In diesen Fällen hat die Unschuldsvermutung bereits durch die Anwendung der verschiedenen aus ihr folgenden verfahrensrechtlichen Anforderungen im Verfahren gewirkt, um eine unfaire strafrechtliche Verurteilung zu verhindern. Ohne sicherzustellen, dass der Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens in jedem anderen Verfahren respektiert wird, würde die Verfahrensgarantie des Art. 6 Abs. 2 EMRK Gefahr laufen, theoretisch und illusorisch zu werden. [...]
Anwendung im vorliegenden Fall
(51) [...] Das Landgericht stellte in der umstrittenen Passage seines Urteils fest, es sei »davon überzeugt, dass es neben den vier abgeurteilten Taten im Zeitraum Januar 2001 bis Oktober 2007 zu mindestens 50 weiteren, vergleichbaren Fällen kam.« Nach Ansicht des GH zeigen die umstrittenen Äußerungen als solche klar, dass das Landgericht den Bf. für schuldig hielt, P. bei weiteren Gelegenheiten zu sexuellen Handlungen genötigt zu haben. Dies scheint zwischen den Parteien außer Streit zu stehen.
(52) Allerdings darf der GH bei der Entscheidung, ob die umstrittenen Äußerungen eine Verletzung der Unschuldsvermutung begründeten, [...] die Natur der Äußerungen und den prozessualen Kontext, in dem sie gefallen sind, nicht aus den Augen verlieren.
(53) Die vorläufige Einstellung des Verfahrens im Hinblick auf insbesondere die 50 weiteren Vorfälle erfolgte am letzten Prozesstag nach 17 Verhandlungstagen zur Beweisaufnahme und am selben Tag, an dem das Urteil erging. Alle Verteidigungsrechte des Bf. wurden während des Verfahrens geachtet. Zum Zeitpunkt der vorläufigen Einstellung des Verfahrens aus prozessökonomischen Gründen wurde der Bf. dahingehend gewarnt, dass die fraglichen Ereignisse bei der Strafbemessung berücksichtigt werden könnten.
(54) Das Urteil, das sich auf vier Ereignisse konzentrierte und bei der Strafbemessung 50 weitere Taten berücksichtigte, beschrieb die Tatsachen hinsichtlich der gesamten Zeitspanne, während derer die mutmaßlichen Straftaten stattgefunden hatten. Das Landgericht gab im Urteil mehrmals an, davon überzeugt zu sein, dass die weiteren 50 Vorfälle stattgefunden hatten, es aber nicht möglich sei, jeden einzelnen zeitlich und örtlich zu konkretisieren.
(55) Das Landgericht erließ daher ein Urteil, in dem es den Bf. ausdrücklich wegen sexueller Nötigung in vier Fällen verurteilte. Während die vier Vorfälle ausdrücklich im Urteilsspruch genannt waren, wurden die 50 weiteren Fälle in der Urteilsbegründung beschrieben und bei der Strafbemessung als erschwerende Umstände berücksichtigt.
(56) Es kann daher gesagt werden, dass das Landgericht dem innerstaatlichen Recht entsprechend hohe, aber unterschiedliche Beweisstandards für die Feststellung der Schuld des Bf. hinsichtlich dieser Vorfälle angewendet hat. Während das Gericht für die ersten vier Fälle alle Elemente hatte, um die Straftaten als Taten im prozessualen Sinn zu bestimmen, war es im Hinblick auf 50 weitere Vorfälle, in Bezug auf die es das Verfahren eingestellt hatte, zwar von der Schuld des Bf. überzeugt, konnte aber wegen der Sprachstörung des Opfers nicht alle Vorfälle zeitlich und örtlich konkretisieren. In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass die weiteren 50 Vorfälle tatsächlich – wie vom Landgericht behauptet – ähnlich und eng miteinander verbunden waren: Sie bezogen sich alle auf dieselbe Art von Straftat, nämlich sexuelle Nötigung, und waren alle in einer bestimmten Zeit [...] mit stets derselben Absicht des sexuellen Missbrauchs am selben Opfer begangen worden. Dies unterstützt die Feststellung, dass es in einem solchen Fall vor dem Hintergrund, dass die Geschehnisse [...] bewiesen waren, nicht notwendig war, jede begangene Tat zeitlich und örtlich exakt zu bestimmen. Die Gerichte erfüllten damit die in der innerstaatlichen Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an die Beweiswürdigung im Hinblick auf die Besonderheiten wiederholter Straftaten im Bereich des sexuellen Missbrauchs (Anm: Nach der Rechtsprechung des BGH (27.3.1996, 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107) muss das Gericht von einer jeden einzelnen individuellen Straftat oder zumindest davon überzeugt sein, dass es in gewissen Zeiträumen zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist.).
(57) Schließlich erinnert der GH auch daran, dass Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht auf Behauptungen über den Charakter und das Verhalten des Angeklagten anwendbar ist, die als Teil des Vorgangs der Verurteilung getroffen werden.
(58) [...] Der Bf. wurde der Sache nach auch hinsichtlich der 50 weiteren Taten, auf die ein anderer Beweismaßstab angewendet wurde, für schuldig befunden. Dieser Beweismaßstab war nach innerstaatlichem Recht ausreichend für eine Berücksichtigung dieser Straftaten bei der Strafbemessung, nicht aber für eine förmliche Verurteilung des Bf.
(59) [...] Die Bestimmung des Beweisstandards, der notwendig ist, um eine Person einer Straftat für schuldig zu erkennen, ist Sache der nationalen Behörden. [...] Im vorliegenden Fall wurde die Schuld des Bf. entsprechend den Standards, die vom innerstaatlichen Recht bestimmt wurden und bestimmt werden konnten, auch hinsichtlich der 50 weiteren Vorfälle festgestellt und somit die Unschuldsvermutung widerlegt.
(60) Schließlich und endlich berücksichtigt der GH die positive Verpflichtung nach Art. 3 und Art. 8 EMRK insbesondere im Hinblick auf Sexualstraftaten, die physische Integrität des Einzelnen zu schützen. Außerdem übersieht er nicht, dass die Rechtsprechung der deutschen Gerichte, die es den innerstaatlichen Gerichten gestattet, bei der Strafbemessung weitere Handlungen zu berücksichtigen, sowohl transparent ist als auch dem sinnvollen Ziel der Verfahrensökonomie dient. Allerdings möchte er hinzufügen, dass es ein Problem unter der Konvention aufwerfen würde, wenn nach Abschluss des Strafverfahrens, in dem solche weiteren Taten als Erschwerungsgrund berücksichtigt wurden, das Verfahren gemäß § 154 Abs. 4 StPO im Bezug auf diese Handlungen wiederaufgenommen und die betroffene Person förmlich dafür verurteilt würde.
(61) Der GH kommt zum Schluss, dass die umstrittenen Feststellungen des Landgerichts nicht gegen das Recht des Bf. auf Vermutung der Unschuld verstießen. Folglich hat keine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Böhmer/D v. 3.10.2002 = NL 2002, 201
Allen/GB v. 12.7.2013 (GK) = NLMR 2013, 257
Cleeve/D v. 15.1.2015 = NLMR 2015, 21
El Kaada/D v. 12.11.2015 = NLMR 2015, 499
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.1.2018, Bsw. 76607/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2018, 27) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_1/Bikas.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.