JudikaturAUSL EGMR

Bsw34999/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Dezember 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache D. L. gg. Österreich, Urteil vom 7.12.2017, Bsw. 34999/16.

Spruch

Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK - Staatlicher Schutz vor Blutrache nach Auslieferung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der seit 2001 in Österreich lebende Bf. ist Staatsangehöriger Serbiens. Im Oktober 2001 wurde er im Zuge einer Auseinandersetzung von S. Lu., dem damaligen Ehemann seiner Schwester, mit einem Messer schwer verletzt. Dieser wurde im Mai 2002 wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Aufgrund eines vom BG Mitrovica ausgestellten internationalen Haftbefehls wurde der Bf. am 15.1.2016 in Österreich festgenommen. Kurz darauf beantragte das Justizministerium des Kosovo seine Auslieferung. Er stand im Verdacht, einen gewissen L. Q. dafür bezahlt zu haben, S. Lu. zu ermorden. Tatsächlich hatte dieser auf S. Lu. geschossen, dabei aber dessen Cousin tödlich getroffen. Der Bf. brachte gegen seine Auslieferung vor, die Vorwürfe wären als Rache von S. Lu. erfunden worden, weil er im Prozess gegen ihn ausgesagt hatte. Dessen Clan sei im Kosovo sehr einflussreich, weshalb der Bf. im Gefängnis um sein Leben fürchten müsse. Zudem seien die Haftbedingungen im Kosovo nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar.

Das LG für Strafsachen Wien erklärte die Auslieferung am 24.2.2016 für zulässig. Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das OLG Wien mit Beschluss vom 31.5.2016 nicht Folge. Das OLG verneinte eine unmittelbare Bedrohung des Bf. im Strafvollzug des Zielstaats, vor der die Behörden keinen ausreichenden Schutz gewähren könnten. Deren Fähigkeit, ihn zu schützen, zeige sich unter anderem daran, dass S. Lu. im Jänner 2008 wegen schwerer Drohung gegen den Bf. verurteilt worden sei.

Der Justizminister genehmigte am 13.6.2013 die Auslieferung. Daraufhin ersuchte der Bf. den EGMR um Erlass einer vorläufigen Maßnahme. In Stattgebung dieses Antrags forderte der EGMR Österreich auf, bis auf Weiteres von der Auslieferung abzusehen.

Am 17.6.2016 stellte der Bf. einen Antrag auf Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens, den er insbesondere auf eine eidesstattliche Erklärung des angeblich von ihm angestifteten L. Q. stützte, wonach dieser unter Folter zu seiner den Bf. belastenden Aussage gezwungen worden sei. Dieser Antrag wurde vom LG für Strafsachen Wien am 23.6.2016 abgewiesen, weil die Erklärung nicht als Beweis anzusehen sei, durch den der Verdacht ohne Verzug entkräftet werden könnte.

Ein Antrag auf Erneuerung des Verfahrens nach § 363a StPO wurde vom OGH am 6.9.2016 zurückgewiesen.

Die Beschwerde gegen den Beschluss vom 23.6.2016 wurde am 24.1.2017 vom OLG Wien abgewiesen. Das OLG ging erneut davon aus, dass keine ausreichenden Belege für eine drohende gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung bestünden. Die Beurteilung der Beweise für die dem Bf. vorgeworfene Straftat sei Sache der Gerichte des ersuchenden Staates.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK

(38) Der Bf. brachte unter Art. 2 und Art. 3 EMRK vor, er würde im Fall der Auslieferung an den Kosovo der Gefahr der Folter, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder sogar des Todes ausgesetzt, weil die Behörden im Kosovo nicht gewillt oder nicht fähig wären, ihn vor S. Lu. und dessen Clan zu beschützen. Außerdem behauptete er, die Haftbedingungen in Gefängnissen im Kosovo würden nicht den Standards des Art. 3 EMRK genügen und er könnte Opfer von Polizeigewalt werden. [...]

(39) Nach Ansicht des GH sind die vom vorliegenden Fall aufgeworfenen Angelegenheiten unter Art. 2 und Art. 3 EMRK untrennbar miteinander verknüpft, weshalb er sie gemeinsam prüfen wird.

Zulässigkeit

(40) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Da sie auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(52) [...] Die Konvention steht der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Rahmen von Auslieferungsabkommen oder bei Abschiebungen nicht entgegen, solange sie nicht in ein spezifisches, von der Konvention anerkanntes Recht eingreift. [...] Es liegt [...] im [...] Interesse aller Nationen, dass ins Ausland geflohene mutmaßliche Straftäter vor Gericht gebracht werden.

(53) Die Konvention enthält keine Bestimmung über die Umstände, unter denen eine Auslieferung gewährt werden kann oder über das dabei einzuhaltende Verfahren. [...]

(54) Ungeachtet dieser Überlegungen gilt der durch Art. 3 EMRK gewährte Schutz absolut. Folglich kann die Auslieferung einer Person Probleme unter dieser Bestimmung aufwerfen und damit die Verantwortlichkeit des fraglichen Staates nach der EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Fall ihrer Auslieferung der realen Gefahr ausgesetzt würde, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. Wenn die Ausweisung wahrscheinlich Konsequenzen im ersuchenden Staat hat, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar sind, darf der Konventionsstaat nicht ausliefern. [...]

(58) Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts schließt der GH die Möglichkeit nicht aus, dass Art. 3 EMRK auch anwendbar ist, wenn die Gefahr von Einzelnen oder einer Gruppe von Personen ausgeht, die keine staatlichen Organe sind. Es muss allerdings nachgewiesen werden, dass die Gefahr real ist und dass die Behörden des Empfangsstaats nicht in der Lage sind, die Gefahr durch die Gewährung angemessenen Schutzes abzuwenden.

Anwendung im vorliegenden Fall

(59) Zunächst muss der GH dem Bf. dahingehend zustimmen, dass es hinsichtlich seines individuellen Falls irrelevant ist, ob der Kosovo gesetzlich zum »sicheren Herkunftsstaat« erklärt wurde (Anm: Gemäß § 1 Z. 2 der auf § 19 BFA-VG beruhenden Herkunftsstaaten-VO, BGBl. II 2009/177 idF. BGBl. II 2016/47, gilt der Kosovo als sicherer Herkunftsstaat.). Eine solche Erklärung befreit den ausliefernden Staat nicht von seiner Verpflichtung, eine individuelle Risikoeinschätzung vorzunehmen. [...]

(60) [...] Die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung des Bf. war Gegenstand von drei Verfahrensgängen, nämlich dem ursprünglichen Auslieferungsverfahren, dem Verfahren über seinen Antrag auf Wiederaufnahme und dem Verfahren vor dem OGH über seinen Antrag auf Erneuerung. Im ursprünglichen Auslieferungsverfahren prüften die innerstaatlichen Gerichte umfassend die Frage des behaupteten Einflusses des Clans von S. Lu. und jedes gegen Art. 2 und Art. 3 EMRK verstoßenden Risikos, das dem Bf. im Fall der Auslieferung drohen könnte. Im Wiederaufnahmeverfahren prüften sie, ob die eidesstattliche Erklärung von L. Q. geeignet war, den Verdacht gegen den Bf. sofort zu entkräften, und sie berücksichtigten die jüngsten Länderberichte zum Kosovo im Hinblick auf die Behauptungen des Bf. Im Erneuerungsverfahren prüfte der OGH ebenfalls die behaupteten Gefahren einer Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK.

(61) [...] In allen drei Verfahren prüften die innerstaatlichen Gerichte umfassend die Behauptungen des Bf. und begründeten ausführlich, warum sie seine Auslieferung als zulässig erachteten. Der GH ist daher überzeugt davon, dass sie ihrer Verpflichtung entsprachen, eine individuelle Risikoeinschätzung in seinem Fall durchzuführen.

(62) Was den Inhalt der Risikoeinschätzung angeht, [...] sind im Wesentlichen zwei Beschwerden zu prüfen: Erstens die Behauptung des Bf., im Kosovo wäre wegen der aus einer Blutfehde mit dem Lu.-Clan resultierenden Bedrohung sein Leben und seine Unversehrtheit in Gefahr, wovor ihn die Behörden des Kosovo nicht schützen wollten oder nicht schützen könnten. Und zweitens die Behauptung, die Haftbedingungen im Kosovo würden den Standards des Art. 3 EMRK nicht entsprechen, insbesondere weil in Gefängnissen und anderen Haftorten Misshandlung durch die Polizei und Gefängnisbeamte sowie Gewalt zwischen Häftlingen und Korruption weit verbreitet wären. Der GH wird sie im Folgenden getrennt untersuchen.

Schutz vor angeblicher Blutfehde

(63) [...] Es ist nur wenig Information über das Phänomen der Blutrache im Kosovo verfügbar und es scheint keine amtlichen Statistiken über daraus resultierende Gewalt zu geben. Anhand des vorliegenden Materials kann gesagt werden, dass Blutrache im Kosovo nach wie vor existiert. Davon betroffene Personen, die sich in Freiheit befinden, können vom Staat wenig Schutz erwarten, da sie ständig bewacht werden müssten und dies als nicht machbar angesehen wird. Selbst wenn man von einer den Bf. betreffenden laufenden Blutfehde im Kosovo ausgeht, unterscheidet sich seine Situation allerdings erstens dadurch von jener von Personen in Freiheit, dass er im Gefängnis wäre, wo er rund um die Uhr von den Behörden bewacht würde. Anders als der Bf. behauptet, deuten die internationalen Berichte über den Kosovo nicht darauf hin, dass die Korruption unter Strafvollzugsbediensteten derart verbreitet und systematisch wäre, dass Dritte dort irgendeinen Einfluss ausüben könnten. Die Korruption betrifft eher Begünstigungen betreffend die Verwendung von Mobiltelefonen oder anderer Schmuggelware oder unberechtigter Privilegien, aber keiner der herangezogenen internationalen Berichte erwähnt ein Beispiel für eine Bestechung eines Gefängnisbeamten, damit dieser einen Blutrachemord im Gefängnis zulässt [...].

(64) Zweitens bemerkt der GH, dass die Behörden des Kosovo – sogar spezifisch betreffend den Bf. – bereits ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt haben, auf Drohungen gegen ihn zu reagieren, insbesondere indem sie S. Lu. wegen schwerer Drohung verurteilten. Der GH erachtet daher die Schlussfolgerung als gesichert, dass die Behörden im Kosovo gewillt und fähig wären, auch auf jegliche neue Drohung gegen den inhaftierten Bf. angemessen zu reagieren.

(65) Daher kommt der GH hinsichtlich der Beschwerde betreffend den mangelnden Schutz vor Blutrache zu den Schluss, dass der Bf. eine weitere Bedrohung betreffend Art. 2 oder Art. 3 EMRK im Fall seiner Rückkehr in den Kosovo nicht untermauert hat.

Haftbedingungen

(66) Anhand der jüngsten internationalen Berichte stellt der GH fest, dass Vorfälle der Misshandlung von Gefangenen durch Polizisten und in geringerem Ausmaß auch durch Strafvollzugsbeamte nach wie vor Anlass zur Sorge geben und dass die Behörden des Kosovo das Problem der Begünstigung und der Korruption erst unter Kontrolle bringen müssen. Hinsichtlich des Anhaltezentrums Mitrovica, wo der Bf. gemäß seinen eigenen Angaben nach der Auslieferung höchstwahrscheinlich angehalten würde, wurde allerdings nicht über Misshandlungsvorwürfe berichtet.

(67) Zudem scheint sich die Gesamtsituation gebessert zu haben, wie dies das CPT in seinem Bericht über den 2015 erfolgten Besuch im Kosovo festhält. Gewalt zwischen Gefangenen scheint in den besuchten Einrichtungen nicht länger ein großes Problem zu sein und jene Gefängnisse, wo früher materielle Mängel festgestellt worden waren, waren gerade im Begriff, geschlossen und durch neue ersetzt zu werden. Der GH kann aus den verfügbaren Informationen daher nicht auf eine Situation der verbreiteten oder systematischen Gewalt gegen Gefangene in kosovarischen Gefängnissen schließen, die eine Auslieferung an den Kosovo mit Art. 3 EMRK unvereinbar machen würde.

(68) Der GH muss daher prüfen, ob die Auslieferung des Bf. an den Kosovo aufgrund seiner persönlichen Situation und Umstände gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde. In seinen Stellungnahmen an den GH stützte sich der Bf. auf internationale Berichte. Er behauptete weder, jemals selbst eine Misshandlung durch die kosovarischen Behörden erlitten zu haben, noch waren seine Behauptungen eines spezifischen Risikos im Fall seiner Inhaftierung im Kosovo ausreichend untermauert. Der GH ist daher der Ansicht, dass es der Bf. verabsäumt hat nachzuweisen, dass ihm irgendeine besondere, individuelle Gefahr drohen würde, einer gegen Art. 2 oder Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden.

Schlussfolgerung

(69) [...] Der Bf. hat es verabsäumt, stichhaltige Gründe für die Annahme aufzuzeigen, er würde im Fall seiner Auslieferung an den Kosovo einem realen Risiko ausgesetzt, einer gegen Art. 2 oder Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterworfen zu werden. [...] Folglich würde die Durchführung der Entscheidung, den Bf. an den Kosovo auszuliefern, keine Verletzung von Art. 2 oder Art. 3 EMRK begründen (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 39 VerfO

(71) Die Empfehlung an die Regierung nach Art. 39 VerfO muss in Kraft bleiben, bis das vorliegende Urteil rechtskräftig wird oder der Ausschuss der Großen Kammer einen Antrag auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer nach Art. 43 EMRK annimmt (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

F. G./S v. 23.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 105

J. K. u.a./S v. 23.8.2016 (GK) = NLMR 2016, 338

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.12.2017, Bsw. 34999/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 522) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_6/D.L..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise