Bsw66847/12 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Haarde gg. Island, Urteil vom 23.11.2017, Bsw. 66847/12.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK, Art. 7 EMRK - Strafrechtliche Verantwortlichkeit des isländischen Premierministers für Untätigkeit während Bankenkrise.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK oder von Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. war zwischen 1987 und 2009 Mitglied des isländischen Parlaments, von 1998 bis 2005 Finanzminister, von 2005 bis 2006 Außenminister und von 2006 bis 2009 Premierminister. Nach den Parlamentswahlen 2007 führte er die Regierung aus seiner Unabhängigkeitspartei (Sjálfstæðisflokkurinn) und der Sozialdemokratischen Allianz (Samfylkingin).
Anfang Oktober 2008 kollabierte das isländische Bankensystem. Im Dezember 2008 richtete das Parlament eine Sonderermittlungskommission (»SEK«) ein, um die Gründe des Kollapses sowie die dazu führenden Prozesse zu untersuchen. Eine der Aufgaben der SEK war es zu beurteilen, ob bei der Umsetzung von Vorschriften über finanzielle Aktivitäten in Island Fehler oder Nachlässigkeiten geschehen waren, und die Verantwortlichkeiten zu klären. Sie sollte zwar selbst nicht strafrechtliches Verhalten untersuchen, aber den Staatsanwalt von jedem Verdacht eines solchen oder potentiellen Verletzungen von Amtspflichten informieren.
Nachdem die SEK eine umfangreiche Untersuchung durchgeführt und insbesondere auch den Bf. befragt hatte, informierte sie Letzteren im Februar davon, dass sie der Ansicht war, er hätte fahrlässig gehandelt. Sie lud ihn zur schriftlichen Stellungnahme ein, die er in der Folge auch abgab. In ihrem offiziellen Bericht zeigte die SEK am 12.4.2010 insbesondere auf, dass dem Bf. und zwei Ministern Versäumnisse dahingehend zugeschrieben werden konnten, dass sie es unterlassen hätten, auf angemessene Weise auf die Finanzmarktsituation zu reagieren. Der Bf. und seine Regierung waren zwischenzeitlich bereits zurückgetreten.
2009 richtete das Parlament zudem einen parlamentarischen ad hoc-Prüfungsausschuss (»PPA«) ein, der den Bericht der SEK prüfen und darüber entscheiden sollte, ob es Gründe für die Erhebung einer Anklage wegen Amtsvergehen gab. Der PPA bestand aus neun Mitgliedern des Parlaments, die alle parlamentarischen Parteien repräsentierten. Nach umfangreichen Ermittlungen unterbreitete er dem Parlament den Vorschlag, unter anderem gegen den Bf. eine Anklage wegen Amtsvergehen zu erheben. Das Parlament gab dazu am 28.9.2010 mit 33:30 Stimmen grünes Licht.
Das für die Entscheidung über den Fall des Bf. zuständige Sondergericht für die Behandlung von Amtsverletzungen (Landsdómur; im Folgenden »Sondergericht«) wurde nach § 2 des Gesetzes über das Sondergericht für die Behandlung von Amtsverletzungen (im Folgenden: »Gesetz über das Sondergericht«) konstituiert. Demnach waren fünf seiner Mitglieder Richter des Obersten Gerichtshofes, eines war Richter am BG Reykjavik und eines war Professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Island. Die übrigen acht Mitglieder waren Laienrichter, die vom Parlament bestellt wurden.
Am 10.5.2011 wurde gegen den Bf. in sechs Punkten (1.1.-1.5. und 2.) Anklage erhoben. Nachdem der Bf. einen Antrag gestellt hatte, die Anklage fallenzulassen, gab das Gericht dem am 3.10.2011 für zwei Anklagepunkte statt, wies den Antrag aber im Übrigen ab. Mit Urteil vom 23.4.2012 sprach das Gericht den Bf. von drei weiteren Anklagepunkten frei. Mit 9:6 Stimmen sprach es ihn allerdings im Hinblick auf Punkt 2 schuldig, weil er es iSd. Art. 17 der Verfassung (Anm: Art. 17 lautet: »Es sind Ministerkonferenzen abzuhalten, um neue Gesetzesvorschläge und wichtige Regierungsangelegenheiten zu diskutieren. [...]«) iVm. § 8 lit. c des Gesetzes über die ministerielle Verantwortlichkeit
(Anm: § 8 lautet (soweit relevant): »Im Einklang mit den vorangehenden Bestimmungen ist ein Minister nach diesem Gesetz verantwortlich: [...] (c) wenn er auf andere Weise Maßnahmen setzt, die gegen die Verfassung der Republik verstoßen, deren Setzung anordnet oder duldet oder wenn er es unterlässt, eine darin vorgesehene Maßnahme zu setzen oder bewirkt, dass sie nicht gesetzt wird«; [...].) grob fahrlässig unterlassen hätte, im Vorfeld der Krise dazu Ministerkonferenzen abzuhalten. Das Gericht zeigte sich überzeugt, dass die Banken und die Staatskasse sich bereits im Februar 2008 einer großen Gefahr gegenübergesehen hätten und der Bf. sich dem bewusst sein musste. Dennoch sei darüber nur in den letzten vier von 52 Ministerkonferenzen gesprochen worden, die zwischen Februar und Oktober 2008 abgehalten wurden. Das Gericht verhängte jedoch keine Strafe gegen den Bf. und der Staat wurde verpflichtet, sämtliche Prozesskosten zu übernehmen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügte verschiedene Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) und Art. 6 Abs. 3 lit. a und lit. b EMRK (Verteidigungsrechte) im Zusammenhang mit dem gegen ihn erfolgten Verfahren wegen Amtspflichtverletzung. Zudem beschwerte er sich über eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz), da seine Verurteilung auf unklare gesetzliche Bestimmungen gestützt worden und nicht vorhersehbar gewesen wäre.
Zur Einrede der Regierung
(52) Die Regierung bestritt den Opferstatus des Bf. [...] hinsichtlich der Anklagepunkte 1.1.-1.5. [...]
(55) Der GH wiederholt, dass eine Person nicht behaupten kann, Opfer von Verletzungen ihres Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK zu sein, wenn diese im Rahmen von Verfahren stattfanden, die eingestellt wurden oder zu einem Freispruch führten. Diese Schlussfolgerung kann jedoch nur getroffen werden, wenn der Bf. überhaupt nicht mehr beeinträchtigt ist, sondern von allen für ihn nachteiligen Auswirkungen befreit wurde, z.B. wenn er ohne Auflagen freigesprochen wurde.
(56) Im Fall des Bf. wurden die Punkte 1.1. und 1.2. der Anklage während des Verfahrens abgewiesen und der Bf. wurde schließlich von den Punkten 1.3.-1.5. freigesprochen. Unter diesen Umständen kann er im Hinblick auf diese Anklagepunkte nicht länger als Opfer angesehen werden. Auch wenn gegen den Bf. keine Strafe verhängt wurde, wurde er im Hinblick auf Punkt 2 wegen einer Straftat verurteilt. Soweit sich seine Rügen also auf Punkt 2 beziehen, kann er immer noch behaupten, Opfer der gerügten Konventionsverletzungen iSd. Art. 34 EMRK zu sein.
(57) Daher sind die Rügen betreffend die Anklagepunkte 1.1.-1.5. mit den Bestimmungen der Konvention ratione personae [...] unvereinbar und müssen [...] [als unzulässig] zurückgewiesen werden (mehrheitlich).
(58) Der Rest der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und muss daher, soweit sich die Rügen auf den Anklagepunkt beziehen, dessen der Bf. vom Sondergericht am 23.4.2012 schuldig gesprochen wurde, für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK
Vorverfahren
(77) Der Zweck des durch den PPA durchgeführten Verfahrens und des dem Parlament am 11.9.2010 unterbreiteten Vorschlags war es, dem Parlament eine Grundlage für die Entscheidung zu verschaffen, ob es gegen Kabinettsmitglieder eine Anklage wegen Amtsvergehen wegen Pflichtverletzungen nach dem Gesetz über die ministerielle Verantwortlichkeit beginnen sollte. Daher betraf das Verfahren des PPA nicht als solches die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage.
(78) [...] Dennoch sind die Garantien des Art. 6 EMRK von dem Moment an anwendbar, ab dem eine »strafrechtliche Anklage« iSd. Rechtsprechung des GH existiert, und können daher während des Vorverfahrens von Bedeutung sein, wenn und soweit die Fairness des Verfahrens durch ihre anfängliche Missachtung vermutlich ernsthaft beeinträchtigt wird. Das Stadium der Ermittlungen kann von besonderer Wichtigkeit für die Vorbereitung des Strafverfahrens sein. Z.B. bestimmt das während dieses Stadiums erlangte Beweismaterial häufig den Rahmen, in dem die angeklagte Straftat in der Verhandlung geprüft wird. Die Art und Weise, auf die Art. 6 EMRK während des Ermittlungsstadiums angewendet wird, hängt von den besonderen Merkmalen des betroffenen Verfahrens und den Umständen des Falles ab.
(79) Der GH wird daher bei der Entscheidung, ob die Rechte des Bf. verletzt wurden, das Verfahren als Ganzes berücksichtigen, einschließlich der Behandlung des Falles durch den PPA, das Parlament und die parlamentarische Anklägerin. Als Teil dieser Entscheidung muss beurteilt werden, ob während des Vorverfahrens gesetzte Maßnahmen seine Position in einem Ausmaß schwächen konnten, das alle folgenden Verfahrensstadien unfair machte.
(80) Der Bf. rügte zunächst, dass weder der PPA noch die Anklägerin eine ordentliche Untersuchung des Falles durchgeführt hätten. Unter anderem hätte der PPA betreffend die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen kein Beweismaterial gesammelt und sei er während des Ermittlungsstadiums nicht befragt worden.
(81) Der GH bemerkt, dass der PPA den Bericht der SEK prüfte und gewisse in diesem Bericht erwähnte Dokumente beibrachte. Er holte auch mehrere Stellungnahmen von Experten zur ministeriellen Verantwortlichkeit sowie Äußerungen von 14 Einzelpersonen ein, die während der betreffenden Periode Kabinettsmitglieder waren, einschließlich des Bf. Das Sondergericht kam in seiner Entscheidung vom 3.10.2011 zum Schluss, dass der PPA festgestellt hatte, dass ausreichend Beweise für eine parlamentarische Entschließung vorliegen würden, um ein Verfahren über die Anklage wegen Amtsvergehen zu beginnen, und dass die Behandlung der Sache durch das Parlament im Einklang mit der einschlägigen Gesetzgebung gestanden wäre. Der GH sieht keine Grundlage dafür, diese Schlüsse in Frage zu ziehen. Zudem hatte die Anklägerin Zugang zu verschiedenen zusätzlichen Informationen, einschließlich Dokumenten aus der Datenbank der SEK, vor dieser getätigter Aussagen sowie Korrespondenz der früheren beruflichen Email-Adresse des Bf. Sie befragte den Bf. zwar nicht, gab aber an, dass sie seinen Anwalt eingeladen hätte, sich zu äußern oder zu verlangen, dass weitere Informationen gesammelt werden. Der GH bemerkt in diesem Zusammenhang, dass weder der Bf. noch sein Anwalt eine Befragung verlangt oder ansonsten vorgebracht haben, dass mehr Informationen eingeholt werden müssten.
(82) Unter diesen Umständen kann der GH nicht feststellen, dass die Beweiserhebung im Vorverfahren zum Schaden des Bf. mangelhaft war, berücksichtigt man die spezielle Rolle der Anklägerin, die die Ermittlungen nach der Entscheidung des Parlaments, das Verfahren zu beginnen, führte, sowie den Umstand, dass der Bf. während der Verhandlung vor dem Sondergericht angehört wurde. Diesbezüglich ist es weiters von Bedeutung, dass [...] ein Urteil in einem Strafverfahren – wie von diesem Gericht [...] betont – auf vor Gericht präsentierte Beweise gestützt werden musste und eine unzureichende Begründung der Anklagepunkte zur Freilassung des Bf. geführt hätte.
(83) Der Bf. rügte ferner, dass der Entscheidungsprozess über die Frage, ob er angeklagt werden sollte, einschließlich des Vorschlags des PPA und der Prüfung der Angelegenheit durch das Parlament sowie dessen Abstimmung darüber, willkürlich und politisch gewesen wäre.
(84) Der GH hält zunächst fest, dass die Vertragsstaaten als Teil ihres verfassungsrechtlichen Rahmens verschiedene Ansätze im Hinblick auf Fragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern für Handlungen oder Unterlassungen angelegt haben, die in Ausübung von deren Amtsgeschäften vorgenommen wurden. Solche Unterschiede betreffen Fragen wie die Art und Weise, wie die einschlägigen strafrechtlichen Bestimmungen strukturiert und formuliert sind, die anwendbaren Sanktionen sowie die gerichtlichen und die verfahrensrechtlichen Regelungen für die Ermittlungen und Verfahren in Fällen betreffend angebliches oder vermutetes strafrechtlich relevantes Verhalten von Regierungsmitgliedern. Der GH anerkennt, dass diese Angelegenheiten wichtige und sensible Fragen dahingehend umfassen, wie zwischen der politischen Verantwortlichkeit und strafrechtlichen Haftbarkeit von Personen, welche in einem Staat die höchsten Ämter in der Vollziehung ausüben, ein gerechter Ausgleich geschaffen werden soll, und dass die angenommenen Lösungen in jeder Verfassungsordnung mit komplexen Fragen von »Checks and Balances« verbunden sind. Deshalb steht es dem GH nicht zu zu versuchen, den Vertragsstaaten ein bestimmtes Modell aufzuerlegen. Seine Aufgabe ist es, auf Basis der an ihn herangetragenen Rügen eine Prüfung der konkreten Umstände des Falles durchzuführen.
(85) Der GH achtet den Umstand, dass – während es der Zweck der einschlägigen verfassungsrechtlichen, gesetzlichen und verfahrensrechtlichen Rahmen sein sollte, einen Ausgleich zwischen politischer Verantwortlichkeit und strafrechtlicher Haftung zu schaffen, und sowohl die Gefahr der Straflosigkeit als auch jene des unbegründeten Rückgriffs auf Strafverfahren zu vermeiden – Risiken des Missbrauchs oder von Funktionsstörungen vorkommen können, die verhindert werden müssen. Der GH ist sich der Wichtigkeit bewusst sicherzustellen, dass Strafverfahren nicht zum Zweck der Beschädigung politischer Gegner oder als Instrumente in politischen Konflikten missbraucht werden. Der GH muss daher bei der Prüfung und Beurteilung der Umstände eines jeden Falles und der unter Art. 6 EMRK gerügten Verfahrensführung den Bedarf berücksichtigen zu gewährleisten, dass die nötigen Fairnessstandards unabhängig vom speziellen Charakter dieser Verfahren aufrechterhalten werden.
(86) Im vorliegenden Fall war die Anklage wegen Amtsvergehen auf eine Entscheidung des Parlaments gestützt. Da die Befugnis, ein früheres Kabinettsmitglied zu verfolgen, nach der isländischen Verfassung und der einschlägigen Gesetzgebung beim Parlament liegt, kann die Angelegenheit in einem gewissen Maß politische Erwägungen umfassen. Diesbezüglich beobachtet der GH, dass aus einer rechtsvergleichenden Perspektive die Beteiligung des Parlaments an Entscheidungen, ob gegen ein Regierungsmitglied für in Ausübung seiner ministeriellen Funktionen gesetzte Handlungen Strafverfahren eingeleitet werden sollten, kein ungewöhnliches Merkmal ist. Der GH befindet nicht, dass dieses Faktum für sich bereits ausreicht, eine Frage unter Art. 6 EMRK aufzuwerfen. Es muss berücksichtigt werden, dass die vom Parlament erhobene Anklage von einem Gericht geprüft und entschieden wird. Zudem war das Verhalten, wegen dem der Bf. im vorliegenden Fall schließlich für schuldig befunden wurde, sein Versäumnis, Ministerkonferenzen zu »wichtigen Regierungsangelegenheiten« abzuhalten, so wie dies von Art. 17 der Verfassung iVm. § 8 lit. c des Gesetzes über die ministerielle Verantwortlichkeit verlangt wurde. Die ihm zugerechnete Nachlässigkeit betraf daher eine objektive rechtliche Verpflichtung. Die Anklage des Parlaments enthielt Beispiele für das Versäumnis, Ministerkonferenzen abzuhalten und weitere Beweise wurden später dem Sondergericht präsentiert. Zudem gibt es unter Berücksichtigung dessen, was oben zur Beweiserhebung durch den PPA erwähnt wurde, keinen Hinweis darauf, dass die Entscheidung des Parlaments, Anklage gegen den Bf. zu erheben, auf unzureichende Informationen gestützt worden wäre.
(87) Was die Abstimmung über den Vorschlag des PPA im Parlament betrifft, ist der GH unter Berücksichtigung der obigen Elemente der Ansicht – mögen parteiliche Präferenzen auch eine Rolle gespielt haben –, dass der Prozess, der zur Anklage des Bf. führte, nicht willkürlich und auch nicht in einem Maß politisch war, dass die Fairness seines Verfahrens beeinträchtigt wurde.
(88) Der Bf. rügte auch, dass es die Anklägerin, als sein Verteidiger von ihr die zitierten Dokumente erhalten hatte, verabsäumt hätte, Erklärungen zur Relevanz der Dokumente für den Fall zu liefern und dadurch das Verständnis des Inhalts und der Natur der Anklage gegen ihn behindert hätte. Diese Beeinträchtigung sei durch den unklaren und vagen Wortlaut der Anklage verstärkt worden. Dieselbe Unklarheit treffe auf den Wortlaut der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen zu, insbesondere Art. 17 der Verfassung und § 8 lit. c des Gesetzes über die ministerielle Verantwortlichkeit. Aufgrund dieser Mängel behauptete der Bf., dass er keine ausreichenden Informationen im Hinblick auf die Anklage sowie keine Gelegenheit erhalten hätte, eine ordnungsgemäße Verteidigung vorzubereiten.
(90) Wie bereits erwähnt, bot die Anklage Beispiele für das dem Bf. unter Anklagepunkt 2 vorgeworfene nachlässige Verhalten. Zudem waren der Entschließung des Parlaments Erläuterungen beigeschlossen. Darüber hinaus brachte die Anklägerin, als sie den Fall später an das Sondergericht herantrug, weitere Argumente zur Frage der Verpflichtung zur und Wichtigkeit der Abhaltung von Ministerkonferenzen vor [...]. Es scheint, dass die Beweise zu Anklagepunkt 2 im Wesentlichen aus Abschriften von Protokollen von Ministerialkonferenzen und Zeugenaussagen betreffend die Fragen bestanden, die bei den Treffen diskutiert worden waren. Nach Ansicht des GH gibt es keine Hinweise darauf, dass der Bf. und sein Anwalt keine ausreichenden Informationen erhielten, um den Anklagepunkt 2 zu verstehen. Zudem wurde der Fall am 7.6.2011 beim Sondergericht eingebracht, neun Monate, bevor die Verhandlung vor diesem begann. Der Bf. musste daher umfassende Gelegenheit haben, sich mit den Fallmaterialien bekannt zu machen und seine Verteidigung vorzubereiten. Was weiters den Text der fraglichen rechtlichen Bestimmungen angeht, stimmt der GH dem Sondergericht zu, dass sie »auf eine Weise formuliert waren, dass sie auf der Basis von objektiven Kriterien interpretiert werden konnten, und klar genug waren, um eine ordentliche Verteidigung zu ermöglichen«.
(91) Der Bf. behauptete ferner, dass die im innerstaatlichen Verfahren anwendbaren Verfahrensregeln unklar gewesen und vom Sondergericht auf eine unvorhersehbare und inkohärente Weise angewendet worden wären, und zwar allgemein zu seinem Nachteil. Als Beispiele führte er an, dass das Gericht für ihn zu spät einen Verteidiger bestellt hätte, nachdem es sich zunächst geweigert hätte, eine solche Bestellung vorzunehmen, und dass es der Anklägerin eine ungebührend lange Zeit gewährt hätte, um Beweise gegen ihn zu sammeln.
(92) Nach Ansicht des GH ist es klar, dass die wenigen Bestimmungen des Gesetzes über das Sondergericht im Vergleich zu den allgemeinen Regeln der StPO, die alle Fragen regelte, die nicht vom erstgenannten Gesetz erfasst wurden, lex specialis waren und diesen daher vorgingen. Der GH kann keinen Hinweis darauf finden, dass die im Fall anwendbaren verfahrensrechtlichen Regeln inkorrekt oder allgemein zum Nachteil des Bf. ausgelegt worden wären. Was die Frage des Verteidigers betrifft, engagierte der Bf. am 28.9.2010, dem Tag der parlamentarischen Abstimmung über die Amtsenthebung, einen Anwalt zu seiner Verteidigung. Das Sondergericht bestellte diesen Anwalt am 30.11.2010 [...] auf Antrag zu seiner Verteidigung. Es konnte nicht gezeigt werden, dass der Bf. einen weiteren Antrag auf Bestellung eines Verteidigers gestellt hätte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf zu verweisen, dass der Bf. während der Ermittlungen im Vorverfahren nicht verhört oder angehalten wurde. Zudem geschah die Bestellung fast ein halbes Jahr vor der Anklage des Bf. und etwa 15 Monate vor der Hauptverhandlung. Das Recht des Bf. auf wirksamen rechtlichen Beistand wurde daher geachtet. Der GH befindet zudem, dass die Behauptung, die Anklägerin habe übermäßig Zeit erhalten, um Beweise zu sammeln, unbegründet ist. Insgesamt gesehen weist nichts darauf hin, dass die Verfahrensregeln auf eine Weise angewendet wurden, die die Fairness des Verfahrens des Bf. beeinträchtigte.
(93) Schließlich behauptete der Bf., dass die Anklägerin aufgrund ihrer früheren Beteiligung an dem Fall und ihrer Abgabe einer Stellungnahme zur Wahrscheinlichkeit der Verurteilung des Bf. nicht in der Lage gewesen wäre, eine unparteiische Untersuchung durchzuführen.
(94) Der GH beobachtet, dass die Konvention kein Recht auf einen unparteiischen Ankläger gewährt. Die in Art. 6 Abs. 2 EMRK verbürgte Unschuldsvermutung ist jedoch eines der Elemente eines fairen Strafverfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Sie wird verletzt, wenn die Aussage eines Beamten betreffend eine einer Straftat beschuldigten Person – bevor dies gesetzlich nachgewiesen wurde – eine Meinung reflektiert, dass sie schuldig ist. [...] Die Unschuldsvermutung kann nicht nur durch einen Richter oder ein Gericht verletzt werden, sondern auch durch andere Behörden und Repräsentanten des Staates und ebenso durch Staatsanwälte.
(95) Frau Friðjónsdóttir, die vom Parlament später bestellt wurde, um den Fall gegen den Bf. zu verfolgen, beriet den PPA und äußerte ihre Meinung zu bestimmten Dingen, einschließlich der potentiellen Anklage gegen den Bf. und andere Minister. Der GH bemerkt, dass der PPA ein ad hoc-Ausschuss war, der vom Parlament eingerichtet wurde und aus neun seiner Mitglieder bestand. Zu seinen Aufgaben gehörte es zu beurteilen, ob es Gründe für eine Anklage wegen Amtsvergehen gab. Er unterstützte dadurch das Parlament, das die Befugnis zur Verfolgung hatte. Der PPA hörte zwei Staatsanwälte an, einschließlich Frau Friðjónsdóttir, die damals stellvertretende Staatsanwältin war. Ihre Beteiligung in diesem frühen Stadium war daher Teil der Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörde im Vorverfahren [...]. Ein wesentliches Element einer Ermittlung im Vorverfahren ist die Feststellung, ob ausreichende Gründe für die Verfolgung vorliegen. Das Fehlen solcher Gründe führt idR. zu einer Einstellung der Untersuchung. Die Stellungnahme eines Anklägers zum Vorliegen von Verfolgungsgründen oder gar zur Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung verletzt daher als solche nicht das Recht des Verdächtigen auf Unschuldsvermutung. Es ist ferner wichtig festzuhalten, dass die Ratschläge und Stellungnahmen von Frau Friðjónsdóttir nicht im Rahmen von Äußerungen gegenüber der Öffentlichkeit erfolgten. Zudem traf sie in dem Fall keine gerichtlichen Entscheidungen. Im Ergebnis verletzte ihre Beteiligung während der Untersuchung durch den PPA den Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht.
(96) Zusammengefasst kann der GH nicht feststellen, dass während der Behandlung des Falles durch den PPA, das Parlament oder die Anklägerin des Parlaments getroffene Maßnahmen oder erfolgte Ereignisse die Position des Bf. auf eine Weise beeinträchtigten, welche die folgenden Stadien des Verfahrens unfair machen konnte. Auch kann nicht gesagt werden, dass das Vorverfahren als Ganzes betrachtet einen solchen Effekt gehabt haben kann.
Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Sondergerichts
(103) [...] Im vorliegenden Fall prüft der GH die Fragen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zusammen.
(104) Das Gesetz über das Sondergericht regelt dessen Zusammensetzung und Funktion. § 2 bestimmt, dass das Gericht aus 15 Richtern besteht, von denen acht Laienrichter sind, die vom Parlament per Verhältniswahl für eine Dauer von sechs Jahren bestellt werden. Da die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der sieben Berufsrichter, einschließlich des Professors der Rechtswissenschaft, nicht strittig ist, wird im Folgenden nur die Position der acht Laienrichter geprüft.
(105) Der GH anerkennt allgemein, dass die Beteiligung der Laienrichter für das Verständnis des Sondergerichts im Hinblick auf die Fragen des Falles und ihre Prüfung als nützlich angesehen werden konnte, da sie zu einem gewissen Einblick in politische Angelegenheiten beitrug. Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt aber nicht nur, dass ein Gericht von der Exekutive und den Parteien unabhängig ist, sondern auch vom Gesetzgeber, also dem Parlament. Trotzdem kann die bloße Bestellung von Richtern durch das Parlament als solches keine Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts aufwerfen. Es ist wichtig, dass § 3 des Gesetzes über das Sondergericht festlegt, dass ein Parlamentsmitglied oder ein Regierungsangestellter nicht für einen Sitz im Gericht wählbar ist. Obwohl politische Sympathien im Bestellungsprozess von Laienrichtern für das Sondergericht immer noch eine Rolle spielen, befindet der GH nicht, dass dies allein legitime Zweifel an ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bewirkt. Diesbezüglich hält der GH fest, dass § 7 des Gesetzes bestimmt, dass ein Richter, bevor er seinen Sitz das erste Mal einnimmt, einen Eid dahingehend abzuleisten hat, dass er seine Pflichten in jeder Hinsicht gewissenhaft und unparteiisch sowie nach bestem Können wie gesetzlich vorgesehen wahrnehmen wird. Zudem konnte nicht gezeigt werden, dass die Laienrichter im Fall des Bf. irgendeine politische Zugehörigkeit betreffend den fraglichen Gegenstand erklärt hätten oder dass es andere Verbindungen zwischen ihnen und dem Parlament gab, die Bedenken an ihrer Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit schüren hätten können. Der Bf. hat nicht behauptet, dass einer der Laienrichter tatsächlich Anweisungen entgegennahm oder auf voreingenommene Weise agierte.
(106) Der GH hält ferner fest, dass der Umstand, dass die Laienrichter [...] eine Mehrheit von 8:7 ausmachten, sich auf die vorangehenden Erwägungen nicht auswirkt. Die erwähnten Regeln sahen Garantien für ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vor und ihr Verhalten gab keinen Anlass zu irgendwelchen Bedenken. [...] Der GH bemerkt in diesem Zusammenhang, dass der Bf. mit 9:6 Stimmen verurteilt wurde, wobei fünf der neun Richter, die für schuldig stimmten, Berufsrichter waren.
(107) Mit einer Entscheidung des Parlaments wurde das Gesetz über das Sondergericht geändert und die Amtszeit der beteiligten Laienrichter des Gerichts auf das ganze Verfahren gegen den Bf. ausgedehnt. Wäre diese Änderung nicht vorgenommen worden, wäre die sechsjährige Amtszeit der Laienrichter während des Vorverfahrens ausgelaufen. Während das Parlament somit im Hinblick auf die Zusammensetzung des Gericht intervenierte, befindet der GH, dass diese Maßnahme unter den Umständen völlig gerechtfertigt war. Die einzige Alternative zu der gewählten Vorgehensweise wäre es gewesen, neue Laienrichter zu bestellen. Da diese dann tatsächlich speziell für den vorliegenden Fall bestellt worden wären, hätte ihre Beteiligung berechtigte Zweifel im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit schüren können. Demgegenüber waren die bereits für das Gericht bestellten Laienrichter Jahre vor den betreffenden Ereignissen und vor Beginn des Verfahrens gegen den Bf. bestellt worden. Außerdem hatten in der Zwischenzeit Parlamentswahlen stattgefunden und wurden die beteiligten Laienrichter daher nicht vom selben Parlament bestellt, das entschieden hatte, den Bf. zu verfolgen. Mit Blick auf die Behauptung des Bf. schließlich, das Parlament hätte dazu optiert, die Amtszeit der beteiligten Laienrichter zu verlängern, weil das Sondergericht bislang vorwiegend zugunsten der Anklage geurteilt hatte, stellt der GH fest, dass keine Beweise präsentiert wurden, die Anlass geben könnten zu glauben, dass die Laienrichter oder das Gericht insgesamt auf voreingenommene Weise gehandelt hätten.
(108) Demgemäß sieht der GH unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles und des speziellen Charakters des Sondergerichts nichts, was zeigen könnte, dass das Gericht nicht die Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllte.
Verfahren vor dem Sondergericht und sein Urteil
(115) Im vorliegenden Fall wurde der Bf. gemäß Art. 17 der Verfassung iVm. § 8 lit. c des Gesetzes über die ministerielle Verantwortlichkeit für strafrechtlich verantwortlich erklärt. [...] § 2 des [letztgenannten] Gesetzes schreibt vor, dass die Haftung auf Handlungen oder Unterlassungen beschränkt ist, die vorsätzlich oder grob fahrlässig erfolgen. Demgemäß war die dem Bf. zugeschriebene Straftat – wie vom Sondergericht festgehalten – durch Unterlassung begründet und war das Verhalten unabhängig von den Folgen oder Risiken strafbar, die ihm zuzuschreiben waren.
(116) [...] Nachdem es die gesamten vorliegenden Beweise geprüft hatte, einschließlich der Protokolle von Kabinettssitzungen aus 2008, stellte das Gericht fest, dass die Gefahr, welcher sich das isländische Bankensystem gegenübersah, unzweifelhaft eine wichtige Regierungsangelegenheit betraf, der Bf. sich dessen bewusst sein musste, diese Frage bei den Treffen nicht ordentlich diskutiert wurde und dieses Versäumnis auf dessen grob fahrlässiges Verhalten zurückzuführen war.
(117) Der GH, der [...] nicht aufgerufen ist, seine eigene Beweiswürdigung an die Stelle jener des Sondergerichts zu setzen, befindet daher, dass die Straftat, derer der Bf. für schuldig befunden wurde, im Anklagepunkt 2 ausreichend umschrieben war (siehe die diesbezügliche Schlussfolgerung unter Rn. 90 oben) und zudem von den Eingaben der Anklägerin vor dem Sondergericht umfasst war; dass der Bf. vollkommen in der Lage war, auf die Anklage, die Eingaben und die vorgelegten Beweise zu replizieren; und dass das Gericht die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für die Verurteilung ausführlich darlegte und nicht vom Fall, wie er von der Anklägerin vorgelegt wurde, oder von einer angemessenen Auslegung der angewendeten rechtlichen Bestimmungen abwich.
(118) Es trifft zwar zu, dass das Sondergericht gegen Ende seiner Begründung überlegte, welches die wahrscheinlichen Konsequenzen gewesen wären, hätte der Bf. es nicht verabsäumt, in Kabinettssitzungen die Gefahr anzusprechen, denen das isländische Bankensystem und das Staatswohl gegenüberstanden. Wie oben erwähnt war das Verhalten, wegen dem der Bf. verurteilt wurde, jedoch unabhängig von solchen Folgen strafbar. Die Feststellung des Gerichts, dass der Bf. mit großer Fahrlässigkeit gehandelt hatte, basierte auf der Schlussfolgerung, dass er es verabsäumt hatte, seiner Pflicht nachzukommen, Angelegenheiten anzusprechen, deren Wichtigkeit ihm bewusst war oder zumindest bewusst sein musste. Die Möglichkeit, dass dieses Verhalten gewisse Konsequenzen hatte, war daher keine notwendige gesetzliche Voraussetzung, um seine strafrechtliche Verantwortlichkeit festzustellen. Die diesbezüglichen Bemerkungen des Gerichts scheinen daher den Charakter von obiter dicta gehabt zu haben.
(119) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass weder das Verfahren vor dem Sondergericht noch die Begründung von dessen Urteil die Garantien des Art. 6 EMRK verletzte.
Allgemeine Schlussfolgerung
(120) Im Ergebnis erfüllte das Verfahren im vorliegenden Fall [...] die Anforderungen an ein faires Verfahren.
Daraus folgt, dass es zu keiner Verletzung von Art. 6 EMRK gekommen ist (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK
(123) Der Bf. rügte, dass Art. 17 der Verfassung und § 8 lit. c des Gesetzes über die ministerielle Verantwortlichkeit unklar formuliert wären und es ihrer Auslegung und Anwendung daher an der von der Konvention verlangten Klarheit und Vorhersehbarkeit fehlte.
(128) [...] Der GH hält unter Berücksichtigung des Urteils des isländischen Sondergerichts fest, dass es entsprechend den travaux préparatoires zu Art. 17 der Verfassung historisch für notwendig erachtet wurde, dass Ministerkonferenzen so oft abgehalten werden, wie es die Ereignisse erfordern, sodass die Gesetzgebung und wichtige Angelegenheiten in einem gemeinsamen Meeting aller Minister diskutiert werden können. Das Gericht zitierte auch verfassungsrechtliche Lehrmeinungen, wonach »wichtige Regierungsmaßnahmen« in Art. 16 der Verfassung und »wichtige Regierungsangelegenheiten« in Art. 17 der Verfassung unzweifelhaft nicht dieselbe Bedeutung hätten. Laut dem Gericht war es von grundlegender Bedeutung, dass Angelegenheiten, die das Interesse des Staates und die Allgemeinbevölkerung betrafen, in Kabinettssitzungen besprochen werden, da dies das Forum sei, das die Minister laut der Verfassung untereinander für politische Konsultationen zu den höchstrangigsten Regierungsfragen und politischen Entscheidungen in bedeutenden Staatsangelegenheiten verwenden sollten. Zudem hielt das Gericht fest, dass der Premierminister – dessen Aufgabe es ist, die Regierung zu führen und der in den ministeriellen Konferenzen den Vorsitz hat – eine Pflicht hatte sicherzustellen, dass wichtige Regierungsangelegenheiten, die ihm bekannt waren, bei solchen Treffen diskutiert und behandelt wurden, wie es in Art. 17 der Verfassung vorgesehen war.
(129) Der Bf. brachte weiters vor, dass eine jahrhundertelange Tradition bestehen würde, bei Ministerkonferenzen nur solche Fragen zu besprechen, die dem Präsidenten der Republik nach Art. 16 Abs. 2 der Verfassung vorzulegen waren, und dass er in Beibehaltung dieser Tradition nicht vorhersehen hätte können, dass er dafür verurteilt werden würde, eine Verpflichtung unter Art. 17 der Verfassung nicht einzuhalten. Diesbezüglich hält der GH fest, dass das Sondergericht die Geschichte der beiden Artikel gründlich untersuchte und feststellte, dass ihr unterschiedlicher Wortlaut [...] eindeutig eine wörtliche Auslegung von Art. 17 dahingehend unterstützte, dass der Premierminister eine Pflicht hatte sicherzustellen, dass wichtige Regierungsangelegenheiten in Ministerkonferenzen diskutiert und behandelt wurden. Das Gericht erwog, dass – egal, ob die Praxis gewesen war, solche Fragen in den Konferenzen oder anderen Foren aufzuwerfen – diese Tradition den Premierminister nicht von seiner Verpflichtung unter Art. 17 befreite. Nachdem es zum Schluss gekommen war, dass die Gefahr, dem das Staatswohl ausgesetzt war, gigantische und noch nie da gewesene Ausmaße hatte und dies eindeutig eine »wichtige Regierunsangelegenheit« iSd. Art. 17 darstellte, befand es zudem weiter, dass die Sensibilität der Finanzmarktsituation das Versäumnis nicht entschuldigte, die betreffenden Fragen in Ministerkonferenzen aufzuwerfen, da diese Treffen dazu gedacht waren, unter den Ministern Diskussionen in voller Vertraulichkeit zu ermöglichen. Entgegen den Behauptungen des Bf. stellte das Gericht unter Berücksichtigung der in dem Fall präsentierten Beweise fest, dass die Fragen auf Ministerkonferenzen zwischen Februar und Ende September 2008 nicht besprochen worden waren.
(130) Der GH hält daher im Lichte des Vorgesagten fest, dass Art. 17 der isländischen Verfassung eine Bestimmung von zentraler Bedeutung in der Verfassungsordnung ist, da er wichtige Grundsätze darlegt, wie die Regierung als Kollegialorgan für wichtige Angelegenheiten der Regierungsführung und politische Entscheidungen funktionieren soll. Wie das Sondergericht festgehalten hat, war der Bf. als Premierminister und Regierungschef dafür verantwortlich sicherzustellen, dass die Erfordernisse von Art. 17 eingehalten wurden. Der GH stimmt dem Gericht bei der Feststellung zu, dass es der Bestimmung nicht an ausreichender Klarheit fehlte, auch wenn der Begriff der »wichtigen Regierungsangelegenheit« notwendigerweise eine Interpretationsfrage sein kann. Unter den Umständen des vorliegenden Falles hat der GH keine Schwierigkeit, im Einklang mit dem Gericht zu befinden, dass die letztgenannte Frage keinem Zweifel unterliegt.
(131) Demgemäß müssen die vom Sondergericht gezogenen Schlussfolgerungen im Hinblick auf die den einschlägigen Bestimmungen in ihrer Anwendung auf das Verhalten des Bf. zuzuweisenden Bedeutung als klar innerhalb seiner Aufgabe der Interpretation und Anwendung des nationalen Rechts liegend angesehen werden.
(132) Im Ergebnis stellt der GH fest, dass die Straftat, wegen derer der Bf. verurteilt wurde, im Gesetz ausreichend definiert war und die vom Sondergericht vorgenommene Auslegung mit dem Wesen der definierten Straftat im Einklang stand. Demgemäß konnte der Bf. angemessen vorhersehen, dass sein Verhalten ihn nach den in dem Fall angewandten Bestimmungen der Verfassung und des Gesetzes über die ministerielle Verantwortlichkeit strafrechtlich verantwortlich machen würde. Daraus folgt, dass es zu keiner Verletzung von Art. 7 EMRK gekommen ist (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).
Vom GH zitierte Judikatur:
Ninn-Hansen/DK v. 18.5.1999 (ZE)
Vasiliauskas/LT v. 20.10.2015 (GK) = NLMR 2015, 419
Ibrahim u.a./GB v. 13.9.2016 (GK) = NLMR 2016, 423
Lhermitte/B v. 29.11.2016 (GK) = NLMR 2016, 519
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.11.2017, Bsw. 66847/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 539) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/17_6/Haarde.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.