Bsw46852/13 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Burmych u.a. gg. die Ukraine, Urteil vom 12.10.2017, Bsw. 46852/13.
Spruch
Art. 6 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Keine Prüfung weiterer Beschwerden nach nicht umgesetztem Piloturteil.
Zulässigkeit der Beschwerden (mehrheitlich).
Verbindung der Beschwerden zur gemeinsamen Behandlung (10:7 Stimmen).
Streichung der Beschwerden aus dem Register der anhängigen Fälle (10:7 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegenden fünf Beschwerden beziehen sich auf die anhaltende Nichtvollstreckung rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen. Konkret betreffen die Urteile insbesondere Ansprüche auf Entschädigungen für Opfer des Reaktorunfalls von Tschernobyl sowie auf Invaliditätspensionen und ähnliche Leistungen. Die Beschwerden werfen Angelegenheiten auf, die den im Piloturteil Yuriy Nikolayevich Ivanov/UA behandelten ähnlich sind.
Der GH hatte wegen der steigenden Zahl von Beschwerden, die sich auf die fehlende Vollstreckung von Urteilen in der Ukraine bezogen, ein Piloturteilsverfahren eingeleitet. In seinem Urteil stellte er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK sowie von Art. 1 1. Prot. EMRK fest, die auf ein systemisches Problem zurückzuführen war. Angesichts der circa 1.400 Beschwerden, die damals anhängig waren, wies der GH die Ukraine unter Art. 46 EMRK an, unverzüglich aber spätestens binnen eines Jahres ab Endgültigkeit des Urteils einen effektiven Rechtsbehelf oder eine Kombination von Rechtsbehelfen einzuführen, um angemessene und ausreichende Wiedergutmachung für die fehlende oder verspätete Vollstreckung rechtskräftiger Entscheidungen sicherzustellen. Die Verfahren über bereits anhängige und künftige gleichartige Beschwerden wurden ausgesetzt.
Nachdem er die Frist zur Umsetzung genereller Maßnahmen wiederholt verlängert hatte, nahm der GH 2012 die Prüfung der Folgebeschwerden wieder auf. Ab Juni entschied er jeweils über zu Gruppen zusammengefasste Fälle. 2013 wurden 2.459 Beschwerden mit Urteil oder Entscheidung erledigt. Im Juni 2013 ging der GH dazu über, in derartigen Fällen einen fixen Betrag von € 2.000,– für materiellen und immateriellen Schaden zuzusprechen. Im September 2014 wurde die Prüfung solcher Beschwerden wegen ihrer stark gestiegenen Anzahl für ein Jahr ausgesetzt. Im Jänner 2015 wurde der Regierung eine Gruppe von 5.000 Beschwerden zugestellt. In weiterer Folge wurden zahlreiche Fälle nach einseitigen Erklärungen der Regierung, den Bf. je € 1.000,– zu bezahlen, aus dem Register gestrichen.
Derzeit sind 12.143 Beschwerden vom Typ Ivanov/UA anhängig, von denen 7.641 der Regierung zugestellt wurden. Seit 2012 hat der GH 14.430 derartige Fälle erledigt. Nach wie vor gehen zahlreiche Beschwerden ein.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) durch die Nichtvollstreckung von zu ihren Gunsten ergangenen innerstaatlichen gerichtlichen Entscheidungen sowie von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) wegen des Fehlens eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs.
Verbindung der Beschwerden
(129) Angesichts der Tatsache, dass die vorliegenden Beschwerden aus derselben systemischen Konventionsverletzung resultieren, die im Urteil Ivanov/UA festgestellt wurde, entscheidet der GH [...], sie zur gemeinsamen Behandlung zu verbinden.
Zulässigkeit
(140) Der GH stellt fest, dass die Beschwerden nicht offensichtlich unbegründet [...] sind. Sie sind auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig und müssen folglich für zulässig erklärt werden (mehrheitlich).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 13 EMRK und von Art. 1 1. Prot. EMRK
Vorüberlegungen
(141) Die vorliegenden Beschwerden betreffen im Kern die Kompetenzverteilung zwischen dem GH auf der einen Seite, dessen Aufgabe es ist, »die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben« (Art. 19 EMRK) und dem Ministerkomitee auf der anderen, das »die Durchführung« des endgültigen Urteils des GH »überwacht« (Art. 46 EMRK). [...] Die Einführung des Piloturteilsverfahrens durch den GH im Urteil Broniowski/PL [...] hat der Rolle des GH und jener des Ministerkomitees [...] eine neue Dimension hinzugefügt.
(142) In Anbetracht dieser Entwicklungen ist es notwendig geworden klarzustellen, wo die Zuständigkeiten zur Befassung mit Angelegenheiten liegen, die sich aus einem Versäumnis ergeben, ein Piloturteil umzusetzen.
Die beim GH anhängigen Beschwerden und das Urteil Ivanov/UA
(143) Die vorliegenden [...] Beschwerden sind Teil einer Gruppe von 12.143 ähnlichen Beschwerden, die derzeit beim GH anhängig sind. Diese Fälle entspringen demselben systemischen Problem, das im Piloturteil Ivanov/UA identifiziert wurde, nämlich der Serie von Funktionsstörungen im ukrainischen Rechtssystem, welche die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile verhindert [...], kombiniert mit dem Fehlen wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelfe gegen solche Versäumnisse.
(144) Der GH muss an seine Feststellungen in Ivanov/UA erinnern, wonach die strukturellen Probleme [...] weit verbreitet und von komplexer Natur seien und die Umsetzung umfassender und komplexer Maßnahmen erforderten, die administrativer und legislativer Art sein könnten und verschiedene innerstaatliche Behörden betreffen würden. In diesem Zusammenhang stellte er auch fest, dass das Ministerkomitee besser dazu in der Lage wäre als der GH, die in der Ukraine diesbezüglich zu ergreifenden Maßnahmen zu überwachen.
(145) Während er anerkannte, dass es in die Zuständigkeit des Ministerkomitees falle zu entscheiden, welcher Weg am angemessensten zur Bewältigung der Probleme wäre, [...] betonte der GH doch, dass ohne Verzögerung spezifische Reformen in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis der Ukraine umgesetzt werden sollten [...]. Er ordnete daher im Urteilsspruch an, dass »der belangte Staat ohne Verzögerung und spätestens innerhalb eines Jahres ab Endgültigkeit des Urteils [...] einen effektiven Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbehelfe einrichten muss, die geeignet sind, angemessene und ausreichende Wiedergutmachung für das Unterbleiben oder die Verzögerungen bei der Vollstreckung rechtskräftiger Urteile zu schaffen [...]«.
(146) Die ukrainische Regierung hat es allerdings trotz des beachtlichen Zeitraums, der seit dem [...] Piloturteil Ivanov/UA [...] vergangen ist, bislang verabsäumt, die entsprechenden generellen Maßnahmen umzusetzen, die geeignet wären, die Grundursachen des [...] systemischen Problems zu beheben, und einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, der allen Opfern eine Wiedergutmachung auf nationaler Ebene gewährleisten würde. [...] Ungeachtet der zusätzlichen Anleitungen, die das Ministerkomitee der belangten Regierung im Lauf der Jahre mittels sechs aufeinanderfolgenden Zwischenresolutionen gegeben hat, bleibt es ungelöst.
(147) Mittlerweile hat der GH seit der Erhebung der ersten Beschwerden im Jahr 1999 circa 29.000 Beschwerden vom Ivanov-Typ erhalten, von denen 14.430 durch verschiedene richterliche Formationen des GH geprüft wurden. Allerdings warten 12.143 dieser Beschwerden [...] noch auf eine richterliche Prüfung [...]. [...]
Die Auswirkungen des Versäumnisses, das Piloturteil Ivanov/UA umzusetzen
(148) Durch das jahrelang anhaltende Versäumnis der Ukraine, das Urteil Ivanov/UA umzusetzen, [...] wurden zahlreiche Folgebeschwerden verursacht, die in der Sache mit jenen des vorliegenden Falls identisch sind.
(151) Dieses Versäumnis [...] veranlasste den GH dazu, die Ivanov-Folgefälle in einem beschleunigten summarischen Verfahren zu prüfen und Urteile und Entscheidungen zu Gruppen von Beschwerden zu erlassen, die sich im Wesentlichen auf die Feststellung einer Verletzung und den Zuspruch gerechter Entschädigung beschränkten. Dies gestattete es den Bf., rasch eine Entscheidung zu erlangen, die ihnen eine finanzielle Wiedergutmachung gewährte.
(154) Aus dem gegenwärtigen Stand der Dinge kann nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der GH, wenn er die vorliegenden Fälle und alle anderen Folgefälle in derselben oder auf ähnliche Weise prüft, mit der unvermeidbaren Aussicht konfrontiert sein wird, dass sich in Zukunft wachsende Zahlen von Bf. aus der Ukraine an ihn wenden werden, um eine Wiedergutmachung zu erhalten. [...]
(155) Der GH bemerkt, dass er Gefahr läuft, als Teil des ukrainischen Rechtsdurchsetzungssystems zu agieren und sich selbst an die Stelle der ukrainischen Behörden zu setzen [...]. Diese Aufgabe ist nicht vereinbar mit der subsidiären Rolle des GH nach Art. 1 und Art. 19 EMRK [...] und sie widerspricht direkt der Logik des [...] Piloturteilsverfahrens.
(156) Daher muss der GH überlegen, wie dieser Situation am besten auf eine Weise begegnet werden kann, die den Grundgedanken des Piloturteilsverfahrens [...] und das diesem zugrunde liegende Subsidiaritätsprinzip achtet [...]. Insbesondere muss er prüfen, ob er als Mechanismus für die Zuerkennung von Entschädigung im Hinblick auf eine große Zahl sich wiederholender Beschwerden handeln soll, die Pilot- oder Leiturteilen folgen, deren Durchführung nach Art. 46 Abs. 2 EMRK vom Ministerkomitee zu überwachen ist.
Ziel und Zweck des Piloturteilsverfahrens
(158) Das Piloturteilsverfahren wurde als Antwort auf das Anwachsen der Arbeitsbelastung des GH konzipiert, die auf eine Reihe von Fällen zurückzuführen ist, die sich aus derselben strukturellen oder systemischen Fehlfunktion ergaben, um die langfristige Effektivität des Konventionssystems sicherzustellen.
(159) Der Zweck dieses Verfahrens ist einerseits die Reduktion der Bedrohung des effizienten Funktionierens des Konventionssystems und andererseits die Erleichterung der schnellsten und effektivsten Behebung einer Fehlfunktion, die den Schutz von Konventionsrechten in der nationalen Rechtsordnung beeinträchtigt. Indem die Interessen aller anderen tatsächlichen oder potentiellen Opfer des festgestellten systemischen Problems in den Prozess der Durchführung des Piloturteils eingebunden werden, zielt das Verfahren darauf ab, allen aktuellen oder potentiellen Opfern dieser Fehlfunktion sowie den konkreten Bf. des Pilotfalls angemessene Abhilfe zu leisten. Die Bereitstellung solcher »angemessenen und ausreichenden Abhilfe« [...] ist nach der Logik des Piloturteilsverfahrens eine mit der Durchführung des Piloturteils verbundene vertragliche Verpflichtung, deren Einhaltung vom Ministerkomitee zu überwachen ist. Die Rolle des GH ist im Wesentlichen darauf beschränkt, ein systemisches Problem zu identifizieren und wenn angemessen allgemeine Maßnahmen zur Abhilfe anzuzeigen, die bei der Umsetzung zu ergreifen sind. Die Gewährung von Abhilfe für die Opfer in Folgefällen wird somit durch das Piloturteilsverfahren in den Rahmen des Verfahrens zur Durchführung des Urteils gestellt. Außerdem hat der GH weder die Kapazität noch entspricht es seiner Aufgabe, über sich in großer Zahl wiederholende Fälle zu entscheiden, die eine Feststellung grundlegender Tatsachen oder die Berechnung einer monetären Entschädigung erfordern. Beides sollte [...] den innerstaatlichen Rechtssystemen vorbehalten sein.
(160) Die Beurteilung der in einem Piloturteil gerügten Situation durch den GH geht folglich notwendigerweise über die bloßen Interessen des individuellen Bf. hinaus und verlangt eine Prüfung des ihm vorliegenden Falls auch aus der Perspektive der generellen Maßnahmen, die im Interesse anderer aktuell oder potentiell betroffener Personen zu ergreifen sind.
(161) Gemäß dem Zweck des Piloturteilsverfahrens muss der belangte Staat daher den Ursprung der Verletzung für die Zukunft beseitigen und einen Rechtsbehelf für den nicht nur von den individuellen Bf. im Pilotfall, sondern auch von allen anderen Opfern der gleichartigen Verletzung erlittenen Nachteil zur Verfügung stellen. Die Absicht besteht darin, dass alle anderen Opfer unter dem Schirm der vom belangten Staat verlangten generellen Maßnahmen in den Prozess der Durchführung des Piloturteils aufgenommen werden.
(162) Seit dem Urteil Broniowski/PL vom 22.6.2004 hat der GH 35 endgültige Piloturteile erlassen [...]. [...]
(163) Die meisten Piloturteile wurden durch von den belangten Staaten eingeführte generelle Abhilfemaßnahmen erfolgreich umgesetzt. Wo solche Maßnahmen einen neuen kompensatorischen oder anderen Rechtsbehelf umfassten, der geeignet ist, ausreichende und angemessene Wiedergutmachung auf innerstaatlicher Ebene zu leisten, erklärte der GH die Folgefälle wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe für unzulässig und verwies sie zurück an die fraglichen Staaten.
(164) Wo die Staaten Gesetzesänderungen vornahmen, die für aktuelle und potentielle Opfer einer systemischen Verletzung Abhilfe auf innerstaatlicher Ebene schufen, sodass die weitere Prüfung ähnlicher Beschwerden durch den GH nicht länger gerechtfertigt war, strich er diese Fälle aus seinem Register, weil die Streitigkeit iSv. Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK einer Lösung zugeführt worden ist [...]. [...]
(166) Es ist die gängige Praxis des GH [...], in Piloturteile [...] verschiedene verfahrensrechtliche Entscheidungen betreffend die künftige Behandlung von Folgefällen [...] aufzunehmen. Beispielsweise hat der GH oft entschieden, ähnliche Fälle zu vertagen, bis der belangte Staat generelle Maßnahmen umgesetzt hat [...]. Er hat seine Prüfung ähnlicher Beschwerden, die bereits anhängig waren, abgebrochen und die Behandlung ähnlicher Beschwerden ausgesetzt, die zum Zeitpunkt der Verkündung des Piloturteils noch nicht registriert waren. [...] Wo es angemessen war, hat der GH aufgrund des Piloturteils entschieden, alle ähnlichen Beschwerden, die vor dem Datum der Verkündung des Urteils erhoben wurden, der Regierung zuzustellen. Diese Praxis, die eine Reihe von Lösungen umfasst, spiegelt den Zweck des Piloturteilsverfahrens wider, wonach alle aus derselben systemischen Ursache resultierenden Fälle in seinen Rahmen eingegliedert und in den Prozess der Durchführung des Piloturteils aufgenommen werden.
Notwendigkeit eines neuen Ansatzes in den auf Ivanov/UA folgenden Fällen
(167) Im vorliegenden Fall ist der GH in Anbetracht der Feststellungen des Ministerkomitees mit der Herausforderung konfrontiert, neue Anweisungen nach einem Piloturteil zu geben, das bislang seine Ziele eindeutig nicht erreicht hat.
(171) Nach der bislang vom GH verfolgten Praxis gibt die unwirksame Durchführung des Urteils Ivanov/UA weiterhin Anlass zu sich wiederholenden Feststellungen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK im Hinblick auf jedes einzelne nicht vollstreckte Urteil in der Ukraine und dies wird für die absehbare Zukunft weiter der Fall sein, solange nicht im Verfahren vor dem Ministerkomitee eine zufriedenstellende Lösung angenommen wird. Dem Material zufolge, das dem Ministerkomitee vorliegt, gibt es in der Ukraine 120.000 Personen mit nicht vollstreckten Urteilen.
(172) Diese Situation in Fällen vom Typ Ivanov/UA zeigt nach Ansicht des GH, dass er seinen Zugang zur Behandlung von Folgefällen, die sich aus derselben systemischen Ursache ergeben, ändern muss. Er verweist auf die Einschätzung des Ministerkomitees vom September 2016, wonach eine angemessene Reaktion auf die derzeitige Situation nicht in der Schlichtung von Ansprüchen durch nichtstreitige Verfahren vor dem GH bestehen kann, sondern nur in einer im Umsetzungsverfahren angenommenen dauerhaften Lösung der Grundursache des Problems.
(173) Selbst wenn diese individuelle Wiedergutmachung durch eine Entscheidung in der Sache und den Zuspruch gerechter Entschädigung für immateriellen Schaden im zu prüfenden Fall erreicht werden könnte, besteht nach Ansicht des GH ein starkes allgemeines Interesse daran, einen Ansatz zu verfechten, der auf lange Sicht geeignet ist, die jeweiligen Rollen des GH, der belangten Regierung und des Ministerkomitees nach Art. 19 und Art. 46 EMRK zu bewahren.
(174) Angesichts seiner seit mehr als 16 Jahren anhaltenden Anstrengungen zur Prüfung von Fällen vom Typ Ivanov/UA kommt der GH zum Schluss, dass durch die Wiederholung seiner Feststellungen in einer langen Serie vergleichbarer Fälle, die seine eigenen Ressourcen erheblich belasten und sich entsprechend auf seine beträchtliche Arbeitsbelastung auswirken würde, nichts gewonnen und der Gerechtigkeit nicht gedient wäre. Insbesondere würde eine solche Vorgangsweise nicht in irgendeiner sinnvollen Weise zur Stärkung des Menschenrechtsschutzes nach der EMRK beitragen.
(175) Angesichts dieser Überlegungen bestehen ernste Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer fortgesetzten Prüfung von Beschwerden vom Typ Ivanov/UA. [...]
Zur Rechtfertigung einer fortgesetzten Prüfung von Beschwerden vom Typ Ivanov/UA
Im Hinblick auf Art. 19 EMRK
(177) Wie der GH früher festgestellt hat, kann es Beispiele geben, wo der belangte Staat nach [...] einem Piloturteil die Umsetzung genereller Maßnahmen unverhältnismäßig lange verzögert und das Problem ungelöst lässt, wodurch auf unbestimmte Zeit wiederholte Konventionsverletzungen hervorgerufen werden. Den in einigen vorangegangenen Fällen, einschließlich Ivanov/UA, getroffenen Feststellungen zufolge hat der GH unter solchen Umständen keine andere Wahl, als die übrigen anhängigen Beschwerden zu prüfen und mit Urteil zu erledigen, um den Prozess der Durchführung des Urteils vor dem Ministerkomitee auszulösen und die Einhaltung der Konvention auf innerstaatlicher Ebene sicherzustellen.
(178) In manchen Fällen hat der GH allerdings die Möglichkeit eines anderen Zugangs erwähnt, den er nun im Licht der Erfahrungen mit dem vorliegenden Fall als überzeugender ansieht.
(181) [...] Die grundsätzliche Aufgabe des GH wird durch Art. 19 EMRK bestimmt, während die Zuerkennung von Entschädigungen nach Art. 41 EMRK dieser nur untergeordnet ist. Die Rolle des GH [...] kann folglich nicht dahingehend umfunktioniert werden, in jedem einzelnen Wiederholungsfall, der sich aus derselben systemischen Situation ergibt, individualisierte finanzielle Abhilfe zu gewähren.
(182) Da sich seine bisherige Praxis in Fällen vom Typ Ivanov/UA als ungeeignet zur Erreichung ihres Ziels erwiesen hat, ist es nach Ansicht des GH an der Zeit, [...] neu zu definieren, worin seine Rolle besteht, wenn es der belangte Staat verabsäumt hat, generelle Maßnahmen zur Abhilfe zu ergreifen, und welche Konsequenzen daraus im Hinblick auf Art. 46 EMRK zu ziehen sind.
Im Hinblick auf Art. 46 EMRK
(185) Entsprechend dem Grundsatz der Subsidiarität sichern die Mitgliedstaaten »allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in [der Konvention] bestimmten Rechte und Freiheiten zu«. Aufgrund dieses Prinzips und ihrer Verpflichtung nach Art. 46 EMRK, »das endgültige Urteil des GH zu befolgen«, teilen die Mitgliedstaaten die gemeinsame Verantwortung für die Durchführung der Urteile des GH, wobei die Überwachung nach Art. 46 Abs. 2 EMRK dem Ministerkomitee zukommt.
(188) Die Staaten haben [...] die überragende Bedeutung anerkannt, die der Umsetzung der Urteile des GH im Kontext sich wiederholender Beschwerden für das effektive Funktionieren des Konventionssystems zukommt, und sich kollektiv dazu verpflichtet sicherzustellen, dass die Urteile des GH, die systemische Mängel offenlegen, vollständig umgesetzt werden. [...]
(194) Die Aufgabenverteilung zwischen GH und Ministerkomitee ist klar – der GH kann den belangten Staat bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen nach Art. 46 EMRK unterstützen, indem er versucht, die Art von Maßnahmen anzuzeigen, die vom Staat ergriffen werden könnten, um ein [...] systemisches Problem zu beheben. Es ist allerdings Sache des Ministerkomitees, die Durchführung des Urteils zu überwachen und sicherzustellen, dass der Staat seine rechtlichen Verpflichtungen nach Art. 46 EMRK erfüllt hat, einschließlich des Ergreifens solcher genereller Abhilfemaßnahmen [...]. [...]
(195) Die Situation, mit welcher der GH in den Fällen vom Typ Ivanov/UA konfrontiert ist, resultiert aus einer unwirksamen Umsetzung des endgültigen Urteils des GH [...]. Die Lösung der Probleme [...] liegt außerhalb der von Art. 19 EMRK definierten Kompetenz des GH. Sie können nur zwischen dem belangten Staat auf der einen und dem Ministerkomitee auf der anderen Seite angemessen angesprochen werden [...].
(196) Es obliegt daher dem belangten Staat und dem Ministerkomitee, ihren Verantwortlichkeiten nach Art. 46 EMRK nachzukommen und sicherzustellen, dass das Piloturteil Ivanov/UA vollständig umgesetzt wird und dass – zusätzlich zu den notwendigen generellen Maßnahmen zur Behebung der Grundursache des Problems – individuellen Bf. auf innerstaatlicher Ebene angemessene Wiedergutmachung geleistet wird [...].
Schlussfolgerung
(197) Die Rechtsfragen unter der Konvention betreffend die fortgesetzte Nichtvollstreckung rechtskräftiger innerstaatlicher Entscheidungen in der Ukraine wurden bereits im Piloturteil Ivanov/UA gelöst. Der GH hat damit seine Funktion nach Art. 19 EMRK erfüllt. Insbesondere hat er die systemischen Versäumnisse identifiziert, eine Verletzung der EMRK durch diese Versäumnisse festgestellt und Hinweise zu den nach Art. 46 EMRK für die zufriedenstellende Umsetzung des Piloturteils zu ergreifenden generellen Maßnahmen gegeben, um Abhilfe für alle Opfer [...] sicherzustellen. Dem Grundsatz der Subsidiarität entsprechend [...] ist die im Piloturteil Ivanov/UA behandelte Angelegenheit, einschließlich der Gewährung von Wiedergutmachung für Opfer der [...] festgestellten systemischen Konventionsverletzung, eine Frage der Durchführung unter Art. 46 EMRK.
(198) Der vorliegende Fall und alle 12.143 anhängigen Parallelfälle sowie alle künftig an ihn herangetragenen Fälle sind damit fester Bestandteil des Prozesses der Durchführung des Piloturteils. Ihre Lösung, einschließlich individueller Maßnahmen zur Wiedergutmachung, muss zwingend von den generellen Maßnahmen zur Durchführung umfasst sein, die vom belangten Staat unter der Überwachung durch das Ministerkomitee zu ergreifen sind. Folglich sind alle diese Fälle im Rahmen des Prozesses zur Durchführung zu behandeln und müssen dem Ministerkomitee zur Kenntnis gebracht werden, das [...] dafür verantwortlich ist, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit für alle von dem in einem Piloturteil festgestellten systemischen Problem betroffenen Opfer, einschließlich der im Anhang genannten Bf., zu überwachen.
(199) Im Hinblick auf die jeweiligen Kompetenzen des GH und des Ministerkomitees nach Art. 19 und Art. 46 EMRK muss der GH zu dem Ergebnis gelangen, dass eine der bisherigen Praxis entsprechende fortgesetzte Behandlung dieser Fälle keinem sinnvollen Zweck [...] dient. Daher muss der GH nun prüfen, ob er unter diesen Umständen seine Befugnis zur Streichung der Bf. aus dem Register nach Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK ausüben kann und soll.
Anwendung von Art. 37 EMRK
(202) [...] Der GH hat festgestellt, dass den Zielen der Konvention durch eine Fortsetzung der Behandlung der Nachfolgefälle von Ivanov/UA nicht am besten gedient wäre. Er kommt daher zum Schluss, dass die weitere Prüfung der Beschwerde iSv. Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK nicht gerechtfertigt ist. Es bleibt zu entscheiden, ob es die »Achtung der Menschenrechte« erfordert, die Prüfung dennoch fortzusetzen.
(203) In allen solchen Fällen ist jeder derzeitige und zukünftige Bf. in jeder Hinsicht ein »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK, das einen Anspruch auf eine vollständige Umsetzung des Piloturteils auf innerstaatlicher Ebene entsprechend Art. 46 Abs. 1 EMRK und auf »angemessene und ausreichende Wiedergutmachung« hat, wie dies vom Spruch des Urteils Ivanov/UA verlangt wird. Eine solche Wiedergutmachung sollte die Vollstreckung zu ihren Gunsten ergangener innerstaatlicher Urteile einschließen. [...]
(204) Wie oben festgestellt wurde, müssen die in diesen Beschwerden aufgeworfenen Missstände im Kontext der generellen Maßnahmen gelöst werden, die zur Durchführung des Piloturteils Ivanov/UA erforderlich sind, einschließlich der Gewährung angemessener und ausreichender Wiedergutmachung [...]. Dementsprechend und angesichts der unterschiedlichen Abläufe, die zu diesem Zweck vorgesehen sind, kommt der GH weiters zum Schluss, dass es die Achtung der Menschenrechte iSv. Art. 37 Abs. 1 EMRK nicht erfordert, im Hinblick auf individuelle Wiedergutmachung die fraglichen Beschwerden weiter zu prüfen.
(205) [...] Der Fall wirft auch keine wichtigen Angelegenheiten auf, die allgemeiner die Verpflichtungen der Vertragsstaaten auf diesem Gebiet betreffen und nicht bereits in den unterschiedlichen Phasen des Piloturteilsverfahrens klargestellt worden sind. [...]
(206) Angesichts dessen sieht der GH [...] keine Umstände hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte [...], die eine fortgesetzte Prüfung des vorliegenden Falls oder anderer Beschwerden vom Typ Ivanov/UA erfordern würden.
(207) Schließlich erinnert der GH daran, dass diese Schlussfolgerung nichts an seiner Befugnis ändert, nach Art. 37 Abs. 2 EMRK die vorliegende oder jede andere ähnliche Beschwerde wieder in das Register der anhängigen Fälle einzutragen, wenn die Umstände ein solches Vorgehen rechtfertigen.
(208) Folglich entscheidet der GH, die fraglichen Beschwerden gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK aus dem Register zu streichen.
Bei ähnlichen Beschwerden zu befolgendes Verfahren
(213) Es stellt sich die Frage, ob die GK in Fällen wie dem vorliegenden [...] den Fall, der nach Art. 30 EMRK an sie verwiesen wurde, mit anderen anhängigen Fällen verbinden kann [...] oder ob der GH separate Entscheidungen oder Urteile für die anderen Bf. fällen muss. Eine Kammer hätte nach Art. 42 Abs. 1 lit. a VerfO eindeutig diese Kompetenz, die sie in jedem Verfahrensstadium vor Erlass ihres Urteils ausüben könnte. Es scheint keinen guten Grund zu geben, warum der höchste Spruchkörper des GH nicht dieselbe Befugnis haben sollte. [...]
(215) Wie oben festgestellt wurde, ist es angemessener, die vorliegenden Beschwerden und die 12.143 anhängigen Beschwerden [...] im Rahmen des Prozesses der Durchführung des Piloturteils Ivanov/UA zu lösen. [Die fünf vorliegenden Beschwerden sowie die 12.143 in den Anhängen aufgelisteten Beschwerden sind entsprechend der aus dem Piloturteil Ivanov/UA, in dem ein mit Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK sowie Art. 1 1. Prot. EMRK unvereinbares strukturelles Problem festgestellt wurde, resultierenden Verpflichtung zu behandeln (13:4 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Yudkivska, Bianku, De Gaetano und Laffranque).]
(218) Der GH [...] erachtet den folgenden Zugang hinsichtlich der Folgebeschwerden zu Ivanov/UA angemessen.
Betreffend anhängige Beschwerden
(219) Angesichts der Tatsache, dass alle diese Beschwerden auf demselben systemischen Problem beruhen [...] und im Wesentlichen dieselben Tatsachen- und Rechtsfragen wie der vorliegende Fall betreffen [...], sollten sie nach Ansicht des GH [...] mit dem vorliegenden Fall verbunden werden (10:7 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Yudkivska, Sajó, Bianku, Karakas, De Gaetano, Laffranque und Motoc).
(220) Aus den oben dargelegten Gründen (Rn. 202-208) stellt der GH fest, dass die 7.641 zugestellten Beschwerden (Anhang I) und 4.502 neuen Beschwerden (Anhang II) gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK ebenfalls aus dem Register zu streichen sind (10:7 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Yudkivska, Sajó, Bianku, Karakas, De Gaetano, Laffranque und Motoc).
Betreffend zukünftige ähnliche Beschwerden
(221) Da dieselbe Begründung auf alle zukünftigen begründeten Beschwerden vom Typ Ivanov/UA zutrifft, die nach dem Erlass dieses Urteils erhoben werden könnten, kann sie der GH – sofern sie nicht nach Art. 35 EMRK unzulässig sind – aus dem Register streichen und direkt an das Ministerkomitee weiterleiten.
(222) Zudem wird der GH [...] sicherstellen, dass das Ministerkomitee und die in seinen Resolutionen genannten Institutionen des Europarats über alle künftigen ähnlichen Fälle und alle relevanten Entwicklungen betreffend die Folgefälle nach Ivanov/UA angemessen unterrichtet werden. Dem Ministerkomitee und dem belangten Staat werden die Urteile und Entscheidungen übermittelt, in denen solche Beschwerden aufgelistet sind und die dann im Rahmen der generellen Maßnahmen zur Umsetzung des Piloturteils auf innerstaatlicher Ebene [...] zu behandeln sind.
Vom GH zitierte Judikatur:
Broniowski/PL v. 20.6.2004 (GK) = NL 2004, 135 = EuGRZ 2004, 472 = ÖJZ 2006, 130
Hutten-Czapska/PL v. 19.6.2006 (GK) = NL 2006, 144
Wolkenberg u.a./PL v. 4.12.2007 (ZE) = EuGRZ 2008, 126
E. G./PL und 175 weitere Bsw. v. 23.9.2008 (ZE) = NL 2008, 255
Burdov/RUS (Nr. 2) v. 15.1.2009 = NL 2009, 17
Yuriy Nikolayevich Ivanov/UA v. 15.10.2009 = NL 2009, 298
Greens und M. T./GB v. 23.11.2010 = NLMR 2010, 355
Kuric u.a./SLO v. 26.6.2012 (GK) = NLMR 2012, 198
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.10.2017, Bsw. 46852/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 469) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/17_5/Burmych.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.