JudikaturAUSL EGMR

Bsw11537/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Juli 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Lorenz gg. Österreich, Urteil vom 20.7.2017, Bsw. 11537/11.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK - Unrechtmäßige Anhaltung im Maßnahmenvollzug.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK im Hinblick auf die Raschheit der Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte im Überprüfungsverfahren 2010/11 und 2013 (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK im Hinblick auf die Raschheit der Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte im Überprüfungsverfahren 2011/12 (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,– für immateriellen Schaden, € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 14.3.1984 wurde der Bf. insbesondere wegen dreifachem Mord vom Straflandesgericht Wien zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Zusätzlich ordnete das Gericht nach § 21 Abs. 2 StGB seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme (zurechnungsfähige) Rechtsbrecher an. Dieses Urteil bestätigte der OGH am 27.9.1984. Seither war der Bf. in verschiedenen Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher inhaftiert. Bis zum 26.2.2003 verbüßte er seine Haftstrafe, danach wurde er im Maßnahmenvollzug angehalten. Seit 2008 befindet er sich in der Abteilung für geistig abnorme Straftäter der Justizanstalt Stein.

Ab 2008 stellte der Bf. regelmäßig Anträge auf Entlassung und begründete diese mit einer seiner Ansicht nach aufgrund erfolgreicher Therapierung reduzierten Gefährlichkeit. Gegenstand der vorliegenden Beschwerde sind die Überprüfungsverfahren 2010/11, 2011/12 und 2013:

1) Sein Antrag vom 20.8.2010 wurde vom LG Krems am 7.12.2010 abgewiesen. Es verwies zur Begründung der Fortsetzung der Anhaltung auf Stellungnahmen von Gefängnisdienststellen und insbesondere auf das Sachverständigengutachten von Dr. B. vom 3.3.2010, in dem festgestellt worden war, dass der Bf. sich zwar stabilisiert hätte, er außerhalb des Gefängnisses aber nach wie vor eine Gefahr für andere darstellen würde. Das Gericht verwies darauf, dass die notwendige Vorbereitung des Bf. auf seine Entlassung zudem nur im Gefängnis Wien-Mittersteig erfolgen könne, das allerdings bislang nicht auf das Ansuchen um Verlegung des Bf. dorthin reagiert hätte. Zudem betonte es, dass der Bf. die Vornahme einer Therapie verweigere. Am 25.1.2011 wies das OLG Wien die Berufung des Bf. gegen die Entscheidung des LG als unbegründet ab.

2) Betreffend den Antrag des Bf. auf bedingte Entlassung vom 8.9.2011 hielt das LG eine mündliche Verhandlung ab und ordnete in der Folge die Erstellung eines Gutachtens an. Der Bf. ersuchte das Gericht darum, sich auf Gutachten von Dr. L. aus 2009 bzw. Februar 2010 zu stützen, die ihm eine günstigere Gefährdungsprognose bescheinigten. Nachdem der Bf. die erneute Untersuchung durch einen Gutachter verweigert hatte, hielt das Gericht am 23.4.2012 noch eine Verhandlung ab und ordnete schließlich die weitere Anhaltung des Bf. an. Es stützte sich dabei auf die Informationen aus der Fallakte, das Gutachten von Dr. B. und Informationen der Gefängnisdirektion und kam zum Schluss, dass der Bf. für eine Entlassung immer noch zu gefährlich wäre. Das OLG bestätigte die Entscheidung am 30.7.2012.

3) Am 26.3.2013 beantragte der Bf. erneut seine Entlassung. Das LG ordnete am 20.6.2013 jedoch abermals die Fortsetzung seiner Anhaltung an und wiederholte dabei im Wesentlichen die Begründung seiner Entscheidung vom 23.4.2012, wobei es diesmal keine mündliche Verhandlung abhielt. Das Gericht bestätigte auch, dass der Bf. nur im Gefängnis Wien-Mittersteig auf seine Entlassung vorbereitet werden könne, allerdings sah es eine Anordnung der Verlegung des Bf. aufgrund dessen negativer Einstellung zur Therapie als nicht angemessen an. Das OLG bestätigte die Entscheidung des LG am 19.7.2013 und betonte, dass dieses keine andere Wahl gehabt hätte, als das Gutachten aus 2010 heranzuziehen, da der Bf. in der Folge eine weitere Untersuchung durch einen Sachverständigen verweigert hätte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Rechtmäßigkeit der Haft), da die Haftprüfungsverfahren von 2010/11, 2011/12 und [2013] und seine fortdauernde Anhaltung unrechtmäßig gewesen wären. Ebenso rügte er eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Haftprüfung), da die betreffenden Verfahren nicht »rasch« im Sinne dieser Bestimmung durchgeführt worden wären.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

(45) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(46) Der Bf. rügte, dass die periodische Überprüfung seiner Anhaltung nicht im Einklang mit den innerstaatlichen rechtlichen Vorgaben durchgeführt worden wäre. Die Gerichte hätten es verabsäumt, ihre Entscheidungen zur Fortsetzung der Anhaltung auf stichhaltige und ausreichende Gründe zu stützen. Diese Verfahren wären daher unrechtmäßig gewesen.

Allgemeine Grundsätze

(53) Die einschlägigen allgemeinen Grundsätze wurden kürzlich im Urteil des GH im Fall Bergmann/D [...] [Rn. 95 ff.] zusammengefasst [...].

(54) Die Angemessenheit der Entscheidung zur Verlängerung der Anhaltung einer Person, um die Öffentlichkeit vor weiteren Straftaten durch diese Person zu schützen, wird insbesondere in Frage gestellt, wenn die innerstaatlichen Gerichte eindeutig über unzureichende Elemente verfügten, um zum Schluss zu gelangen, dass die betroffene Person immer noch eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt – vor allem weil die Gerichte es verabsäumten, ein unverzichtbares und ausreichend aktuelles Sachverständigengutachten einzuholen [...].

(57) Der GH hat festgestellt, dass die erfolgreiche Absolvierung therapeutischer Maßnahmen offenkundig die Kooperation der betroffenen Person erfordert [...]. Wenn keine andere Möglichkeit existiert, z.B. weil die betroffene Person sich geweigert hat, zu einer Untersuchung zu erscheinen, muss die Beurteilung des aktuellen Zustands der geistigen Gesundheit dieser Person durch einen ärztlichen Gutachter auf Basis der Fallakte zumindest angestrebt werden. Ansonsten kann nicht behauptet werden, dass die geistige Krankheit der Person zuverlässig nachgewiesen wurde. Das würde ihre weitere Anhaltung unrechtmäßig machen.

(58) Zuletzt kann eine Entscheidung, einen Häftling nicht zu entlassen, mit den Zielen der Anordnung des verurteilenden Gerichts zu Präventivhaft unvereinbar werden, wenn die betroffene Person angehalten wurde, weil eine Gefahr bestand, dass sie wieder straffällig werden würde, sie allerdings zugleich der notwendigen Mittel – wie etwa einer geeigneten Therapie – beraubt war, um zu zeigen, dass sie nicht länger gefährlich war.

Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

(59) Zunächst beobachtet der GH, dass der Bf. sich während der fraglichen Überprüfungsperioden weigerte, im Gefängnis Stein weitere Therapien zu verfolgen, sowie sich während des Verfahrens 2011/12 von einem psychiatrischen Gutachter untersuchen zu lassen. Zudem bemerkt der GH, dass die Intervalle, in denen mündliche Verhandlungen abgehalten wurden, im Einklang mit innerstaatlichem Recht gestanden zu sein scheinen und der Bf. nicht beantragte, dass häufiger mündliche Verhandlungen durchgeführt werden sollten. Diese Umstände waren zwischen den Parteien nicht strittig.

(60) Der GH erwägt, dass die folgenden Fragen eine genauere Untersuchung verlangen: Ob die innerstaatlichen Gerichte die Frage der Verlegung des Bf. ins Gefängnis Wien-Mittersteig, damit dieser eine angemessene Behandlung erhalten und für eine mögliche Entlassung vorbereitet werden konnte, ausreichend geprüft haben; ob die innerstaatlichen Gerichte über eine ausreichende faktische Basis verfügten, um über die Fortsetzung der Haft des Bf. zu entscheiden, insbesondere ob in angemessenen Intervallen psychiatrische Gutachten eingeholt wurden; und ob die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte ausreichend begründet waren.

Die empfohlene Verlegung des Bf. ins Gefängnis Wien-Mittersteig

(61) Zunächst wird der GH prüfen, ob dem Bf. Gelegenheit gegeben wurde, sich der notwendigen Behandlung und Vorbereitung für die Entlassung zu unterziehen, die gemäß den innerstaatlichen Gerichten nur im Gefängnis Wien-Mittersteig geboten werden konnte. Der GH wiederholt, dass die Anhaltung einer Person wegen Geisteskrankheit entsprechend seiner gefestigten Rechtsprechung grundsätzlich nur »rechtmäßig« iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK ist, wenn sie in einer angemessenen Einrichtung erfolgt. Wenn sie mit geistig kranken Straftätern zu tun haben, unterliegen die Behörden zudem der Verpflichtung, auf das Ziel hinzuarbeiten, die betroffene Person auf ihre Entlassung vorzubereiten, etwa indem sie Impulse für weitere Therapie bieten wie die Verlegung in eine Einrichtung, wo sie die notwendige Behandlung tatsächlich erhalten können, oder indem sie bestimmte Vergünstigungen gewähren, wenn es die Situation gestattet [...].

(62) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass im Einklang mit § 134 Abs. 6 StVG in der damaligen Fassung die Vollzugsdirektion die zuständige Behörde war, um von Amts wegen über die Verlegung eines Häftlings zu entscheiden (Anm: Durch BGBl. I 2015/13 wurde die Vollzugsdirektion durch die Generaldirektion für den Strafvollzug und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen ersetzt.). Im Zuge einer solchen Entscheidung musste sie berücksichtigen, ob eine Verlegung für das betroffene Individuum notwendig ist, um den Zweck der Anhaltung zu erreichen. Im Fall des Bf. ging aus den Überprüfungsentscheidungen der innerstaatlichen Gerichte klar hervor, dass es eine Voraussetzung dafür war, seinem Antrag auf Entlassung stattzugeben, dass er für seine Entlassung vorbereitet war. Es scheint, dass ihm eine solche Vorbereitung bereits vor 2008 zuteil geworden war, als er in das Gefängnis Stein verlegt wurde. Diese Vorbereitung scheint jedoch von den innerstaatlichen Behörden nicht für ausreichend angesehen worden zu sein, da die Anhaltung des Bf. fortgesetzt wurde. Es wurde nicht bestritten, dass das Gefängnis Wien-Mittersteig die einzige Einrichtung war, wo der Bf. angemessen auf seine Entlassung vorbereitet werden konnte [...].

(63) Die Gründe, welche die innerstaatlichen Gerichte anführten, warum die Behörden den Bf. nicht ins Gefängnis Wien-Mittersteig verlegt hatten, variierten. In seiner Entscheidung vom 25.2.2009 wies das LG lediglich darauf hin, dass eine Therapie im Gefängnis Wien-Mittersteig eine Voraussetzung für die Entlassung war und Letztere nicht möglich wäre, weil der Bf. diese Therapie nicht absolviert hatte. In seiner Entscheidung vom 7.12.2010 hielt das LG dann fest, dass das Gefängnis Wien-Mittersteig auf ein Ersuchen, die Verlegung des Bf. zu akzeptieren, nicht reagiert hätte. Es scheint, dass die offenkundige Notwendigkeit der Verlegung des Bf. danach nicht weiterverfolgt wurde. Die Gerichte erwähnten sie in ihren Überprüfungsverfahren, erwogen aber nicht, dass sie eine Voraussetzung für seine Entlassung war, und untersuchten in diesem Zusammenhang auch nicht die Frage, ob der Bf. in einer angemessenen Einrichtung angehalten wurde. Während des Überprüfungsverfahrens 2013 war der Bf. immer noch im Gefängnis Stein inhaftiert. Das LG stützte den Umstand, dass der Bf. immer noch nicht verlegt worden war, dann auf seine Weigerung, sich einer Therapie zu unterziehen.

(64) Der GH schließt aus dem Vorgesagten, dass die Gefängnisbehörden für mehrere Jahre den offenkundigen Bedarf ignorierten – der in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte eindeutig festgehalten wurde –, den Bf. ins Gefängnis Wien-Mittersteig zu verlegen, damit er dort die angemessene Therapie erhalten und auf eine mögliche Entlassung vorbereitet werden konnte, obwohl den Behörden spätestens ab 2009 bewusst sein hätte müssen, dass dies die einzige Einrichtung war, wo der Bf. eine solche Behandlung erhalten konnte. Während der Bf. sich weigerte, sich weiterer Therapie zu unterziehen, ersuchte er um Maßnahmen zu seiner Entlassung. Es lag somit bei den Behörden, einen Weg zu finden, diese offenkundige Pattsituation zu überwinden und die Frage der Verlegung des Bf. in dieses Gefängnis zu prüfen.

(65) Da es die Behörden verabsäumten, in den Überprüfungsverfahren die Frage der Verlegung des Bf. ins Gefängnis Wien-Mittersteig zu prüfen, stand die Anhaltung des Bf. nicht im Einklang mit den Anforderungen an die Rechtmäßigkeit nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK. Aus denselben Gründen [...] stellt der GH fest, dass die kausale Verbindung zwischen der ursprünglichen Strafe des Bf. und seiner fortdauernden Anhaltung zertrennt wurde. Deshalb konnte seine Anhaltung nach den fraglichen Überprüfungsverfahren auch nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt werden.

Die Intervalle, in denen psychiatrische Gutachten erlangt wurden

(66) [...] Der GH wiederholt, dass der Bf. seit der Rechtskraft seiner strafrechtlichen Verurteilung am 27.9.1984 in Einrichtungen für geistig kranke Straftäter angehalten wurde. Die fraglichen Überprüfungsverfahren fanden 2010/11, 2011/12 und 2013 statt und somit etwa sieben, acht und zehn Jahre, nachdem der Bf. am 26.2.2003 die gegen ihn verhängte Gefängnisstrafe verbüßt hatte [...]. Der GH befindet, dass von den Behörden eine spezielle Sorgfalt bei der Entscheidung über die Verlängerung der Anhaltung verlangt werden muss, wenn eine Person einen derart beträchtlichen Teil ihres Lebens in Präventivhaft verbracht hat, da die Verbindung zur ursprünglichen Verurteilung und der Entscheidung, sie in einer Einrichtung für geistig kranke Straftäter unterzubringen, umso schwächer wird, je länger die Haft andauert.

(67) Der GH beobachtet, dass das innerstaatliche Recht verlangt, dass alle zwei Jahre eine mündliche Verhandlung abzuhalten und ein Sachverständigengutachten einzuholen ist [...] (Anm: Siehe § 167 Abs. 1 StVG bzw. § 167 Abs. 1 StVG iVm. §§ 126 Abs. 1 und 127 Abs. 3 letzter Satz StPO.). Diese Intervalle wurden während der drei in Frage stehenden Verfahrensgänge im Hinblick auf die mündlichen Verhandlungen beachtet, nicht aber im Hinblick auf die Gutachten. Der GH erwägt, dass das Überprüfungsverfahren 2010/11 sich auf ein ausreichend rezentes Gutachten stützte, nämlich jenes von Dr. B. vom 3.3.2010 [...], und mit der notwendigen Sorgfalt geführt wurde. Für das Überprüfungsverfahren 2011/12 war zwar gesetzlich vorgeschrieben, ein Sachverständigengutachten einzuholen, doch verweigerte der Bf. eine Untersuchung. Es scheint, dass das innerstaatliche Recht keine Antwort auf die Frage liefert, ob das bedeutete, dass in der folgenden Überprüfungsperiode ein neuer Versuch unternommen werden musste, ein Gutachten einzuholen. Im Überprüfungsverfahren 2013 bestellte das LG keinen Gutachter, sondern stützte seine Entscheidung zur Abweisung des Antrags des Bf. auf Entlassung unter anderem auf das Sachverständigengutachten von Dr. B. aus 2010, welches zum betreffenden Zeitpunkt drei Jahre alt war. Es wurde kein neuerlicher Versuch unternommen, den Bf. zu untersuchen.

(68) Der GH hat bereits früher festgestellt, dass die Beurteilung des aktuellen Zustands der geistigen Gesundheit einer Person durch einen ärztlichen Gutachter auf Basis der Fallakte zumindest angestrebt werden muss, wenn diese nicht willens ist, sich von einem Gutachter untersuchen zu lassen. Ansonsten kann nicht behauptet werden, dass die geistige Krankheit der Person zuverlässig nachgewiesen wurde, was ihre weitere Anhaltung unrechtmäßig macht [...]. Im vorliegenden Fall scheint es, dass dies in den Überprüfungsverfahren 2011/12 und 2013 nicht geschah und überhaupt kein Sachverständigengutachten eingeholt wurde, obwohl dies nach innerstaatlichem Recht vorgesehen war [...]. Die Entscheidungen des LG erfolgten auf Grundlage der alten Sachverständigengutachten sowie der Stellungnahmen der Gefängnisdienststellen und -behörden.

(70) Dem GH ist bewusst, dass der Bf. in den fraglichen Überprüfungsverfahren keinen sehr starken Willen zur Kooperation mit den innerstaatlichen Behörden zeigte. Er weigerte sich, sich weiterer Therapie zu unterziehen und sich während des Verfahrens 2011/12 von einem Experten untersuchen zu lassen. Allerdings hatte er zur Zeit des Verfahrens 2011/12 bereits etwa 27 Jahre in einer Einrichtung für geistig abnorme Straftäter verbracht und in früheren Sachverständigengutachten hatte es zumindest Hinweise darauf gegeben, dass er weniger gefährlich geworden war [...]. Der GH wiederholt, dass der Zweck der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht nur gewesen wäre, die Gefährlichkeit des Bf. neu zu bewerten, sondern auch, neue Ansätze zu erlangen, um die notwendige therapeutische Behandlung einzuleiten.

(71) Der GH ist der Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte im Überprüfungsverfahren 2011/12 im Einklang mit innerstaatlichem Recht [...] und unter besonderer Berücksichtigung von Widersprüchen in den bestehenden Gutachten [...] und der offenkundigen Pattsituation (siehe Rn. 64 oben) ein Sachverständigengutachten auf Basis der Fallakte einholen hätten sollen. Nachdem sie dies nicht getan haben, hätten sie während des Überprüfungsverfahrens 2013 proprio motu versuchen müssen, ein neues Sachverständigengutachten einzuholen. Deshalb ist der GH unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht davon überzeugt, dass die innerstaatlichen Gerichte während der Überprüfungsverfahren 2011/12 und 2013 über eine ausreichende faktische Grundlage verfügten, um über die Anträge des Bf. auf Entlassung zu entscheiden.

Die Rüge wegen fehlender stichhaltiger und ausreichender Begründung

(72) Angesichts der obigen Feststellungen erachtet es der GH nicht für nötig, die Rüge des Bf. separat zu untersuchen, wonach die Begründung durch die innerstaatlichen Gerichte nicht stichhaltig und ausreichend gewesen wäre.

Schlussfolgerung

(73) Die Anhaltung des Bf. während der fraglichen Überprüfungsperioden war deshalb nicht »rechtmäßig« iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. a oder lit. e EMRK, weil die innerstaatlichen Gerichte es verabsäumt haben, die Frage seiner Verlegung ins Gefängnis Wien-Mittersteig zu prüfen [...] und es in den Überprüfungsverfahren 2011/12 und 2013 an einer ausreichenden faktischen Grundlage fehlte, um über die Anträge des Bf. auf Entlassung zu entscheiden [...].

(81) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK

(76) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(84) Die anwendbaren allgemeinen Grundsätze wurden kürzlich im Fall Kuttner/A [Rn. 36 ff.] zusammengefasst [...].

(85) Bei Betrachtung der Intervalle zwischen den Überprüfungsverfahren bemerkt der GH, dass die Überprüfung 2011/12 in Folge des Antrags des Bf. vom 8.9.2011 in Gang gesetzt wurde, also weniger als acht Monate nach der vorherigen Überprüfungsentscheidung durch das OLG vom 25.1.2011. Die Überprüfungsperiode 2013 begann nach dem Antrag des Bf. vom 26.3.2013 und damit ebenfalls weniger als acht Monate nach der vorherigen Entscheidung des OLG vom 30.7.2012. Der GH ist deshalb überzeugt davon, dass die innerstaatlichen Gerichte die Fristen entsprechend der innerstaatlichen Rechtsprechung (Anm: Der OGH (vgl. OGH 30.9.1980, 10 Os 79/80) vertritt die Ansicht, dass § 25 Abs. 3 StGB Genüge getan ist, wenn die Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Haft binnen eines Jahres nach der letzten Entscheidung darüber begonnen wird.) einhielten und auf einer jährlichen Basis Überprüfungsverfahren anstrengten [...].

(86) Als nächstes wird der GH die jeweilige Dauer der fraglichen Überprüfungsverfahren untersuchen. Indem er als Ausgangspunkt das Datum nimmt, zu dem der Bf. um Entlassung ansuchte, und als Endpunkt die endgültige Entscheidung des OLG, wiederholt der GH, dass die innerstaatlichen Gerichte im jährlichen Überprüfungsverfahren 2010/11 wenig mehr als fünf Monate bis zur Entscheidung brauchten; im Überprüfungsverfahren 2011/12 beinahe elf Monate; und im Verfahren 2013 weniger als vier Monate. Im Laufe des Verfahrens 2011/12 hielt das LG zwei mündliche Verhandlungen ab und versuchte, ein Sachverständigengutachten einzuholen. In den Überprüfungsverfahren 2010/11 und 2013 hielten die Gerichte weder mündliche Verhandlungen ab noch ersuchten sie um ein Sachverständigengutachten, was die relativ kurze Dauer dieser beiden Verfahren erklärt.

(87) Der GH erwägt, dass die Dauer der Überprüfungsverfahren 2010/11 und 2013 keine Fragen im Hinblick auf die Raschheit der Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte [...] aufwirft und stellt daher diesbezüglich keine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest (einstimmig).

(88) Der GH bemerkt jedoch, dass die Dauer des Überprüfungsverfahrens 2011/12 beträchtlich länger war und daher eine genauere Untersuchung verlangt. Nachdem der Bf. am 8.9.2011 seinen Antrag auf Entlassung gestellt hatte, benötigte das LG mehr als viereinhalb Monate, bevor es am 23.1.2012 eine mündliche Verhandlung abhielt. [...] Nach innerstaatlichem Recht war es erforderlich, im Zuge dieses Überprüfungsverfahrens eine mündliche Verhandlung abzuhalten [...]. Das LG bestellte sodann einen Sachverständigen, der ein Gutachten erstellen sollte. Der Bf. weigerte sich jedoch, sich von dem Gutachter untersuchen zu lassen. Das LG nahm deshalb eine weitere Verhandlung vor und wies den Antrag des Bf. auf Entlassung schließlich am 23.4.2012 ab. Aus den vorliegenden Dokumenten geht nicht hervor, warum das LG nicht rascher über den Antrag des Bf. entschied, da klar war, dass es nicht auf ein psychiatrisches Gutachten warten würde müssen, und auch in Anbetracht des Umstands, dass der Bf. seinen Antrag im September des Vorjahres gestellt hatte. Das OLG wies die Berufung des Bf. gegen diese Entscheidung erst am 30.7.2012 ab und damit mehr als vier Monate später. Es lieferte dabei kaum eine eigene Begründung, sondern verwies weitgehend auf seine Entscheidungen in früheren Überprüfungsverfahren [...]. Es gibt daher in den vorliegenden Dokumenten keine Hinweise darauf, warum die Überprüfung 2011/12 beinahe elf Monate dauerte. Der GH ist der Ansicht, dass diese Dauer nicht durch die Komplexität des Falles oder das Verhalten des Bf. erklärt werden kann. Die Regierung hat diesbezüglich auch keine stichhaltigen Argumente vorgebracht.

(89) Die vorangehenden Erwägungen reichen aus, um zum Schluss zu kommen, dass das Überprüfungsverfahren 2011/12 nicht ausreichend rasch durchgeführt wurde. Es erfolgte daher eine Verletzung des Erfordernisses der »Raschheit« nach Art. 5 Abs. 4 EMRK im Hinlick auf dieses Verfahren (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 3.000,– für immateriellen Schaden; € 1.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sanchez-Reisse/CH v. 21.10.1986 = EuGRZ 1988, 523

Varbanov/BG v. 5.10.2000 = NL 2000, 192

Rangelov/D v. 22.3.2012 = NLMR 2012, 96

Abdulkhakov/RUS v. 2.10.2012 = NLMR 2012, 322

H. W./D v. 19.9.2013 = NLMR 2013, 324

Ruiz Rivera/CH v. 18.2.2014 = NLMR 2014, 30

Constancia/NL v. 3.3.2015 (ZE)

Kuttner/A v. 16.7.2015 = NLMR 2015, 316

Bergmann/D v. 7.1.2016 = NLMR 2016, 30 = EuGRZ 2016, 352

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.7.2017, Bsw. 11537/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 326) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_4/Lorenz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise