JudikaturAUSL EGMR

Bsw21884/15 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. März 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Chowdury u.a. gg. Griechenland, Urteil vom 30.3.2017, Bsw. 21884/15.

Spruch

Art. 4 EMRK - Kein ausreichender Schutz von Migranten vor Menschenhandel und Zwangsarbeit.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 16.000,– an jeden der Bf., der am Verfahren vor dem Geschworenengericht teilgenommen hat, und € 12.000,– an jeden der übrigen Bf. für den erlittenen materiellen und immateriellen Schaden; € 4.363,64 für Kosten und Auslagen an die Bf. gemeinsam (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Fall betrifft 42 sich irregulär in Griechenland aufhaltende Migranten aus Bangladesch, die keine Arbeitsgenehmigung besaßen, jedoch zwischen Oktober 2012 und Februar 2013 als Arbeitskräfte für eine große Erdbeerplantage in Manolada rekrutiert wurden. Für ihre Tätigkeit wurde ihnen von ihren Arbeitgebern (T. A. und N. V.) ein Lohn von € 22,– für sieben Stunden Arbeit versprochen. Sie arbeiteten in der Folge täglich von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr und wurden dabei von bewaffneten Aufsehern überwacht. Die Arbeiter lebten in Behelfshütten aus Karton, Nylon und Bambus, die über keine Toiletten oder fließendes Wasser verfügten.

Bei drei Gelegenheiten im Februar, März und April 2013 streikten die Arbeiter vergeblich, um ihren Lohn ausbezahlt zu bekommen. Nachdem die Arbeitgeber am 17.4.2013 andere Migranten für die Arbeit auf der Plantage rekrutiert hatten, fürchteten die Betroffenen, gar kein Geld zu bekommen. 100-150 von ihnen traten daher an die anwesenden Arbeitgeber heran und verlangten ihren Lohn. Einer der Aufseher eröffnete dabei das Feuer und verletzte einige von ihnen schwer, darunter 21 der Bf.

Am 18. und 19.4.2013 wurden N. V., T. A., der Aufseher, der geschossen hatte, und ein weiterer Vorarbeiter festgenommen. Der Staatsanwalt leitete eine Strafverfolgung insbesondere wegen versuchtem Mord und Menschenhandel nach Art. 323A StGB gegen sie ein. Der Vorwurf des versuchten Mordes wurde in der Folge in schwere Körperverletzung umqualifiziert.

Der Staatsanwalt erkannte am 8.5.2013 35 der Arbeiter, die bei dem skizzierten Vorfall verletzt worden waren, als Opfer an, was bewirkte, dass sie spezielle Aufenthaltstitel erhielten. Am selben Tag erstatteten 120 andere Arbeiter, darunter die 21 Bf., die bei dem Vorfall nicht verletzt worden waren, Anzeige gegen die vier Beschuldigten, insbesondere wegen versuchtem Mord und Menschenhandel. Sie behaupteten, dass sie sich in der gleichen Situation befunden hätten wie die 35 anderen Arbeiter, da sie auch auf der Plantage beschäftigt und dabei gewesen wären, als das Feuer auf die Arbeiter eröffnet wurde. Sie verlangten aus diesem Grund ebenfalls die Zuerkennung der Opfereigenschaft durch den Staatsanwalt. Die Polizei befragte die genannten 21 Bf. und übermittelte die Aussageprotokolle an den Staatsanwalt. Dieser wies die Anzeige der 120 Arbeiter allerdings am 4.8.2014 zurück, weil ihre Behauptungen nicht stimmen würden. Diese Entscheidung wurde vom Staatsanwalt am Berufungsgericht von Patras am 28.1.2015 bestätigt.

Die vier Angeklagten wurden vom Geschworenengericht Patras am 30.7.2014 vom Vorwurf des Menschenhandels freigesprochen, da der objektive Tatbestand des Delikts nicht erfüllt worden wäre. Das Gericht verurteilte T. A. und einen der Aufseher hingegen insbesondere wegen schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen von 14 Jahren und sieben Monaten bzw. acht Jahren und sieben Monaten. Diese Strafe wurde vom Gericht allerdings in eine Geldstrafe von € 5,– pro Hafttag umgewandelt. Die beiden Verurteilten wurden außerdem verpflichtet, den 35 als Opfer anerkannten Arbeitern € 1.500,– (€ 43,– pro Person) zu bezahlen. Die zwei Männer erhoben gegen das Urteil Berufung. Diese ist noch anhängig und hat aufschiebende Wirkung.

Die Anwälte der Arbeiter beantragten beim Staatsanwalt, dass dieser ebenfalls Berufung gegen das Urteil des Geschworenengerichts einlegen solle, da Letzteres den Vorwurf des Menschenhandels nicht angemessen untersucht hätte. Der Staatsanwalt weigerte sich allerdings, dem nachzukommen. Der den Menschenhandel betreffende Teil des Urteils des Geschworenengerichts wurde daraufhin rechtskräftig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten Verletzungen von Art. 4 Abs. 2 EMRK (hier: Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit) durch die von ihnen auf den Erdbeerfeldern geleistete Arbeit. Der Staat hätte seine positive Verpflichtung verletzt, sie vor einer Situation des Menschenhandels zu schützen, diesbezüglich präventive Maßnahmen zu setzen und ihre Arbeitgeber zu bestrafen.

Zur Zulässigkeit

Zur Opfereigenschaft

(59) Die Regierung ruft den GH dazu auf, die Beschwerde zurückzuweisen, soweit sie jene Bf. [...] betrifft, welche nicht als Zivilkläger am Verfahren vor dem Geschworenengericht beteiligt waren. Die Klagen der genannten Bf. seien [von den Staatsanwälten] [...] zurückgewiesen worden. [...] Es stehe dem GH nicht zu, seine eigene Beurteilung an Stelle jener der Staatsanwälte zu setzen, welche [...] zum Schluss gekommen wären, dass die genannten Bf. keine Opfer von Menschenhandel gewesen wären.

(61) Der GH erwägt, dass die Einrede der Regierung unter den besonderen Umständen des Falles so eng mit dem Inhalt der Rügen dieser Gruppe von Bf. verbunden ist, dass es angebracht ist, sie mit der Entscheidung in der Sache [...] zu verbinden (einstimmig).

Zur Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(62) Die Regierung behauptet, dass die Bf. [...] sich während keines Stadiums des Verfahrens klar auf eines der von der Konvention garantierten Rechte bezogen hätten [...]. Sich allein auf [die innerstaatliche Norm des] Art. 323A StGB zu stützen, ohne explizit auf Art. 4 EMRK Bezug zu nehmen, könne nicht als ausreichend angesehen werden, um es dem Geschworenengericht und dem Staatsanwalt beim Kassationsgericht zu ermöglichen, den Fall im Hinblick auf die Konvention zu prüfen.

(68) [...] [Der GH befindet,] dass man nicht behaupten kann, die griechischen Gerichte wären nicht auf die Erfordernisse aufmerksam gemacht worden, die mit dem Verbot des Menschenhandels und der Zwangs- oder Pflichtarbeit verbunden sind. Ohne sich ausdrücklich auf Art. 4 EMRK zu stützen, haben die Bf. dem internen und internationalen Recht Argumente entnommen, die eindeutig eine Verletzung der von dieser Konventionsbestimmung garantierten Rechte rügen. Sie haben den Gerichten daher entsprechend dem Zweck von Art. 35 EMRK Gelegenheit gegeben, die gerügten Verletzungen zu vermeiden oder wiedergutzumachen. Die Einrede der Regierung muss daher zurückgewiesen werden.

Ergebnis

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Zur Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 2 EMRK

(93) Der GH erinnert daran, [...] in seiner einschlägigen Rechtsprechung bereits bestätigt zu haben, dass Menschenhandel unter Art. 4 EMRK fällt. Gewiss betrifft der vorliegende Fall nicht wie der Fall Rantsev/CY und RUS die sexuelle Ausbeutung. Jedoch begründet die Ausbeutung durch Arbeit ebenso einen Aspekt des Menschenhandels. Die griechischen Gerichte haben den Fall auch unter diesem Blickwinkel geprüft. Dieses Element geht klar aus Art. 4 lit. a des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (Anm: Übereinkommen vom 16.5.2005, StF. BGBl. III 2008/10.) hervor, der insbesondere vorsieht: »Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.« Anders gesagt begründet die Ausbeutung der Arbeit eine der von der Definition des Menschenhandels umfassten Formen von Ausbeutung. Das macht die inhärente Beziehung zwischen Zwangs- oder Pflichtarbeit und Menschenhandel klar. [...]

(94) Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass die Bf. [...] zwischen Oktober 2012 und Februar 2013 rekrutiert wurden und sie zumindest bis zu dem Vorfall am 17.4.2013 gearbeitet haben, ohne den vereinbarten und bis dahin gebührenden Lohn zu erhalten. [...] Ihre Unterbringungs- und Arbeitsbedingungen waren besonders hart: sie arbeiteten jeden Tag von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr in Glashäusern, wo sie unter Aufsicht der bewaffneten Vorarbeiter im Dienste von T. A. Erdbeeren pflückten; sie lebten in Behelfshütten aus Karton, Nylon und Bambus, die keine Toiletten oder fließendes Wasser besaßen; ihre Arbeitgeber bezahlten sie nicht und warnten sie, dass sie ihren Lohn nur bekommen würden, wenn sie weiterarbeiten würden.

(95) Der GH beobachtet gleichermaßen, dass die Bf. weder über Aufenthalts- noch über Arbeitsgenehmigungen verfügten. Die Betroffenen wussten, dass ihre irreguläre Situation sie der Gefahr aussetzte, festgenommen und inhaftiert zu werden, um dann aus Griechenland abgeschoben zu werden. Ein Versuch, ihre Arbeit aufzugeben, hätte diese Aussicht ohne Zweifel gesteigert und den Verlust jeder Hoffnung bedeutet, das ausständige Geld oder wenigstens einen Teil davon zu erhalten. Dazu kommt noch, dass die Bf., nachdem sie keinen Lohn erhalten hatten, weder woanders in Griechenland leben noch das Land verlassen konnten.

(96) Der GH erwägt im Übrigen, dass dann, wenn ein Arbeitgeber seine Macht missbraucht oder aus der verwundbaren Situation seiner Arbeiter Profit schlägt, um sie auszubeuten, diese ihre Arbeit nicht aus freien Stücken anbieten. Die vorherige Zustimmung des Opfers ist nicht ausreichend, um es auszuschließen, eine Arbeit als Zwangsarbeit zu qualifizieren. Die Frage, ob eine Person ihre Arbeit freiwillig anbietet, ist eine tatsächliche Frage, die im Lichte aller einschlägigen Umstände eines Falles geprüft werden muss.

(97) Im vorliegenden Fall haben die Bf. mit der Arbeit begonnen, während sie sich als illegale Migranten, die über keine Mittel verfügten und Gefahr liefen, festgenommen, inhaftiert und ausgewiesen zu werden, in einer Situation der Verwundbarkeit befanden. Sie waren sich ohne Zweifel bewusst, dass sie, wenn sie mit der Arbeit aufhörten, ihre Lohnrückstände nie erhalten würden, deren Höhe im Laufe der Zeit ständig stieg. Auch unter der Annahme, dass die Bf. zum Zeitpunkt ihrer Einstellung ihre Arbeitskraft freiwillig angeboten hatten und in gutem Glauben davon ausgegangen waren, dass sie ihren Lohn erhalten würden, änderte sich die Situation in der Folge aufgrund des Verhaltens ihrer Arbeitgeber.

(98) Der GH betont daneben, dass der Staatsanwalt in seinem Plädoyer vor dem Geschworenengericht von Patras bestimmte Fakten präsentiert hat, die von diesem in seinem Urteil nicht in Frage gestellt wurden. [...] Die Arbeiter waren unter extremen physischen Bedingungen tätig, hatten anstrengende Arbeitszeiten und waren ständiger Erniedrigung unterworfen. Am 17.4.2013 hatte der Arbeitgeber die Arbeiter informiert, dass er sie nicht bezahlen und töten würde, wenn sie nicht weiter für ihn arbeiten würden. [...]

(99) Der GH erwägt, dass die Situation der Bf. zwar keine Leibeigenschaft darstellte. Diesbezüglich erinnert er daran, dass das grundlegende Element, das die Leibeigenschaft von der Pflicht- oder Zwangsarbeit iSd. Art. 4 EMRK unterscheidet, im Gefühl der Opfer besteht, dass ihre Lage unveränderlich ist und die Situation sich nicht entwickeln kann. [...] Im gegenständlichen Fall konnten die Bf. aber kein entsprechendes Gefühl haben, da sie alle Saisonarbeiter waren [...].

(100) Nun zeigen die Umstände des Falles und insbesondere die Arbeitsbedingungen der Bf. aber klar, dass dadurch Menschenhandel und Zwangsarbeit begründet wird. Tatsächlich decken sich die fraglichen Umstände mit der Definition des Menschenhandels in Art. 3 lit. a des Palermo-Protokolls (Anm: Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15.11.2000, StF. BGBl. III 2005/220.) und Art. 4 des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels. Die entsprechende Straftat in Art. 323A StGB übernimmt im Wesentlichen die Definitionen aus den genannten internationalen Instrumenten. [...]

(101) Der GH kommt daher zum Schluss, dass die Situation der Bf. aufgrund des Menschenhandels und der Zwangsarbeit unter Art. 4 Abs. 2 EMRK fiel.

(104) [...] Die positiven Verpflichtungen, die den Staaten nach Art. 4 EMRK zukommen, müssen im Lichte des genannten Übereinkommens des Europarats ausgelegt werden und sehen außer der Annahme von Maßnahmen zur Prävention, zum Schutz der Opfer und zur Untersuchung die Kriminalisierung und wirksame Bestrafung jeder Handlung vor, die darauf abzielt, eine Person in dieser Art von Situation zu behalten. [...]

Die Verpflichtung, einen geeigneten Rechtsrahmen einzurichten

(105) [...] Die Staaten müssen einen rechtlichen und administrativen Rahmen einrichten, der die Zwangs- oder Pflichtarbeit, die Leibeigenschaft oder die Sklaverei untersagt und ahndet. Um zu entscheiden, ob eine Verletzung von Art. 4 EMRK erfolgt ist, muss daher der in Kraft stehende rechtliche Rahmen berücksichtigt werden.

(106) Der GH bemerkt einerseits, dass Griechenland die wesentlichen internationalen Instrumente im Bereich der Bekämpfung der Sklaverei und Zwangsarbeit lange vor den Ereignissen des vorliegenden Falles ratifiziert oder unterzeichnet hat. Im Übrigen hat es sowohl das Palermoprotokoll [...] wie auch das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels [...] ratifiziert. Zudem hat es den Rahmenbeschluss des Rates 2002/629/JI (Anm: Rahmenbeschluss 2002/629/JI des Rates vom 19.7.2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels, ABl. L 203, 1.) sowie die ihn ersetzende RL 2011/36/EU (Anm: Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. L 101, 1.) in seiner Rechtsordnung umgesetzt.

(107) Andererseits enthält das StGB keine spezielle Bestimmung zur Zwangsarbeit, obwohl Art. 22 Abs. 4 der Verfassung jede Form von Pflichtarbeit verbietet. Demgegenüber führte das Gesetz Nr. 3064/2002, das den Rahmenbeschluss 2002/629/JI [...] in die griechische Rechtsordnung umsetzte [...], eine Vorschrift zur Bekämpfung des Menschenhandels ein [...]. Im Rahmen dieser Umsetzung wurde Art. 323A ins StGB aufgenommen. In seinem ersten Absatz bestraft dieser Artikel jeden, der unter Anwendung von Gewalt oder Androhung solcher oder eines anderes Zwangsmittels oder des Missbrauchs einer Machtstellung eine Person mit dem Ziel anwirbt, befördert, ins Staatsgebiet einführt, festhält, abschirmt, mit oder ohne Gegenleistung übergibt oder sich von einem Dritten übergeben lässt, ihr Zellen, Gewebe oder Organe zu entnehmen oder ihre Arbeitskraft oder Bettelei selbst oder für die Rechnung eines anderen ausbeutet. In seinem dritten Absatz bestraft er jeden, der die von einer Person, die einer im ersten Absatz umschriebenen Situation unterworfen wurde, geleistete Arbeit annimmt.

(108) Schließlich änderte das Gesetz Nr. 4198/2013 zur Bekämpfung des Menschenhandels, das die RL 2011/36/EU in die griechische Rechtsordnung umsetzte, die StPO im Hinblick auf einen besseren Schutz der Opfer von Menschenhandel im Verfahren vor den Gerichten.

(109) Der GH stellt daher fest, dass Griechenland seine positive Verpflichtung im Wesentlichen erfüllt hat, einen gesetzlichen Rahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels einzurichten. [...]

Operative Maßnahmen

(110) Der GH erinnert daran, dass das Übereinkommen des Europarats [...] den Mitgliedstaaten eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Prävention von Menschenhandel und zum Schutz der Rechte der Opfer empfiehlt. [...]

(111) Im vorliegenden Fall bemerkt der GH zunächst, dass die auf den Erdbeerfeldern von Manolada vorherrschende Situation den Behörden bereits deutlich vor dem Vorfall vom 17.4.2013 bekannt war, da sie darauf durch Berichte und Presseartikel aufmerksam gemacht worden waren. Daher fanden zu diesem Gegenstand nicht nur Debatten im Parlament statt, sondern ordneten drei Minister [...] auch Überprüfungen und die Vorbereitung von Dokumenten zur Verbesserung der Situation der Migranten an. Es muss allerdings festgehalten werden, dass diese Mobilisierung zu keinem konkreten Resultat führte.

(112) Weiters bemerkt der GH, dass der Ombudsmann mehrere Minister und staatliche Behörden sowie die Staatsanwaltschaft auf diese Situation hingewiesen hat. [...]

(113) Der GH betont [...], dass die [...] Behörden bis zumindest 2013 keine allgemeine Lösung für die Probleme geliefert haben, denen die Arbeiter von Manolada begegneten.

(114) Der GH bemerkt auch, dass die Polizeistation von Amaliada betreffend die Weigerung der Arbeitgeber, die Bf. zu bezahlen, auf dem Laufenden war. [...]

(115) Angesichts des Vorgesagten erwägt der GH, dass die operativen Maßnahmen, welche die Behörden setzten, nicht ausreichend waren, um den Menschenhandel zu verhindern und die Bf. vor der Behandlung zu schützen, der sie ausgesetzt waren.

Wirksamkeit der Untersuchung und des Gerichtsverfahrens

(116) Um wirksam zu sein, muss es eine Untersuchung im Bereich der Ausbeutung erlauben, die Verantwortlichen zu identifizieren und zu sanktionieren. Diese Verpflichtung betrifft die Mittel und nicht das Ergebnis. In allen Fällen inkludiert das Anforderungen an eine angemessene Raschheit und Sorgfalt, doch wenn es möglich ist, ein Individuum einer schädlichen Situation zu entziehen, muss die Untersuchung mit Dringlichkeit geführt werden. Die Antwort auf die Frage, welche Form der Untersuchung es erlaubt, die genannten Ziele zu verwirklichen, kann je nach den Umständen variieren. Allerdings müssen die Behörden [...] von Amts wegen tätig werden, sobald sie auf die Sache aufmerksam gemacht werden. Im Übrigen befindet der GH allgemein, dass die Verpflichtung zu einer wirksamen Untersuchung in diesem Bereich die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte bindet. Wenn diese Behörden feststellen, dass ein Arbeitgeber Rückgriff auf Menschenhandel und Zwangsarbeit genommen hat, müssen sie daraus im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen alle Schlüsse ziehen, die aus der Anwendung der einschlägigen strafrechtlichen Dokumente erfließen.

Betreffend die Bf., die nicht am Verfahren vor dem Geschworenengericht teilgenommen haben

(117) Der GH bemerkt, dass diese Gruppe der Bf. in ihrer Anzeige vom 8.5.2013 zwei unterschiedliche Kategorien von Beschwerden vorgebracht hat. Zum einen behaupteten sie, dass sie von T. A. und N. V. unter Bedingungen, die auf Menschenhandel und Zwangsarbeit hinausliefen, beschäftigt und ausgebeutet worden wären und stützten sich auf Art. 323A StGB und das Palermo-Protokoll, das auf die Prävention, Unterdrückung und Bestrafung des Menschenhandels abzielt. Zum anderen behaupteten sie, dass sie zum Zeitpunkt des genannten Vorfalls auch vor Ort gewesen wären [...], um ihre unbezahlten Löhne einzufordern, und sie daher ebenfalls Opfer der gegenüber den 35 anderen [Arbeitern] begangenen Straftaten gewesen wären.

(118) Bei der Zurückweisung des Antrags dieser Bf. führte der Staatsanwalt von Amaliada näher aus, dass sie, wenn sie wirklich Opfer der von ihnen gerügten Straftaten gewesen wären, sofort [...] die Polizei befasst hätten, so wie es die anderen 35 Arbeiter gemacht hatten, und sie nicht bis zum 8.5.2013 gewartet hätten. Er befand, dass die Behauptung, wonach die Bf. Angst gehabt und ihre Hütten verlassen hätten, nicht glaubwürdig wäre [...].

(119) Aus den [...] Gründen für die Entscheidung des Staatsanwalts vom 4.8.2014 geht klar hervor, dass die Zurückweisung der Anzeige der Bf. sich auf Erwägungen in Verbindung mit den gerügten Tätlichkeiten stützte, insbesondere was ihre Anwesenheit am Ort des Vorfalls am 17.4.2013 und die Frage betrifft, ob auf sie geschossen wurde und sie verletzt wurden. Nichts in der Entscheidung zeigt, dass der Staatsanwalt den Teil der Rüge der Bf. wirklich untersucht hat, der sich auf den Menschenhandel und die Zwangsarbeit bezieht. Der GH bemerkt nun aber, dass die Polizei jeden der 21 Bf. befragt hatte und diese ein Protokoll mit ihren eidlichen Aussagen unterzeichnet hatten, denen ihre Fotos beigegeben wurden. Diese Aussagen hatten sie an den Staatsanwalt übermittelt.

(120) Der GH erwägt, dass der Staatsanwalt, indem er es unterließ zu prüfen, ob die Behauptungen dieser Gruppe von Bf. begründet waren, seine Ermittlungspflicht verletzt hat, obwohl er sogar über tatsächliche Elemente verfügte, die nahelegten, dass diese Bf. von denselben Arbeitgebern beschäftigt wurden wie die Bf., die an dem Verfahren vor dem Geschworenengericht teilnahmen, und sie denselben Arbeitsbedingungen unterworfen waren wie jene.

(121) Der GH erwägt auch, dass der Staatsanwalt, indem er den Antrag dieser Gruppe der Bf. zurückwies, weil diese unter anderem gezögert hatten, die Polizei anzurufen, den rechtlichen Rahmen für Menschenhandel verkannt hat. Tatsächlich sieht Art. 13 des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels gerade eine »Erholungs- und Bedenkzeit« von wenigstens 30 Tagen vor, damit sich die betroffene Person erholen und dem Einfluss der Menschenhändler entziehen und dann eine fundierte Entscheidung darüber treffen kann, ob sie mit den zuständigen Behörden zusammenarbeitet.

(122) Angesichts des Vorgesagten weist der GH die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Opfereigenschaft der Bf., die nicht am Verfahren vor dem Geschworenengericht beteiligt waren, zurück (einstimmig) und befindet, dass eine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK unter dem Aspekt der verfahrensrechtlichen Verpflichtung [...] erfolgt ist.

Betreffend die Bf., die an dem Verfahren vor dem Geschworenengericht teilgenommen haben

(123) Der GH beobachtet, dass das Geschworenengericht von Patras die Beschuldigten vom Vorwurf des Menschenhandels freigesprochen hat, indem es insbesondere befand, dass es den Arbeitern nicht absolut unmöglich gewesen wäre, sich selbst zu schützen, und ihre Bewegungsfreiheit nicht beeinträchtigt gewesen wäre, da es ihnen frei gestanden wäre, ihre Arbeit aufzugeben. Der GH erachtet jedoch, dass eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit keine conditio sine qua non für die Einordnung einer Situation als Zwangsarbeit oder gar Menschenhandel ist. Diese Form der Einschränkung bezieht sich nicht auf die Leistung der Arbeit selbst, sondern mehr auf gewisse Aspekte des Lebens des Opfers einer Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Situation, und insbesondere einer Situation von Leibeigenschaft. [...] Eine Situation von Menschenhandel kann trotz der Bewegungsfreiheit des Opfers bestehen.

(124) Zudem hat das Geschworenengericht von Patras die Beschuldigten nicht nur vom Vorwurf des Menschenhandels freigesprochen, sondern auch die gegen beide verhängte Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung in eine Geldstrafe von € 5,– pro Hafttag umgewandelt.

(125) Der GH hält zudem fest, dass sich der Staatsanwalt am Kassationsgericht im vorliegenden Fall weigerte, gegen den Freispruch Kassationsbeschwerde zu erheben. Der Behauptung der Anwälte der Arbeiter, das Geschworenengericht hätte den Vorwurf des Menschenhandels nicht angemessen untersucht, hielt der Staatsanwalt ohne weitere Begründung entgegen, dass »die für eine Beschwerde gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt wurden«.

(126) Schließlich hält der GH fest, dass das Geschworenengericht bei der Verurteilung von T. A. und einem der bewaffneten Aufseher wegen schwerer Körperverletzung diese auch nur dazu verurteilte, als Schadenersatz insgesamt € 1.500,– zu bezahlen (€ 43,– pro Arbeiter). Art. 15 des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels verpflichtet die Vertragsstaaten – darunter Griechenland – aber dazu, in ihrem innerstaatlichen Recht das Recht für die Opfer vorzusehen, von den Tätern entschädigt zu werden, sowie Maßnahmen zu setzen, um unter anderem einen Entschädigungsfonds für die Opfer einzurichten.

(127) Angesichts dieser Umstände befindet der GH, dass eine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK unter dem Aspekt der verfahrensrechtlichen Verpflichtung des Staates [...] erfolgt ist.

Ergebnis

(128) Es kam daher zu einer Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK wegen des Versäumnisses des belangten Staates, seinen aus dieser Bestimmung erfließenden positiven Verpflichtungen nachzukommen, nämlich die strittige Situation des Menschenhandels zu verhindern, die Opfer zu schützen, die begangenen Straftaten wirksam zu untersuchen und die für den Menschenhandel Verantwortlichen zu bestrafen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 16.000,– an jeden der Bf., der am Verfahren vor dem Geschworenengericht teilgenommen hat, und € 12.000,– an jeden der übrigen Bf. für den erlittenen materiellen und immateriellen Schaden; € 4.363,64 für Kosten und Auslagen an die Bf. gemeinsam (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NLMR 2010, 20

C. N. und V./F v. 11.10.2012 = NLMR 2012, 332

L. E./GR v. 21.1.2016 = NLMR 2016, 20

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.3.2017, Bsw. 21884/15, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 132) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_2/Chowdury u. a.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise