JudikaturAUSL EGMR

Bsw58216/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. Januar 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache J. u.a. gg. Österreich, Urteil vom 17.1.2017, Bsw. 58216/12.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 4 EMRK - Positive Verpflichtungen der Behörden zum Schutz von Menschenhandelsopfern.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die drei 1984, 1982 bzw. 1972 geborenen Bf. sind Staatsangehörige der Philippinen. Die Erst- und DrittBf. wurden 2006 bzw. 2009 von einer Arbeitsvermittlungsstelle in Manila rekrutiert, um als Au-pair- oder Dienstmädchen in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) zu arbeiten. Die ZweitBf. reiste im Dezember 2008 auf Anregung der ErstBf. für denselben Zweck nach Dubai. Den Bf. wurden von ihren Arbeitgebern ihre Reisepässe abgenommen. Sie behaupten, während ihrer Arbeit in Dubai Misshandlungen und Ausbeutung von Seiten ihrer Arbeitgeber unterworfen worden zu sein, die es auch verabsäumt hätten, ihnen ihre zugesagten Löhne zu zahlen und sie unter der Androhung weiterer Misshandlungen gezwungen hätten, viele Überstunden zu leisten.

Am 2.7.2010 nahmen die Arbeitgeber der Bf., die miteinander verwandt waren, sie zu einer kurzen Reise nach Wien mit. Wie in Dubai mussten sich die Bf. auch in Wien um alle Kinder ihrer Arbeitgeber kümmern und zahlreichen anderen häuslichen Pflichten nachkommen. Sie arbeiteten auch dort von 5:00 Uhr oder 6:00 Uhr bis Mitternacht oder länger. Die DrittBf. wurde von ihrem Arbeitgeber regelmäßig angeschrien und bedroht, die ErstBf. von ihrem Arbeitgeber um 2:00 Uhr geweckt, um Essen zuzubereiten. Die Reisepässe der Bf. blieben während ihres Aufenthalts in Österreich bei ihren Arbeitgebern.

Im Hotel, in dem sie abgestiegen waren, trafen sie auf einen Angestellten, der ihre Muttersprache beherrschte und ihnen zur Flucht verhelfen konnte.

Im April oder Mai 2011 – etwa neun Monate, nachdem sie ihre Arbeitgeber verlassen hatten – kontaktierten die Bf. die lokale NGO »LEFÖ« (eine von der Regierung finanzierte Beratungs- und Unterstützungsstelle für von Frauenhandel betroffene Personen) zur Unterstützung bei der Anzeige ihrer Misshandlung, ihres Missbrauchs und ihrer Ausbeutung bei der Polizei. Im Juli 2011 erstatteten sie schließlich Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeber. In der Folge wurden die Bf. von Beamten des Büros zur Bekämpfung von Menschenhandel des Bundeskriminalamts befragt.

Am 4.11.2011 stellte die Staatsanwaltschaft Wien das Verfahren wegen Menschenhandel nach § 104a StGB gemäß § 190 Abs. 1 StPO ein. Nach Ansicht des Staatsanwalts war die Straftat im Ausland durch Nichtstaatsbürger begangen worden und berührte nicht die österreichischen Interessen iSd. § 64 Abs. 1 Z. 4 aF StGB. (Anm: § 64 StGB betrifft strafbare Handlungen im Ausland, die ohne Rücksicht auf die Gesetze des Tatorts bestraft werden.)

Die Bf. stellten am 30.11.2011 einen Fortsetzungsantrag an das LG für Strafsachen Wien, da ihrer Ansicht nach der Tatbestand des § 104a StGB erfüllt worden wäre. Das LG wies den Antrag am 16.3.2012 ab. Als Grund führte es an, dass die Bf. lediglich etwa drei Tage in Wien verbracht hätten und daher in Österreich der Tatbestand des § 104a Abs. 1 Z. 2 StGB nicht erfüllt sein könne, da die betreffenden Handlungen im Hinblick auf die Ausbeutung der Arbeitskraft über einen längeren Zeitraum begangen werden müssten. Ebenso könne die Jurisdiktion der österreichischen Strafvollzugsbehörden nicht aus § 64 Abs. 1 Z. 4 aF StGB abgleitet werden. Die Entscheidung wurde dem Anwalt der Bf. am 23.3.2012 zugestellt.

Mit Hilfe von LEFÖ erhielten die Bf. in Österreich spezielle Aufenthaltsgenehmigungen für Opfer von Menschenhandel nach dem NAG.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 4 EMRK (hier: Verbot der Zwangsarbeit), weil die österreichischen Behörden es verabsäumt hätten, ihren positiven Verpflichtungen gemäß dieser Bestimmung nachzukommen. Sie rügten zudem eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), weil die ihnen zuteil gewordene Behandlung das von dieser Bestimmung vorgesehene Mindestmaß an Schwere erreicht und der belangte Staat seine diesbezügliche verfahrensrechtliche Ermittlungspflicht verletzt hätte.

Anwendung von Art. 37 Abs. 1 EMRK

(71) Der GH ist der Ansicht, dass das Versäumnis der DrittBf., ihren Vertreter über ihren aktuellen Aufenthaltsort zu informieren, als Hinweis darauf verstanden werden muss, dass sie das Interesse daran verloren hat, ihre Beschwerde weiterzuverfolgen. Auch wenn es wahr ist, dass sie das AIRE (Anm: Advice on Individual Rights in Europe ist eine Menschenrechts-NGO mit Sitz in London.) - Zentrum ermächtigt hat, sie im Verfahren vor dem GH zu vertreten, erwägt er, dass diese Ermächtigung es für sich nicht rechtfertigt, die Prüfung ihrer Beschwerde fortzusetzen. Angesichts der Unmöglichkeit für den Vertreter der Bf., irgendeine Kommunikation mit der DrittBf. herzustellen, erwägt der GH, dass das AIRE-Zentrum die Beschwerde nicht sinnvoll weiterverfolgen kann.

(72) Demzufolge befindet der GH, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde der DrittBf. nicht gerechtfertigt ist. Er kommt zum Schluss, dass die DrittBf. ihre Beschwerde iSd. Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK nicht länger weiterzuverfolgen beabsichtigt [...].

(74) Demgemäß entscheidet der GH, die Beschwerde der DrittBf. aus seinem Register zu streichen (einstimmig). Im restlichen Urteil soll der Ausdruck »die Bf.« daher nur die Erst- und ZweitBf. bezeichnen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Zulässigkeit

(85) Was die Behauptung der Regierung betrifft, dass die Beschwerde außerhalb der in Art. 35 Abs. 1 EMRK vorgesehenen Frist eingereicht wurde, bemerkt der GH, dass die erste Absichtserklärung der Bf. – die zur damaligen Zeit genügte, um den Lauf der sechsmonatigen Frist zu unterbrechen – den GH am 4.9.2012 erreichte. Die letzte innerstaatliche Entscheidung in der Sache wurde dem Anwalt der Bf. am 23.3.2012 zugestellt und damit weniger als sechs Monate vor diesem Datum. Der GH ist daher überzeugt davon, dass dem Zulässigkeitskriterium nach Art. 35 Abs. 1 EMRK in fine Genüge getan wurde.

(86) Zur Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs [, weil die Bf. es verabsäumt hätten, gegen die Entscheidung des LG für Strafsachen Wien vom 16.3.2012 einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO zu stellen,] beobachtet der GH, dass er im Fall ATV Privatfernseh-GmbH/A die Frage im Detail untersucht hat, ob § 363a StPO ein Rechtsbehelf ist, der leicht verfügbar und ausreichend ist, um in Entschädigungsverfahren nach § 7 MedienG im Hinblick auf eine behauptete Verletzung von Rechten unter Art. 10 EMRK Abhilfe zu leisten. Er stellte fest, dass unter den Umständen dieses Falles eine Beschwerde unter § 363a StPO einen wirksamen und ausreichenden Rechtsbehelf bot, den ein Bf. verpflichtet war zu erheben. Aus der Rechtsprechung des OGH geht jedoch hervor, dass Opfer von Verbrechen und Privatankläger sowie Staatsanwälte nicht zu diesem Rechtsmittel legitimiert sind (siehe [...] das Urteil des OGH vom 10.12.2010, 13 Os 130/10g). Die Regierung hat keine Beweise dafür vorgelegt, dass die Verfügbarkeit dieses Rechtsbehelfs sich auch auf diese Gruppe von Personen erstrecken würde. Daraus folgt, dass die Einrede der Regierung im Hinblick auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe abgewiesen werden muss.

(87) Der GH bemerkt, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist und daher für zulässig erklärt werden muss (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(106) Der GH hat bereits festgestellt, dass ein Staat unter Art. 4 EMRK nicht nur für seine direkten Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, sondern auch für sein Versäumnis, Opfer von Sklaverei, Leibeigenschaft oder Zwangs- oder Pflichtarbeit gemäß seinen positiven Verpflichtungen wirksam zu schützen, und eine umfassende Untersuchung durchzuführen. Daraus folgt, dass die Staaten auch eine Verpflichtung trifft, einen gesetzlichen und administrativen Rahmen vorzusehen, um den Menschenhandel zu verbieten und zu bestrafen, sowie Maßnahmen zum Schutz der Opfer zu setzen, um eine umfassende Herangehensweise an die Angelegenheit sicherzustellen, so wie es das Palermo-Protokoll (Anm: Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15.11.2000, StF. BGBl. III 2005/220.) und die Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (Anm: Konvention vom 16.5.2005, StF. BGBl. III 2008/10.) verlangen. Die Staaten sind ebenso verpflichtet, einschlägige Schulungen für Vollziehungs- und Immigrationsbeamte vorzusehen.

(107) [...] Die Untersuchung muss auch in der Lage sein, zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Individuen zu führen – diese Verpflichtung betrifft die zu verwendenden Mittel und nicht die zu erreichenden Ergebnisse. Zusätzlich müssen die Behörden alle ihnen zur Verfügung stehenden angemessenen Schritte setzen, um Beweise betreffend den Fall sicherzustellen [...]. Die positive Verpflichtung darf jedoch nicht auf eine Weise interpretiert werden, dass den Behörden eine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt wird [...].

Anwendung dieser Grundsätze auf den vorigen Fall

(108) Zunächst erwägt der GH, dass die Rügen der Bf. in den in der Rechtsprechung des GH etablierten Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fallen [...]. Die behauptete und von Art. 4 EMRK untersagte Behandlung wurde nicht den österreichischen Staatsorganen zugerechnet, sondern privaten Individuen, nämlich den Arbeitgebern der Bf. Sie dauerte mehrere Jahre in Dubai und zwei oder drei Tage in Österreich. Deshalb betrifft der vorliegende Fall eher die positiven Verpflichtungen unter der genannten Bestimmung als die negativen.

(109) Der GH erwägt, dass der vorliegende Fall im Wesentlichen zwei Fragen aufwirft: ob die österreichischen Behörden ihren positiven Verpflichtungen zur Identifizierung und Unterstützung der Bf. als (potentielle) Opfer von Menschenhandel nachkamen und ob sie ihre positiven Verpflichtungen zur Untersuchung der behaupteten Verbrechen erfüllten.

Identifizierung und Unterstützung der Bf. als Opfer von Menschenhandel

(110) [...] Der GH bemerkt, dass die Behörden die Behauptungen der Bf. anscheinend als glaubwürdig angesehen haben. Von dem Zeitpunkt an, als sie sich an die Polizei wandten, wurden sie sofort als (potentielle) Opfer von Menschenhandel behandelt. Sie wurden von speziell geschulten Polizeibeamten befragt, erhielten Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen [...] und es wurde für das Melderegister eine Auskunftssperre verhängt, so dass ihr Aufenthaltsort von der allgemeinen Öffentlichkeit nicht nachverfolgt werden konnte. Während dem innerstaatlichen Verfahren wurden die Bf. von der NGO LEFÖ unterstützt, die von der Regierung speziell zur Leistung von Unterstützung für Opfer von Menschenhandel finanziert wird. Gemäß den unbestrittenen Aussagen der Regierung erhielten die Bf. rechtliche Vertretung, verfahrensrechtliche Begleitung und Unterstützung zur Erleichterung ihrer Integration in Österreich.

(111) Für die Zwecke des Art. 4 EMRK ist es von herausragender Bedeutung, dass die Behauptungen der Bf. in ihrer Gesamtheit ernst genommen wurden und der einschlägige rechtliche Rahmen im Einklang mit den staatlichen Verpflichtungen nach der Konvention angewendet wurde. Von diesem Gesichtspunkt aus erwägt der GH, dass der rechtliche und administrative Rahmen, der in Österreich im Hinblick auf den Schutz (potentieller) Opfer von Menschenhandel vorhanden war, ausreichend gewesen zu sein scheint und dass die österreichischen Behörden alle Schritte setzten, die in der gegebenen Situation vernünftigerweise erwartet werden konnten. Dies wurde von den Bf. nicht bestritten. Der GH ist daher überzeugt, dass die Pflicht zur Identifizierung, zum Schutz und zur Unterstützung der Bf. als (potentielle) Opfer von Menschenhandel von den Behörden wahrgenommen wurde.

Untersuchung der Behauptungen von Menschenhandel

(112) [...] Zur verfahrensrechtlichen Verpflichtung der österreichischen Behörden, die Behauptungen der Bf. zu untersuchen und Fälle von Menschenhandel zu verfolgen, bemerkt der GH, dass den Bf. die Gelegenheit gegeben wurde, detailliert zu beschreiben, was ihnen widerfahren war und wie sie von ihren Arbeitgebern behandelt worden waren. Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Ermittlungsverfahren, nachdem die Bf. im Juli und August 2011 ihre Aussagen bei der Polizei gemacht hatten. Es wäre nicht möglich gewesen, das Ermittlungsverfahren früher einzuleiten, da die Bf. sich erst etwa ein Jahr, nachdem sie ihre Arbeitgeber verlassen hatten, entschieden, die Polizei zu befassen. Das Ermittlungsverfahren wurde jedoch im November 2011 eingestellt, weil die Staatsanwaltschaft der Ansicht war, dass das angebliche Verhalten des Arbeitgebers der Bf. auf österreichischem Staatsgebiet nicht die Elemente des § 104a StGB aufwies. Soweit die Ereignisse im Ausland betroffen waren, hielt die Staatsanwaltschaft fest, dass das behauptete Verbrechen des Menschenhandels im Ausland begangen worden wäre, die Beschuldigten Nichtstaatsbürger wären und österreichische Interessen nicht berührt würden. Die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens wurde vom LG für Strafsachen Wien im Dezember 2011 bestätigt, das hinzufügte, dass es keinen Grund zur Strafverfolgung gebe, wenn auf der Basis der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens eine Verurteilung nicht wahrscheinlicher war als ein Freispruch. Seiner Ansicht nach existierte auch keine völkerrechtliche Pflicht, die Ermittlungen im Hinblick auf die angeblich im Ausland begangenen Ereignisse weiterzuverfolgen. In ihrer Stellungnahme fügte die Regierung an, dass Rechtshilfeersuchen in der Vergangenheit von den Vereinigten Arabischen Emiraten wiederholt ohne erkennbaren Grund zurückgewiesen worden wären, was implizieren würde, dass die Stellung eines solchen Ansuchens im vorliegenden Fall von keinem Nutzen gewesen wäre.

(113) Der GH erwägt, dass sich im Rahmen der positiven Verpflichtungen Österreichs im vorliegenden Fall Fragen dahingehend stellen, ob Österreich einer Verpflichtung unterlag, die angeblich im Ausland begangenen Verbrechen zu untersuchen, und ob die Untersuchung der Ereignisse in Österreich ausreichend war.

Angebliche Ereignisse im Ausland

(114) Betreffend die angeblichen Ereignisse in den Vereinigten Arabischen Emiraten erwägt der GH, dass Art. 4 EMRK unter seinem verfahrensrechtlichen Aspekt von den Staaten nicht verlangt, universelle Jurisdiktion für im Ausland begangene Straftaten von Menschenhandel vorzusehen. Das Palermo-Protokoll schweigt zur Frage der Jurisdiktion und die Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels verlangt von den Staaten nur, dass sie Jurisdiktion für jede Straftat im Zusammenhang mit Menschenhandel vorsehen, die auf ihrem eigenen Gebiet oder durch einen oder gegen einen ihrer Staatsbürger begangen wird. Der GH kann daher nur zum Schluss kommen, dass Österreich im vorliegenden Fall nach der Konvention keine Verpflichtung oblag, die Anwerbung der Bf. auf den Philippinen oder ihre angebliche Ausbeutung in den Vereinigten Arabischen Emiraten zu untersuchen.

Ereignisse in Österreich

(115) Die Bf. brachten vor, dass die österreichischen Behörden akzeptiert hätten, dass sie Opfer des Verbrechens des Menschenhandels waren, indem sie sie als solche behandelten. Der GH befindet jedoch nicht, dass die Elemente der Straftat des Menschenhandels nur deshalb erfüllt waren, weil die österreichischen Behörden die Bf. als (potentielle) Opfer von Menschenhandel ansahen. Eine solche besondere Behandlung setzte keine offizielle Bestätigung für den Nachweis der Straftat voraus und war von der Ermittlungspflicht der Behörden unabhängig. In der Tat bedürfen (potentielle) Opfer Unterstützung, noch bevor die Straftat des Menschenhandels formal festgestellt wird – ansonsten würde dies dem gesamten Ziel des Opferschutzes in Menschenhandelsfällen entgegenlaufen. Die Frage, ob die Elemente des Verbrechens vorlagen, ist dann in folgenden Strafverfahren zu klären.

(116) Der GH wiederholt, dass den Bf. die Gelegenheit gegeben wurde, speziell geschulten Polizeibeamten einen detaillierten Bericht der Ereignisse zu erstatten. Mehr als dreißig Seiten an Aussagen wurden von der Polizei aufgenommen. Auf Basis der erfolgten Beschreibungen kamen die Behörden zum Schluss, dass die Ereignisse [...], die während maximal drei Tagen in Wien stattgefunden hatten, für sich nicht eine der in § 104a StGB erschöpfend aufgelisteten strafbaren Handlungen darstellten. Die Bf. berichteten nicht von Misshandlungen in Österreich. Der GH erwägt, dass die Beurteilung, dass die Elemente von § 104a StGB hinsichtlich der Ereignisse in Österreich nicht gegeben waren, im Lichte der Umstände des Falles und der Beweise, welche die Behörden zur Verfügung hatten, nicht unangemessen erscheint.

(117) Als nächstes wird der GH das Argument der Bf. untersuchen, dass die Ereignisse auf den Philippinen, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Österreich nicht isoliert betrachtet werden könnten. [...] Auch für den Fall, dass man die gerügten Ereignisse zusammennimmt, gibt es aus den folgenden Gründen keinen Hinweis darauf, dass die Behörden es verabsäumten, ihre Ermittlungspflicht zu erfüllen. Die österreichischen Behörden wurden erst etwa ein Jahr nach den Ereignissen in Wien alarmiert, als die Arbeitgeber der Bf. Österreich bereits lange verlassen hatten und vermutlich nach Dubai zurückgekehrt waren. Deshalb waren die einzigen zusätzlichen Schritte, welche die Behörden womöglich hätten setzen können: Rechtshilfeersuchen an die Vereinigten Arabischen Emirate; zu versuchen, die Arbeitgeber im Rechtshilfeweg zu befragen und ihnen so Gelegenheit zu geben, eine Aussage zu ihrer Verteidigung zu tätigen; und diese gemäß § 197 StPO zur Aufenthaltsbestimmung auszuschreiben. Aus den vorliegenden Informationen ersieht der GH, dass die Behörden keine vernünftige Erwartung haben konnten, die Arbeitgeber der Bf. mit den gegen sie erhobenen Behauptungen konfrontieren zu können, da kein gegenseitiges Rechtshilfeübereinkommen zwischen Österreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten existierte. Diesbezüglich nahm die Regierung Bezug auf ihre Erfahrung, dass sogar einfache Rechtshilfeersuchen in der Vergangenheit ohne erkennbaren Grund verweigert worden waren. Es scheint nicht, dass die oben umschriebenen Schritte – obwohl theoretisch möglich – vernünftige Erfolgsaussichten gehabt hätten und daher erforderlich gewesen wären. Zusätzlich betont der GH, dass die Staatsanwaltschaft nach österreichischem Recht auf Grundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einen gewissen Ermessensspielraum hat, wenn sie entscheidet, welche Fälle weiterverfolgt und welche eingestellt werden (§ 210 StPO). Zudem ist es nach § 197 StPO nicht möglich, Strafverfahren in Abwesenheit des Beschuldigten zu führen. Zuletzt kann der Staatsanwalt gemäß § 193 Abs. 2 StPO innerhalb der Verjährungsfrist das Ermittlungsverfahren bezüglich der Behauptungen der Bf. wiedereröffnen und fortführen, wenn rechtliche oder faktische Gründe dafür existieren. Die vorangehenden Erwägungen ermöglichen es dem GH zum Schluss zu kommen, dass die von den österreichischen Behörden im Fall der Bf. vorgenommene Untersuchung für die Zwecke von Art. 4 EMRK ausreichend war.

Ergebnis

(118) Angesichts des Vorgesagten erwägt der GH, dass die österreichischen Behörden ihre Pflicht erfüllten, die Bf. als (potentielle) Opfer von Menschenhandel zu schützen. Durch die Feststellung, dass sie keine Jurisdiktion für die angeblichen Straftaten im Ausland hatten, und durch die Entscheidung, die Ermittlungen im Fall der Bf. betreffend die Ereignisse in Österreich einzustellen, verletzten sie ihre positive Verpflichtung unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 4 EMRK nicht. Daher erfolgte keine Verletzung dieser Bestimmung (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque, gefolgt von Richterin Tsotsoria).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(120) Der GH bemerkt, dass diese Beschwerde mit der oben untersuchten verbunden und daher ebenfalls für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

(123) Im Einklang mit der Stellungnahme der Bf. erwägt der GH, dass die Prüfung der positiven Verpflichtungen des Staates unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 3 EMRK jener unter Art. 4 EMRK ähnlich ist [...]. Der GH kommt aus im Wesentlichen gleichen Gründen zum Schluss, dass keine Verletzung von Art. 3 EMRK erfolgte (einstimmig).

Zu den weiteren gerügten Konventionsverletzungen

(124) Die Bf. brachten vor, dass – auch wenn Österreich sie in ihrem konkreten Fall als Opfer von Menschenhandel identifiziert hätte – das Fehlen eines formalen Erkennungssystems für sich in der Lage wäre, eine Verletzung von Art. 8 EMRK zu bewirken.

(125) Wie der GH in seinen Feststellungen zu Art. 4 EMRK dargelegt hat, ist er überzeugt, dass die Bf. im Einklang mit den innerstaatlichen und internationalen rechtlichen Verpflichtungen Österreichs als (potentielle) Opfer von Menschenhandel behandelt wurden. Im Lichte aller Materialien in seinem Besitz und soweit die gerügten Fragen seiner Zuständigkeit unterfallen, stellt der GH im Hinblick auf diese Rüge keinen Anschein einer Verletzung der in der Konvention oder ihren Protokollen festgelegten Rechte oder Freiheiten fest. Diese [Beschwerde] muss daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK für unzulässig erklärt werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NLMR 2010, 20

ATV Privatfernseh-GmbH/A v. 6.10.2015 (ZE) = NLMR 2015, 554

Fürst-Pfeifer/A v. 17.5.2016 = NLMR 2016, 255

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.1.2017, Bsw. 58216/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 126) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_2/J. u. a.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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