JudikaturAUSL EGMR

Bsw1967/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. November 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Hiller gg. Österreich, Urteil vom 22.11.2016, Bsw. 1967/14.

Spruch

Art. 2 EMRK - Selbstmord eines nach dem UbG untergebrachten psychisch Kranken nach Entweichen aus dem Krankenhaus.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Herr M. K., der 1981 geborene Sohn der Bf., wurde am 19.3.2010 wegen einer akuten Phase paranoider Schizophrenie ins Otto-Wagner-Spital eingeliefert. Dieses öffentliche Krankenhaus der Stadt Wien besteht aus rund 26 Gebäuden auf einem weitläufigen Gelände.

Das BG Fünfhaus erklärte seine unfreiwillige Unterbringung am 7.4.2010 gemäß § 8 UbG für zulässig.

Am 12.5.2010 kehrte der Sohn der Bf. von einem unbegleiteten Spaziergang auf dem Spitalsgelände nicht zurück. Er war entwichen und hatte sich durch einen Sprung vor die U-Bahn das Leben genommen.

Die Bf. begehrte mit einer Amtshaftungsklage gegen die Stadt Wien Trauerschmerzengeld wegen dem Tod ihres Sohnes. Sie brachte vor, dass das Krankenhauspersonal fahrlässig die Aufsichtspflicht verletzt hätte, da ein Fluchtversuch vorhersehbar gewesen wäre. Ihr Sohn sei bereits am 25.3.2010 und 29.3.2010 aus der geschlossenen psychiatrischen Abteilung entwichen.

Das LG Wien gab der Klage am 30.11.2012 statt. Seiner Ansicht nach hätte das Krankenhaus sicherstellen müssen, dass der Sohn der Bf. das Spitalsgelände nicht verließ. In dieser Außerachtlassung der Aufsichtspflichten sei eine Rechtswidrigkeit bei Vollziehung des UbG zu sehen.

Das OLG Wien gab der dagegen erhobenen Berufung der Stadt Wien am 26.3.2013 statt und wies die Klage der Bf. ab. Der Suizid sei dem Krankenhaus nicht zurechenbar, weil keine Hinweise auf eine Selbstgefährdung vorgelegen wären.

Der dagegen erhobenen Revision der Bf. wurde vom OGH am 18.7.2013 nicht Folge gegeben (1 Ob 109/13f). Begründend führte der OGH aus, dass die unbegleiteten Ausgänge innerhalb des Krankenhausareals aus medizinischer Sicht zulässig waren. Die Einräumung dieser Bewegungsfreiheit wäre daher nicht sorgfaltswidrig gewesen. Die schrittweise Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit wäre auch durch § 33 UbG geboten gewesen, wonach diese nur soweit eingeschränkt werden darf, als dies im Hinblick auf Gefahrenabwehr, Behandlung und Betreuung notwendig ist.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK

(38) Die Bf. bringt vor, die Behörden hätten es verabsäumt, den Schutz des Lebens ihres Sohnes zu gewährleisten [...].

Zulässigkeit

(39) Der GH stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Die allgemeinen Grundsätze

(47) Der GH wiederholt, dass [...] Art. 2 EMRK […] einem Mitgliedstaat nicht nur das absichtliche Töten verbietet, sondern ihn auch zu geeigneten Maßnahmen verpflichtet, um das Leben jener zu schützen, die sich in seiner Hoheitsgewalt befinden.

(48) Diese Prinzipien gelten auch im Gesundheitswesen. Die Staaten sind verpflichtet, Regeln festzulegen, die sowohl öffentliche als auch private Krankenhäuser dazu zwingen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben ihrer Patienten zu schützen, und ein effektives unabhängiges Gerichtswesen einzurichten, um den Grund des Todes von Patienten in ärztlicher Betreuung im öffentlichen und im privaten Sektor festzustellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn die Behörden sich entscheiden, Personen mit Behinderung anzuhalten und unterzubringen, müssen sie besondere Sorgfalt walten lassen und solche Bedingungen garantieren, die den aus der Krankheit resultierenden besonderen Bedürfnissen entsprechen. Dasselbe gilt für Personen, die unfreiwillig in psychiatrischen Institutionen untergebracht werden. Im Fall psychisch kranker Patienten muss ihre besondere Verletzlichkeit berücksichtigt werden.

(49) Der GH wiederholt des Weiteren, dass Art. 2 EMRK unter bestimmten Bedingungen eine positive Verpflichtung der Behörden beinhaltet, vorbeugende Maßnahmen zu setzen, um eine Person vor einer anderen Person oder unter gewissen Umständen vor sich selbst zu schützen. Der GH hat jedoch festgestellt, dass unter den besonderen Umständen der Selbstgefährdung die Entstehung einer positiven Verpflichtung davon abhängt, dass die Behörden zur relevanten Zeit wussten oder hätten wissen müssen, dass die betroffene Person sich in ernster und unmittelbarer Lebensgefahr befand, und sie nicht die Maßnahmen setzten, die von ihnen hätten erwartet werden können. […]

Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall

(50) Der GH stellt zunächst fest, dass es zwischen den Parteien unstrittig war, dass die Unterbringung von M. K. rechtmäßig war und der entsprechende Gerichtsbeschluss zum Zeitpunkt seines Todes noch galt. Die Ansichten der Parteien unterscheiden sich jedoch bei der Frage der Vorhersehbarkeit des Suizids und einer möglichen Verpflichtung des Krankenhauses, ihn durch weitere Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit vor der Begehung des Selbstmords zu schützen.

(51) Der GH erinnert daran, dass es M. K. nach seiner Unterbringung am 19.3.2010 zwei Mal gelungen war, von der geschlossenen Station zu entweichen […]. Das dritte Entweichen, das mit seinem Suizid endete, fand am 12.5.2010 und somit eineinhalb Monate später statt, als er bereits auf eine offene Station verlegt worden war. Nach den umfassenden Erkenntnissen der nationalen Gerichte, die sich sowohl auf Zeugenaussagen als auch auf Sachverständigengutachten stützten, hatten sich sowohl die Bereitschaft von M. K., den Anordnungen des Krankenhauses zu entsprechen, als auch sein Gesundheitszustand nach dem 2.4.2010 deutlich gebessert. Ab diesem Zeitpunkt fanden die nationalen Behörden, dass es nicht mehr verhältnismäßig sein würde, ihn auf der geschlossenen Station zu behalten, auch wenn sein letztes Entweichen gerade ein paar Tage vorher erfolgt war. M. K. wurde sukzessive mehr Freiheit eingeräumt, insbesondere um ihn zu motivieren und der dynamischen Erschöpfung, die ihn bedrückte, entgegenzuwirken und seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Die innerstaatlichen Behörden hatten keine Gegenindikation festgestellt, da er während des gesamten Aufenthaltes keine Suizidgedanken zum Ausdruck gebracht oder ein entsprechendes Verhalten gezeigt hatte. Nach Ansicht eines Gutachtens […] war die Unterbringung zum Zeitpunkt seines tödlichen Entweichens nur durch Fremdgefährdung, aber nicht durch eine Selbstgefährdung indiziert.

(52) […] Im vorliegenden Fall geht aus den Krankenhausaufzeichnungen hervor, dass es während des gesamten Aufenthalts von M. K. keine Anzeichen für Suizidgedanken oder -versuche gegeben hatte. Unter diesen Umständen wäre es gemäß dem UbG nicht rechtmäßig gewesen, ihn länger auf der geschlossenen Station zu behalten. In den Wochen vor seinem Tod, d.h. von Anfang April bis 12.5.2010, war M. K. ruhig und unauffällig und nahm seine Medizin freiwillig. Als ihm seit 21.4.2010 die Freiheit gewährt wurde, alleine Spaziergänge zu unternehmen – mehr als drei Wochen nach seinem letzten Entweichen – kehrte er stets wie vereinbart zurück. Er informierte das Krankenhauspersonal bevor er spazieren ging und wenn er zurückkam und verließ – wie angewiesen – nie das Krankenhausgelände.

(53) […] Der GH ist angesichts der vorliegenden Dokumente und der Tatsache, dass das Krankenhaus detaillierte Aufzeichnungen über seine Behandlung führte, überzeugt, dass das Krankenhauspersonal zu keinem Zeitpunkt einen Grund für die Annahme hatte, M. K. würde Selbstmord begehen [...]. Der GH findet die obigen Elemente ausreichend, um wie die innerstaatlichen Gerichte zum Schluss zu kommen, dass das Entweichen von M. K. und der folgende Suizid nicht vorhersehbar waren und daher dem Krankenhaus nicht zugerechnet werden können.

(54) Daraus folgt auch, dass das Krankenhaus nicht fahrlässig handelte, als es M. K. erlaubte, unbegleitete Spaziergänge zu unternehmen, sobald sich sein psychischer Zustand nach dem 2.4.2010 gebessert hatte. Wie sich aus den völkerrechtlichen Quellen zu dieser Angelegenheit ergibt und die Regierung überzeugend vorbrachte, entspricht es dem heutigen Modell der psychischen Gesundheitsversorgung, Personen mit geistiger Behinderung die größtmögliche persönliche Freiheit zu gewähren, um ihre Reintegration in die Gesellschaft zu erleichtern. Nach Ansicht des GH ist es aus Sicht der EMRK nicht nur zulässig, sondern sogar wünschenswert, untergebrachten Personen größtmögliche Bewegungsfreiheit zu gewähren, um ihre Würde und ihr Recht auf Selbstbestimmung bestmöglich zu wahren. Auch ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung zu Art. 5 EMRK, dass ein Freiheitsentzug, sobald die erforderlichen Umstände aufhören zu existieren oder sich ändern, sofort beendet oder auf das unter den gegebenen Umständen absolut notwendige Maß zurückgeschraubt werden muss. Im vorliegenden Fall wurde M. K. seine Freiheit im Sinne der Judikatur des GH weiterhin entzogen, auch nachdem er auf die offene Station überstellt worden war – unter anderem, weil er das Krankenhauspersonal immer über seine Spaziergänge und seine Rückkehr ins Krankenhaus informieren musste. Allerdings hatte Letzteres den Grad des Freiheitsentzugs ohne Verzögerung reduziert, sobald die Medikamente anfingen zu wirken und M. K. die Krankenhausregeln befolgte. Unter den Umständen des vorliegenden Falles stimmt der GH der Regierung zu, dass die Vorteile der offenen Unterbringung von M. K. deutlich die Nachteile der geschlossenen Station überwogen.

(55) Im Lichte des oben Ausgeführten kann der GH nicht feststellen, dass die österreichischen Gerichte und Behörden ihre positiven Verpflichtungen im Zusammenhang mit Art. 2 EMRK missachtet hätten. In dieser Hinsicht stimmt der GH mit dem österreichischen OGH darin überein, dass sich Fragen unter Art. 3, 5 und 8 EMRK ergeben hätten, wenn das Krankenhaus die Freiheit von M. K. noch stärker eingeschränkt hätte.

(56) Zum verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 2 EMRK stellt der GH schließlich fest, dass die nationalen Gerichte den Fall gründlich untersuchten und umfassend darlegten, warum der Tod von M. K. den Behörden nicht zurechenbar war. Es gab keine offensichtlichen Mängel in der Untersuchung.

(57) Die vorstehenden Erwägungen reichen aus, um dem GH die Schlussfolgerung zu gestatten, dass keine Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem materiellen oder prozessualen Aspekt stattgefunden hat (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Motoc, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Sajó).

Vom GH zitierte Judikatur:

L. C. B./GB v. 9.6.1998 = NL 1998, 105 = ÖJZ 1999, 353

Keenan/GB v. 3.4.2001 = NL 2001, 65

Renolde/F v. 16.10.2008 = NL 2008, 290

Stanev/BG v. 17.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.11.2016, Bsw. 1967/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 503) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_6/Hiller.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise