JudikaturAUSL EGMR

Bsw6281/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. Juni 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Petschulies gg. Deutschland, Urteil vom 2.6.2016, Bsw. 6281/13.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 7 Abs. 1 EMRK - Fortdauernde Anhaltung eines psychisch kranken Straftäters in Sicherungsverwahrung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Nachdem der Bf. bereits zuvor wegen mehrerer Straftaten verurteilt worden war, wurde er 1984 erneut in mehreren Fällen von (zum Teil gefährlicher) Körperverletzung und Nötigung gegen zufällig gewählte Opfer zu sechs Jahren Haft und Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB verurteilt. Er hatte seine Opfer ins Gesicht geschlagen oder getreten oder seinen Hund auf sie gehetzt. Manche hatte er auch mit einem Messer attackiert. Seine Opfer hatten ihn dabei nicht provoziert. Das Landgericht Hildesheim kam zum Schluss, dass der Bf. bis auf zwei Fälle trotz Alkoholisierung mit voller Schuldfähigkeit gehandelt hätte.

Am 7.5.1990 wurde der Bf. nach Verbüßung seiner Haftstrafe erstmals in Sicherungsverwahrung genommen. Diese wurde in der Folge mehrmals verlängert. Er wurde schließlich zur besseren Behandlung in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses von Moringen eingewiesen, ab März 2011 durfte er in einer überwachten Wohneinrichtung probewohnen.

Das LG Göttingen verlängerte die Anhaltung des Bf. in der Sicherungsverwahrung in einem psychiatrischen Krankenhaus unter § 67d Abs. 3 StGB im Einklang mit den Übergangsregelungen des BVerfG in seinem Urteil vom 4.5.2011 (2 BvR 2365/09 u.a.) am 19.7.2011 erneut. Das LG befand, dass der Bf. an einer »psychischen Störung« iSd. § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) leiden würde, die der Grund für seine Straftaten wäre. Nach kritischer Prüfung bestätigte es die Schlussfolgerungen des forensischen Psychiaters S. zur geistigen Verfassung des Bf. vom 26.5.2010 (ergänzt am 24.4.2011), der sein Gutachten auf Basis der Akten erstellt hatte, da der Bf. eine Untersuchung verweigert hatte. S. hatte festgehalten, dass der Bf. wie zur Zeit der Straftaten immer noch an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit deutlichen psychopathischen Elementen litt, so wie dies vom relevanten Instrument für die Klassifizierung von Krankheiten, dem ICD-10 (Anm: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision.), definiert wurde. Diese Diagnose war zudem von den den Bf. behandelnden Ärzten im Krankenhaus von Moringen bestätigt worden. Das Gericht kam zum Schluss, dass der Bf. bei einer Entlassung aus der Sicherungsverwahrung schwerwiegende Verbrechen begehen würde und die Anhaltung daher trotz der Dauer verhältnismäßig sei.

Das OLG Braunschweig bestätigte das Urteil des LG am 19.9.2011. Das BVerfG nahm die Beschwerde des Bf. am 18.7.2012 (2 BvR 2270/11) nicht zur Entscheidung an.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) dadurch, dass seine Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus verlängert wurde, obwohl nach den zur Zeit der Tatbegehung und der Verurteilung anwendbaren rechtlichen Bestimmungen zehn Jahre das Maximum dafür waren. Er rügte weiters eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (hier: Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen) durch die rückwirkende Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung über die zehn Jahre hinaus.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Zulässigkeit

(49) Der GH stellt [...] fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(59) [...] Eine Person kann ihres Rechts auf Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur beraubt werden, wenn die folgenden drei Mindestvoraussetzungen erfüllt sind: erstens muss verlässlich nachgewiesen werden, dass sie psychisch krank ist – das bedeutet, dass vor einer zuständigen Behörde auf Basis eines objektiven medizinischen Gutachtens eine echte Geistesstörung nachgewiesen werden muss; zweitens muss die Geistesstörung von einer Art und einem Ausmaß sein, die eine zwangsweise Anhaltung rechtfertigen; und drittens hängt die Rechtmäßigkeit der fortdauernden Anhaltung vom weiteren Bestehen einer solchen Störung ab.

(66) Der GH ist aufgerufen zu entscheiden, ob die Sicherungsverwahrung des Bf. im Lichte der obigen Grundsätze [...] wie von der Regierung behauptet unter Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK als Haft einer »psychisch kranken« Person gerechtfertigt war.

Gründe für die Freiheitsentziehung

(67) Im Einklang mit der etablierten Rechtsprechung des GH verlangte die Anhaltung des Bf. wegen einer psychischen Krankheit zunächst, dass zur Zeit der Entscheidung über seine fortdauernde Anhaltung verlässlich nachgewiesen wurde, dass er psychisch krank war. Mit anderen Worten musste vor einer zuständigen Behörde eine echte Geistesstörung auf Basis eines objektiven medizinischen Gutachtens festgestellt werden.

(68) Der GH beobachtet, dass die nationalen Gerichte feststellten, dass der Bf. an einer psychischen Störung iSd. § 1 Abs. 1 ThUG litt, so wie das BVerfG es durch die in seinem Urteil vom 4.5.2011 im Hinblick auf eine über die frühere zehnjährige Frist hinausgehende Sicherungsverwahrung aufgestellten Kriterien verlangte. Sie unterstützten die Feststellung des medizinischen Gutachters, dass der Bf. an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit deutlichen psychopathischen Elementen litt.

(69) Weiters war die Schlussfolgerung der nationalen Gerichte insbesondere auf den von S. verfassten externen psychiatrischen Expertenbericht über die geistige Verfassung des Bf. zu dieser Zeit gestützt, der lediglich drei Monate vor der Entscheidung des LG Göttingen vorgelegt wurde. Der GH stimmt der Ansicht des Bf. nicht zu, wonach der Bericht von S. unzureichend begründet gewesen wäre. Er hat in seiner Rechtsprechung wiederholt bestätigt, dass im Fall der Weigerung einer Person (wie des Bf.), sich einer Untersuchung zu unterziehen, die medizinische Expertenbeurteilung des geistigen Gesundheitszustands der Person auf Aktenbasis wie im vorliegenden Fall notwendig und zudem ausreichend ist. Außerdem wurden die Feststellungen von S. kritisch geprüft und von den nationalen Gerichten nicht einfach übernommen. Die Gerichte berücksichtigten, dass die Schlussfolgerungen von S., einem erfahrenen und verlässlichen Experten, auch von den behandelnden Ärzten des Bf. im Krankenhaus von Moringen bestätigt wurden und nicht von früheren Diagnosen abwichen.

(70) Der GH ist daher davon überzeugt, dass die nationalen Gerichte als zuständige Behörden auf der Basis von objektiver medizinischer Expertise feststellten, dass der Bf. zumindest nach der Definition im nationalen Recht eine psychische Störung aufwies. Es bleibt zu entscheiden, ob die innerstaatlichen Gerichte auch festgestellt haben, dass der Bf. »psychisch krank« iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK war – also an einer echten Geistesstörung litt.

(71) In diesem Zusammenhang beobachtet der GH, dass die innerstaatlichen Gerichte die Feststellungen des Psychiaters, den sie bestellt hatten, billigten und befanden, dass der Bf. an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit deutlichen psychopathischen Elementen litt, so wie dies vom relevanten Instrument für die Klassifizierung von Krankheiten, dem ICD-10, definiert wurde.

(72) Was die Ernsthaftigkeit dieses Zustands betrifft, stellte die dissoziale Persönlichkeitsstörung des Bf., die im Wesentlichen von der Zeit der Begehung der Straftaten an, wegen derer er 1984 verurteilt worden war, dieselbe blieb, keine pathologische Geistesstörung dar. Seine Störung war daher nicht so ernst, dass befunden wurde, dass er zur Zeit der Tatbegehung mit verminderter Schuldfähigkeit iSd. § 21 gelesen iVm. § 20 StGB gehandelt hätte. Auch wurde nicht festgestellt, dass er aktuell eine verminderte Schuldfähigkeit aufweist. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass der Bf. bei der Begehung von zwei der Straftaten mit verminderter Schuldfähigkeit gehandelt hatte, nach denen seine Sicherungsverwahrung lediglich als Folge seines Alkoholrausches zum Zeitpunkt dieser Straftaten angeordnet wurde.

(73) Wie von den innerstaatlichen Gerichten bestätigt wird, hatte sich die Ernsthaftigkeit der dissozialen Verhaltensstörung des Bf. jedoch in der speziellen Art manifestiert, auf die er seine früheren Straftaten begangen hatte. Aufgrund dieser Störung und dem daraus folgenden Mangel an Empathie hatte er kaum Hemmungen im Hinblick auf die Verletzung anderer. Zusätzlich versagte es die Störung ihm, seine eigene Wahrnehmung einer Situation zu hinterfragen. Dies hatte wiederholt dazu geführt, dass er auf unkontrollierte Weise massive Gewalt gegen zufällig gewählte Opfer anwendete, die objektiv betrachtet keinen Konflikt provoziert hatten.

(74) Der GH wiederholt, dass er in seiner Rechtsprechung keine genaue Definition von »psychisch kranken Personen« etabliert hat. Der Begriff eignet sich angesichts der Entwicklungen in der psychiatrischen Forschung nicht für eine solche Definition. Er bemerkt zudem, dass Art. 5 Abs. 1 lit. e anders als lit. a nicht nur die Haft nach einer Verurteilung betrifft. Weiters muss dem Begriff »psychisch kranke Personen« eine autonome Bedeutung gegeben werden, ohne dass der GH durch die Auslegung desselben Begriffs oder ähnlicher Begriffe in den innerstaatlichen Rechtsordnungen gebunden wäre.

(75) Der GH hatte bereits die Gelegenheit klarzustellen, dass es für die Zwecke der Konvention nicht Voraussetzung ist, um eine Person als »psychisch krank« anzusehen, dass diese an einer geistigen Störung leidet, die ausreichend ernst ist, um die Schuldfähigkeit nach deutschem Strafrecht auszuschließen oder zu vermindern. Er stimmt diesbezüglich mit den Feststellungen des BVerfG und dem Vorbringen der Regierung überein.

(76) Der GH hat jedoch auch betont, dass die in Art. 5 Abs. 1 aufgelisteten zulässigen Gründe für eine Freiheitsentziehung eng interpretiert werden müssen. Um eine echte Geistesstörung iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK darzustellen, muss die fragliche Geistesstörung so ernst sein, dass sie die Behandlung in einer Einrichtung notwendig macht, die für Patienten mit geistigen Krankheiten geeignet ist. Der GH hat diesbezüglich beobachtet, dass der Begriff »psychisch kranke Personen« (»aliéné« in der französischen Version) in Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK restriktiver sein könnte als der Begriff »psychische Störung« in § 1 Abs. 1 ThUG.

(77) Angesichts dieser Elemente hat der GH wiederholt Zweifel geäußert, ob die dissoziale Persönlichkeit oder dissoziale Persönlichkeitsstörung einer Person alleine als ausreichend ernste geistige Störung angesehen werden konnte, um als »echte« Geistesstörung für die Zwecke von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK eingestuft zu werden.

(78) Im vorliegenden Fall stellt der GH jedoch fest, dass es – auch wenn er zugibt, dass es schwer ist, zwischen »rein dissozialem« Verhalten und Geistesstörungen zu unterscheiden, die in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. e fallen – ausreichende Elemente gab, um zu zeigen, dass die Geistesstörung des Bf. so schwerwiegend war, dass sie als echte Geistesstörung iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. e angesehen werden konnte. Zunächst bemerkt er, dass die Persönlichkeitsstörung des Bf. mit deutlichen psychopathischen Elementen nach der Definition durch die ICD-10 gemäß den innerstaatlichen Gerichten durch seinen Alkoholmissbrauch verschlimmert wurde. In diesem Zusammenhang bemerkt er, dass Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK auch die Anhaltung von »Alkoholsüchtigen« erlaubt. Ohne dass er zu entscheiden hätte, ob die Anforderungen dieses gesonderten Grundes zur Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung im Fall des Bf. ebenfalls erfüllt waren, erwägt der GH, dass der Alkoholmissbrauch die Persönlichkeitsstörung und ihre Auswirkungen ernster machte. Das Ausmaß seiner Persönlichkeitsstörung hat sich in der Tat in der Art und Weise manifestiert, auf die er seine Straftaten beging. Die Straftaten wurden begangen, während er unter Alkoholeinfluss stand, betrafen zufällig gewählte Opfer und waren von grundloser Brutalität gekennzeichnet. Der GH fügt hinzu, dass er angesichts der Tatsache, dass der Bf. erneut für schuldig befunden wurde, unter dem Einfluss von Alkohol eine Körperverletzung begangen zu haben, als er sich in Sicherungsverwahrung befand, nicht überzeugt ist, dass nicht länger eine Gefahr bestand, dass der Bf. Alkohol missbrauchte.

(79) Zudem misst der GH dem Umstand beträchtliche Bedeutung bei, dass die nationalen Behörden die Sicherungsverwahrung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus 2005 angeordnet hatten, mehrere Jahre vor den angefochtenen Entscheidungen im gegenständlichen Verfahren. Das weist darauf hin, dass die innerstaatlichen Behörden erwogen, dass seine Verfassung eine therapeutische Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus verlangte oder zumindest davon profitierte.

(80) Der GH gibt sich zudem damit zufrieden, dass die Geistesstörung des Bf. im Einklang mit seiner Rechtsprechung von einer Art oder einem Ausmaß war, die eine zwangsweise Haft rechtfertigt. Die innerstaatlichen Gerichte stellten fest, dass es ein großes Risiko gab, dass er die schwerwiegendsten Gewaltverbrechen begehen würde – insbesondere lebensbedrohende Angriffe –, wenn er entlassen würde. Weiters hing die Rechtmäßigkeit seiner fortdauernden Anhaltung vom weiteren Bestehen seiner Geistesstörung ab. Unter § 67d Abs. 3 StGB in seiner Auslegung im Einklang mit den vom BVerfG dargelegten Anforderungen konnte die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Bf. nur angeordnet werden, wenn und so lange eine große Gefahr bestand, dass er als Folge dieser Störung bei Entlassung weitere extrem ernste gewaltsame Straftaten begehen werde.

(81) Daraus folgt, dass der Bf. eine »psychisch kranke« Person iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK war.

»Rechtmäßige« Haft »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise«

(82) Der GH muss auch untersuchen, ob die Anhaltung des Bf. in einem Krankenhaus, einer Klinik oder anderen geeigneten Einrichtung erfolgte – so wie es verlangt wird, damit die Haft einer Person als psychisch kranker Patient »rechtmäßig ist«.

(83) Der Bf. wurde während der betreffenden Zeit im Wesentlichen in einer überwachten stationären Einrichtung angehalten, die einem psychiatrischen Krankenhaus angeschlossen war. Der GH beobachtet auch, dass er regelmäßige Besuche von Angehörigen des Krankenhauses Moringen erhielt, während er in dieser Einrichtung war. Das Ziel seiner Anhaltung in der Einrichtung war, ihn auf seine Entlassung vorzubereiten und ihn schrittweise wieder in die Gesellschaft einzugliedern, indem es ihm ermöglicht wurde, die Anforderungen des Alltagslebens trotz seiner geistigen Verfassung selbst zu meistern. Deshalb wurde die Eignung der Einrichtung [...] für geistig kranke Patienten nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass er dort nicht länger eine spezielle Behandlung für seine Geistesstörung erhielt.

(84) Weiters war die fortdauernde Sicherungsverwahrung des Bf. auf § 67d Abs. 3 StGB gestützt, der im Einklang mit der Anordnung des BVerfG in seinem Urteil vom 4.5.2011 für eine Übergangszeit anwendbar blieb. Die Haft des Bf. entsprach daher dem nationalen Recht.

(85) Außerdem war die Sicherungsverwahrung des Bf. unter den Umständen notwendig und daher nicht willkürlich, trotz des Umstands, dass sie zur betreffenden Zeit bereits zwanzig Jahre überschritten hatte. Die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigten den Umstand, dass trotz der beträchtlichen Dauer der Sicherungsverwahrung immer noch eine hohe Gefahr existierte, dass er weitere äußerst schwere gewaltsame Straftaten – wie etwa gefährliche Angriffe – begehen würde, würde er entlassen. Der GH erwägt, dass diese Beurteilung keine Unverhältnismäßigkeit offenbart.

(86) Die Anhaltung des Bf. war daher »rechtmäßig« und erfolgte »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise« iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK.

Schlussfolgerung

(87) Demgemäß kam es zu keiner Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK

(95) Der GH beobachtet, dass der anwaltlich vertretene Bf. in seiner Verfassungsbeschwerde vom 24.10.2011 nicht ausdrücklich eine Verletzung des Verbots rückwirkender Bestrafung durch die rückwirkende Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung rügte – ein solches Verbot ist in Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 7 Abs. 1 EMRK vorgesehen. Sein Vorbringen betreffend eine Verletzung seines verfassungsmäßigen Rechts auf Freiheit kann auch nicht so interpretiert werden, als dass dadurch eine inhaltliche Rüge betreffend die rückwirkende Auferlegung einer schwereren Strafe erhoben worden wäre.

(96) Was die Wirksamkeit einer Verfassungsbeschwerde im Fall des Bf. anbelangt, bemerkt der GH, dass das BVerfG in seinem Leiturteil vom 4.5.2011, das mehrere Monate vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde durch den Bf. erfolgte, seine etablierte Rechtsprechung bestätigte, wonach entgegen den Feststellungen des GH zu Art. 7 Abs. 1 EMRK die Sicherungsverwahrung nach deutschem Recht nicht als Strafe zu qualifizieren sei. Folglich fand das absolute Verbot rückwirkender Anwendung von Strafrecht nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht auf die Sicherungsverwahrung Anwendung. Das BVerfG hatte bei seiner Prüfung des Einklangs der rückwirkend verlängerten Sicherungsverwahrung mit dem verfassungsmäßigen Recht auf Freiheit, gelesen iVm. dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz in einem Rechtsstaat, ausdrücklich die Wertungen von insbesondere Art. 7 EMRK berücksichtigt.

(97) Unter diesen Umständen verabsäumte es der Bf. zu zeigen, dass eine Beschwerde an das BVerfG, die zumindest der Sache nach die Frage des Verbots rückwirkender Bestrafung aufwarf, scheitern musste. Er hat nicht erklärt, warum es vergeblich gewesen wäre, seine Verfassungsgeschwerde betreffend eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit [...] im Hinblick auf das Versäumnis der Einhaltung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes durch die rückwirkende Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung auszudehnen – obwohl ein solcher Schutz ein Aspekt des verfassungsrechtlichen Rechts auf Freiheit ist. Zudem hat er nicht erklärt, warum er vor dem BVerfG nicht behaupten konnte, dass dessen Auslegung des verfassungsmäßigen Rechts auf Freiheit, gelesen iVm. dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz, oder des verfassungsrechtlichen Verbots der rückwirkenden Bestrafung im Urteil vom 4.5.2011 nicht im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 EMRK in der Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des GH stand.

(98) Daraus folgt, dass der Einrede der Regierung stattzugeben und dieser Teil der Beschwerde wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...] [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Winterwerp/NL v. 24.10.1979 = EuGRZ 1979, 650

Stanev/BG v. 17.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23

Kronfeldner/D v. 19.1.2012

B./D v. 19.4.2012 = EuGRZ 2012, 383

Glien/D v. 28.11.2013 = NLMR 2013, 436

Müller/D v. 10.2.2015 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.6.2016, Bsw. 6281/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 223) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_3/Petschulies.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise