JudikaturAUSL EGMR

Bsw17502/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Mai 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Avotins gg. Lettland, Urteil vom 23.5.2016, Bsw. 17502/07.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Ausreichender Grundrechtsschutz bei Vollstreckung des Urteils eines anderen EU-Staates nach der "Brüssel I-VO".

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (16:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 4.5.1999 unterzeichneten der Bf., ein Anlageberater, und die F. H. GmbH, eine Handelsgesellschaft nach zypriotischem Recht, vor einem Notar einen Schuldanerkenntnisvertrag. Darin erklärte der Bf., sich USD 100.000,– von der F. H.-GmbH auszuleihen und verpflichtete sich, diesen Betrag zuzüglich Zinsen bis zum 30.6.1999 zurückzuzahlen. Der Vertrag enthielt Klauseln über die Rechtswahl und den Gerichtsstand, wonach er »in allen Belangen« dem zypriotischen Recht unterlag und die zypriotischen Gerichte die nicht ausschließliche Zuständigkeit besaßen, über Streitigkeiten aus dem Vertrag zu entscheiden. Die Adresse des Bf. wurde mit der G.-Straße in Riga angegeben.

Im Jahr 2003 leitete die F. H.-GmbH gegen den Bf. vor dem BG Limassol ein Verfahren auf Rückzahlung ein, da dieser die Schuld noch nicht beglichen hätte. Das BG ordnete die Ladung des Bf. an, die angeblich im November 2003 an seine Adresse in der G.-Straße gesandt wurde. Der Bf. behauptet, nie eine Ladung erhalten zu haben.

Da der Bf. nicht erschien, verurteilte das BG Limassol ihn am 24.5.2004 in Abwesenheit zur Zahlung von USD 100.000,– plus Zinsen und Prozesskosten. Im Urteil war zu lesen, dass der Bf. ordnungsgemäß zur Verhandlung geladen worden, aber nicht erschienen sei. Es gab dort keinen Hinweis auf mögliche Rechtsmittel.

Am 22.2.2005 beantragte die F. H.-GmbH beim zuständigen lettischen BG die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils vom 24.5.2004. Die Firma führte dabei als Wohnort des Bf. eine Adresse in der C.-Straße in Riga an. Mit Beschluss vom 27.2.2006 gab das Gericht dem Antrag der F. H.-GmbH in vollem Umfang statt und ordnete die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils des BG Limassol vom 24.5.2004 an.

Der Bf. behauptete, erstmals am 15.6.2006 vom zypriotischen Urteil und von der lettischen Vollstreckungsanordnung erfahren zu haben. Am folgenden Tag ging er zum BG und machte sich mit dem Urteil und der Anordnung vertraut.

Er versuchte daraufhin allerdings nicht, das zypriotische Urteil vor den zypriotischen Gerichten zu bekämpfen, sondern rief das LG Riga an, um gegen die Anordnung vom 27.2.2016 zu berufen. Er behauptete, dass die Anerkennung und Vollstreckung des zypriotischen Urteils die Brüssel I-VO (Anm: Verordnung 44/2001 des Rates der Europäischen Union vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 012 vom 16.1.2001, S. 1-23.) sowie mehrere Bestimmungen der lettischen ZPO verletzt hätte. Insbesondere verwies der Bf. darauf, dass nach Art. 34 Abs. 2 der VO eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates nicht anerkannt werden könne, wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück dem Beklagten nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt wurde, dass er sich verteidigen konnte.

Mit Urteil vom 2.10.2006 hob das LG die angefochtene Anordnung auf und wies den Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung des zypriotischen Urteils zurück.

Die F. H.-GmbH legte dagegen Berufung beim Senat des OGH ein. Dieser hob das Urteil des LG am 31.1.2007 auf, gab dem Antrag der F. H.-GmbH statt und ordnete die Anerkennung und Vollstreckung des zypriotischen Urteils an. Insbesondere würde Art. 36 der Brüssel I-VO vorsehen, dass die ausländische Entscheidung keinesfalls inhaltlich überprüft werden dürfe.

Das BG Latgales stellte auf Grundlage dieses Urteils am 14.2.2007 einen Exekutionstitel aus.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) durch den lettischen OGH, weil dieser eine Vollstreckbarkeitserklärung für das Urteil des BG Limassol vom 24.5.2004 ausstellte, das seiner Ansicht nach eindeutig mangelhaft war, weil es in Verletzung seiner Verteidigungsrechte ergangen wäre.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Vorüberlegungen

(97) [...] Der GH erklärte die Beschwerde gegen Zypern mit ZE vom 3.3.2010 wegen Verfristung für unzulässig. Im aktuellen Verfahrensstadium betrifft die Beschwerde daher allein Lettland. Demgemäß hat der GH keine Jurisdiktion ratione personae für eine formale Entscheidung darüber, ob das BG Limassol die Erfordernisse von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllte. Er muss sich jedoch vergewissern, ob die lettischen Gerichte durch die Vollstreckbarerklärung des zypriotischen Urteils im Einklang mit dieser Bestimmung handelten. [...]

(98) Der GH erwägt, dass eine Entscheidung zur Vollstreckung eines ausländischen Urteils nicht als mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar angesehen werden kann, wenn dieses erlassen wurde, ohne dass die unterliegende Partei entweder im Ursprungsstaat oder im Empfangsstaat irgendeine Möglichkeit bekam, wirksam eine Rüge im Hinblick auf die zu dem Urteil führende Unfairness des Verfahrens geltend zu machen. [...] Der GH bemerkt, dass er zuvor noch nie aufgerufen war, die Einhaltung der Garantien eines fairen Verfahrens im Zusammenhang mit gegenseitiger Anerkennung auf Basis des EU-Rechts zu untersuchen. Er hat allerdings stets den allgemeinen Grundsatz angewandt, wonach ein Gericht, das einen Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils prüft, dem Antrag nicht stattgeben kann, ohne vorher eine gewisse Überprüfung dieses Urteils im Lichte der Garantien eines fairen Verfahrens vorzunehmen; die Intensität dieser Prüfung kann abhängig von der Natur des Falles variieren. Im vorliegenden Fall muss der GH daher entscheiden, ob vor dem Hintergrund der einschlägigen Umstände des Falles die vom Senat des lettischen OGH durchgeführte Überprüfung für die Zwecke des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausreichend ist.

(100) Der GH bemerkt weiters, dass die Anerkennung und Vollstreckung des zypriotischen Urteils im Einklang mit der damals anwendbaren Brüssel I-VO erfolgte. Der Bf. behauptete, dass der Senat des OGH Art. 34 Abs. 2 dieser VO und die entsprechende Bestimmung der lettischen ZPO verletzt hätte. Der GH wiederholt, dass er nicht zuständig ist, formal über die Einhaltung innerstaatlichen Rechts, anderer internationaler Verträge oder von EU-Recht zu entscheiden. Die Aufgabe, die Bestimmungen der Brüssel I-VO auszulegen und anzuwenden, kommt zunächst dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zu und zweitens den innerstaatlichen Gerichten in ihrer Eigenschaft als Unionsgerichte, wenn sie also die VO in der Auslegung durch den EuGH durchführen. Die Jurisdiktion des GH ist beschränkt auf die Prüfung der Einhaltung der Erfordernisse der Konvention [...]. Daher liegt es bei Fehlen von Willkür, die für sich eine Frage unter Art. 6 Abs. 1 EMRK aufwerfen würde, nicht beim GH zu urteilen, ob der Senat des lettischen OGH Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO oder irgendeine andere unionsrechtliche Bestimmung korrekt anwendete.

Die Vermutung gleichwertigen Grundrechtsschutzes (Bosphorus)

Umfang der Vermutung gleichwertigen Grundrechtsschutzes

(101) Der GH wiederholt, dass die Vertragsstaaten – sogar bei der Anwendung von EU-Recht – durch die Verpflichtungen gebunden bleiben, die sie beim Beitritt zur Konvention freiwillig übernommen haben. [...] In Michaud/F fasste der GH seine Rechtsprechung dazu folgendermaßen zusammen:

»[...] Handlungen, die im Einklang mit [...] Verpflichtungen [der Staaten aus ihrer Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation] gesetzt werden, sind gerechtfertigt, wo die betreffende Organisation Grundrechte – und zwar sowohl im Hinblick auf die materiellrechtlichen Garantien als auch auf die Mechanismen zur Kontrolle ihrer Einhaltung – auf eine Weise schützt, die zumindest als gleichwertig (das bedeutet nicht identisch, aber ›vergleichbar‹) mit dem Schutz, den die Konvention bietet, angesehen werden kann [...]. Wenn erachtet wird, dass von der Organisation ein solcher gleichwertiger Schutz gewährt wird, besteht die Vermutung, dass ein Staat nicht von den Erfordernissen der Konvention abgewichen ist, wenn er lediglich die rechtlichen Verpflichtungen umsetzt, die aus seiner Mitgliedschaft in der Organisation erfließen.

Ein Staat ist jedoch unter der Konvention für alle Akte voll verantwortlich, die aus seinen strikten internationalen Verpflichtungen herausfallen, insbesondere wo er staatliches Ermessen ausgeübt hat. Zusätzlich kann jede solche Vermutung widerlegt werden, wenn unter den Umständen des besonderen Falles erwogen wird, dass der Schutz der Konventionsrechte offenkundig mangelhaft war. [...]«

(103) Der GH befand in Bosphorus/IRL, dass der materiellrechtliche Schutz durch das EU-Recht unter Berücksichtigung der Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 GRC gleichwertig war, gemäß dem – soweit die GRC Rechte enthält, die den durch die Konvention garantierten Rechten entsprechen – ihre Bedeutung und Reichweite dieselbe sind, ohne dass damit der Möglichkeit geschadet würde, dass das EU-Recht einen weitergehenden Schutz vorsieht. [...]

(104) Zum zweiten hat der GH anerkannt, dass der durch das EU-Recht zur Überwachung der Einhaltung von Grundrechten vorgesehene Mechanismus, soweit sein volles Potenzial entfaltet wurde, ebenfalls einen mit der Konvention vergleichbaren Schutz gewährt. Diesbezüglich hat der GH der Rolle und den Befugnissen des EuGH eine beträchtliche Bedeutung beigemessen, ungeachtet des Umstands, dass der individuelle Zugang zu diesem Gericht weit eingeschränkter ist als jener zum GH nach Art. 34 EMRK (siehe Bosphorus Airways/IRL, Rn. 160-165 und Michaud/F, Rn. 106-111).

Anwendung der Vermutung gleichwertigen Schutzes im vorliegenden Fall

(105) Der GH wiederholt, dass die Anwendung der Vermutung gleichwertigen Grundrechtsschutzes im Rechtssystem der EU zwei Bedingungen unterliegt (siehe Michaud/F). Das sind das Fehlen eines Handlungsspielraumes auf Seiten der innerstaatlichen Behörden und die Entfaltung des vollen Potenzials des vom EU-Recht vorgesehenen Überprüfungsmechanismus. [...]

(106) Im Hinblick auf die erste Bedingung bemerkt der GH zunächst, dass die Bestimmung, welche der Senat des OGH durchführte, in einer VO enthalten war, die in vollem Umfang direkt in den Mitgliedstaaten anwendbar war, und nicht in einer RL, die den Staat nur im Hinblick auf das Ergebnis gebunden, es ihm aber offen gelassen hätte, die Mittel und Art und Weise, dieses zu erreichen, zu wählen (siehe im Gegensatz dazu Michaud/F, Rn. 113). Was die konkrete im vorliegenden Fall angewendete Bestimmung, nämlich Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO, angeht, bemerkt der GH, dass sie die Verweigerung der Anerkennung oder Vollstreckung eines ausländischen Urteils nur innerhalb sehr genauer Grenzen und unter gewissen Voraussetzungen erlaubte, nämlich dass »dem Beklagten das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte«. Es geht aus der Auslegung des EuGH in ziemlich umfangreicher Rechtsprechung klar hervor, dass diese Bestimmung dem Gericht, bei dem die Vollstreckbarkeitserklärung begehrt wurde, kein Ermessen verleiht. Der GH kommt daher zum Schluss, dass der Senat des lettischen OGH in diesem Fall keinen Handlungsspielraum genoss.

(109) Was die zweite Bedingung angeht, [...] beobachtet der GH [...] zu den speziellen Umständen des vorliegenden Falles, dass der Senat des OGH beim EuGH keinen Antrag auf Vorabentscheidung im Hinblick auf die Auslegung und Anwendung von Art. 34 Abs. 2 der VO stellte. Allerdings muss diese zweite Bedingung ohne übertriebenen Formalismus angewendet werden und die speziellen Merkmale des fraglichen Überprüfungsmechanismus berücksichtigen. Er erwägt, dass es keinem nützlichen Zweck dienen würde, die Anwendung der Bosphorus-Vermutung einem Erfordernis zu unterwerfen, dass die nationalen Gerichte in allen Fällen ohne Ausnahme eine Entscheidung des EuGH beantragen, einschließlich jener Fälle, in denen keine wirkliche und ernsthafte Frage hinsichtlich des Grundrechtsschutzes durch EU-Recht auftritt, oder jener, in denen der EuGH bereits genau festgestellt hat, wie die anwendbaren Bestimmungen des EU-Rechts auf eine mit den Grundrechten vereinbare Weise auszulegen sind.

(111) Der GH erwägt daher, dass die Frage, ob das volle Potenzial des vom EU-Recht vorgesehenen Überprüfungsmechanismus genutzt wurde – und speziell, ob die Tatsache, dass die innerstaatlichen Gerichte [...] den EuGH nicht um Vorabentscheidung ersuchten, geeignet ist, die Anwendung der Vermutung gleichwertigen Schutzes auszuschließen – vor dem Hintergrund der speziellen Umstände jedes Falles beurteilt werden muss. Im vorliegenden Fall bemerkt er, dass der Bf. kein spezielles Argument vorbrachte, das die Auslegung von Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO und ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten betraf, so dass eine Feststellung verlangt wäre, dass beim EuGH eine Vorabentscheidung eingeholt werden hätte müssen. Diese Position wird von dem Umstand gestützt, dass der Bf. keinen diesbezüglichen Antrag an den Senat des lettischen OGH stellte. Der vorliegende Fall ist daher eindeutig von Michaud/F zu unterscheiden, wo das nationale oberste Gericht den Antrag des Bf. zurückwies, beim EuGH eine Vorabentscheidung einzuholen, obwohl die Frage der Vereinbarkeit der gerügten Bestimmung des EU-Rechts mit der Konvention zuvor noch nie vom EuGH geprüft worden war. Deshalb ist der Umstand, dass die Sache nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, im vorliegenden Fall kein entscheidender Faktor. Die zweite Bedingung für die Anwendung der Bosphorus-Vermutung muss daher als erfüllt angesehen werden.

(112) Angesichts des Vorgesagten kommt der GH zum Schluss, dass die Vermutung gleichwertigen Grundrechtsschutzes im vorliegenden Fall Anwendung findet [...]. Daher ist die Aufgabe des GH darauf beschränkt festzustellen, ob der Schutz der von der Konvention garantierten Rechte im gegenständlichen Fall offenkundig mangelhaft war, so dass diese Vermutung widerlegt werden kann. In diesem Fall würde das Interesse an internationaler Zusammenarbeit von der Einhaltung der Konvention als »Verfassungsinstrument des europäischen ordre public« im Bereich der Menschenrechte überwogen. Bei der Prüfung dieser Frage muss der GH sowohl Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO als solchen berücksichtigen als auch die besonderen Umstände, unter denen dieser im vorliegenden Fall vollzogen wurde.

Behauptung, der Schutz der Konventionsrechte wäre offenkundig mangelhaft gewesen

Allgemeine Bemerkungen zur gegenseitigen Anerkennung

(113) Allgemein beobachtet der GH, dass die Brüssel I-VO teilweise auf Mechanismen gegenseitiger Anerkennung gestützt ist [...]. Er ist sich der Bedeutung [dieser] Mechanismen für die Errichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) bewusst, auf den in Art. 67 AEUV Bezug genommen wird, sowie des gegenseitigen Vertrauens, das sie erfordern. Wie in Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 Abs. 1 AEUV festgehalten, ist die gegenseitige Anerkennung von Urteilen insbesondere dazu bestimmt, die wirksame gerichtliche Kooperation in Zivil- und Strafsachen zu erleichtern. [...] Der GH hält [...] die Schaffung eines RFSR in Europa und die Annahme von Mitteln, die notwendig sind, um ihn zu erreichen, vom Standpunkt der Konvention aus grundsätzlich für völlig legitim.

(114) Dennoch dürfen die zur Schaffung dieses Raums verwendeten Methoden nicht die Grundrechte der von den daraus folgenden Mechanismen beeinträchtigten Personen verletzen, wie tatsächlich von Art. 67 Abs. 1 AEUV bestätigt wird. Es ist aber offenkundig, dass das Ziel der Wirksamkeit, das von einigen der verwendeten Methoden verfolgt wird, zum Ergebnis hat, dass die Prüfung der Einhaltung von Grundrechten strikt geregelt oder sogar eingeschränkt ist. Deswegen stellte der EuGH kürzlich in seinem Gutachten 2/13 (Anm: Gutachten 2/13 des EuGH vom 18.12.2014 = NLMR 2014, 532.) fest, dass »die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts unionsrechtlich verpflichtet sein können, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie [...] – von Ausnahmefällen abgesehen – [nicht] prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat«. Die Befugnis des Staates, in dem die Anerkennung gesucht wird, die Einhaltung von Grundrechten durch den Ursprungsstaat des Urteils auf Ausnahmefälle zu beschränken, könnte in der Praxis dem von der Konvention auferlegten Erfordernis zuwiderlaufen, wonach das Gericht im Empfangsstaat zumindest befugt sein muss, eine Prüfung durchzuführen, die verhältnismäßig zur Schwere der ernsthaften Behauptung einer Verletzung von Grundrechten im Ursprungsstaat ist, um sicherzustellen, dass der Schutz dieser Rechte nicht offenkundig mangelhaft ist.

(115) Zudem [...] ist, wo die Mechanismen gegenseitiger Anerkennung vom Gericht verlangen zu vermuten, dass die Einhaltung von Grundrechten durch einen anderen Mitgliedstaat ausreichend war, das innerstaatliche Gericht in dieser Sache seines Ermessens beraubt, was zur automatischen Anwendung der Bosphorus-Vermutung von Gleichwertigkeit führt. Der GH betont, dass dies paradoxerweise zu einer zweifachen Beschränkung der Prüfung der Einhaltung von Grundrechten durch das innerstaatliche Gericht führt – aufgrund des kombinierten Effekts der Vermutung, auf welche die gegenseitige Anerkennung gründet, und aufgrund der Bosphorus-Vermutung [...].

(116) Im Bosphorus-Urteil wiederholte der GH, dass die Konvention ein »Verfassungsinstrument des europäischen ordre public« ist. Daher muss sich der GH davon überzeugen, [...] dass die Mechanismen gegenseitiger Anerkennung keine Lücke oder besondere Situation hinterlassen, welche den Schutz der von der Konvention garantierten Menschenrechte offenkundig mangelhaft machen würde. Dabei berücksichtigt er iSd. Komplementarität die Art und Weise, auf welche diese Mechanismen funktionieren und insbesondere das Ziel der Wirksamkeit, das sie verfolgen. Dennoch muss er prüfen, ob der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung nicht zum Schaden von Grundrechten [...] automatisch und mechanisch angewendet wird. In diesem Sinne müssen die Gerichte eines Staates, der Vertragspartei der Konvention und Mitgliedstaat der EU ist – wo sie aufgerufen sind, einen durch EU-Recht eingerichteten Mechanismus gegenseitiger Anerkennung anzuwenden –, diesen vollständig befolgen, wenn der Schutz von Konventionsrechten nicht als offenkundig mangelhaft angesehen werden kann. Wenn vor ihnen jedoch eine ernsthafte und begründete Rüge vorgebracht wird, dass der Schutz eines Konventionsrechts offenkundig mangelhaft gewesen wäre und dieser Situation nicht durch EU-Recht Abhilfe geschaffen werden kann, können sie es nicht alleine aus dem Grund unterlassen, diese Rüge zu untersuchen, dass sie EU-Recht anwenden.

War der Schutz der Grundrechte im vorliegenden Fall offenkundig mangelhaft?

(118) Der GH erwägt, dass das Erfordernis der Erschöpfung von Rechtsbehelfen, das aus dem in Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO in dessen Auslegung durch den EuGH vorgesehenen Mechanismus erfließt (der Beklagte muss Gebrauch von im Ursprungsstaat verfügbaren Rechtsbehelfen gemacht haben, um sich über ein Versäumnis beschweren zu können, ihm das verfahrenseinleitende Schriftstück zuzustellen), im Hinblick auf die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK für sich nicht problematisch ist. Diese Voraussetzung verfolgt das Ziel, die ordnungsgemäße Rechtspflege iSd. Verfahrensökonomie sicherzustellen. Sie ist auf einen ähnlichen Ansatz gestützt wie jenen, der die Regel der Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel in Art. 35 Abs. 1 EMRK stützt. [...] Daher sieht der GH keinen Hinweis darauf, dass der gewährte Schutz diesbezüglich offenkundig mangelhaft war.

(120) [...] Der Bf. behauptete vor den lettischen Gerichten insbesondere, dass er nicht rechtzeitig von der Ladung vor das BG Limassol und dem Antrag der F. H.-GmbH benachrichtigt worden wäre – mit dem Ergebnis, dass er seine Verteidigung nicht organisieren hätte können. Daher hätte die Anerkennung des gerügten Urteils gemäß Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO verweigert werden müssen. Der Bf. behauptete, dass die Ladung an eine Adresse gesandt worden wäre, wo es physisch unmöglich gewesen wäre, ihn zu erreichen, obwohl die zypriotischen und lettischen Anwälte, welche die klagende Firma vertraten, sich seiner Geschäftsadresse in Riga völlig bewusst gewesen wären und seine private Adresse leicht erhalten hätten können. Er hätte daher stichhaltige Gründe vor den lettischen Gerichten erhoben, mit denen er das Vorliegen eines Verfahrensmangels behauptete, der a priori Art. 6 Abs. 1 EMRK zuwiderlaufen und die Vollstreckung des zypriotischen Urteils in Lettland ausschließen würde.

(121) [...] Der Bf. stützte sich auf die Gründe für die Nichtanerkennung nach Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO. Diese Bestimmung hält ausdrücklich fest, dass solche Gründe nur unter der Voraussetzung ins Treffen geführt werden können, dass zuvor ein Verfahren eingeleitet wurde, um das fragliche Urteil anzufechten, soweit dies möglich war. Der Umstand, dass der Bf. sich auf diesen Artikel stützte, ohne das Urteil wie verlangt angefochten zu haben, warf unter den Umständen des vorliegenden Falles notwendigerweise die Frage der Verfügbarkeit eines entsprechenden Rechtsmittels in Zypern auf. In einer solchen Situation war der Senat nicht berechtigt, den Bf. im Urteil vom 31.1.2007 einfach dafür zu kritisieren, nicht gegen das betreffende Urteil berufen zu haben, und zur Frage der Beweislast im Hinblick auf die Existenz und Verfügbarkeit eines Rechtsmittels im Ursprungsstaat zu schweigen. Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangte von ihm, ebenso wie Art. 34 Abs. 2 in fine der Brüssel I-VO, zu prüfen, ob diese Bedingung erfüllt war, ohne die er sich nicht weigern konnte, die Rüge des Bf. zu untersuchen. Der GH erwägt, dass die Entscheidung über die Beweislast, die [...] nicht vom EU-Recht geregelt wird, daher im vorliegenden Fall entscheidend war. Dieser Punkt hätte deshalb in einem kontradiktorischen Verfahren, das zu begründeten Feststellungen führte, geprüft werden müssen. Der OGH allerdings vermutete stillschweigend entweder, dass die Beweislast beim Beklagten lag, oder dass ein solches Rechtsmittel dem Bf. tatsächlich zur Verfügung stand. Dieser Ansatz, der eine wortgetreue und automatische Anwendung von Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-VO widerspiegelt, könnte theoretisch zu einer Feststellung führen, dass der gewährte Schutz offenkundig mangelhaft war, so dass die Vermutung des gleichwertigen Schutzes der von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Verteidigungsrechte widerlegt wird. Unter den speziellen Umständen des vorliegenden Falles erwägt der GH jedoch nicht, dass dies zutrifft, auch wenn dieser Mangel bedauernswert ist.

(122) Aus den von der zypriotischen Regierung [...] vorgelegten Informationen geht tatsächlich klar hervor, dass das zypriotische Recht dem Bf. – nachdem er von der Existenz des Urteils erfahren hatte – eine absolut realistische Möglichkeit zur Berufung gewährte, trotz der Zeitdauer, die verstrichen war, seit das Urteil erlassen worden war. Im Einklang mit zypriotischer Gesetzgebung und Rechtsprechung ist das verhandelnde Gericht, wenn ein Beklagter, gegen den ein Versäumnisurteil erfolgte, beantragt, dieses Urteil aufzuheben, und aus vertretbaren Gründen behauptet, dass er oder sie nicht ordnungsgemäß vor das urteilende Gericht geladen wurde, dazu verpflichtet (und nicht bloß berechtigt), das Versäumnisurteil aufzuheben. Daher ist der GH nicht überzeugt vom Argument des Bf., dass ein solches Verfahren scheitern hätte müssen. Der GH hat ständig festgehalten, dass dann, wenn es Zweifel gibt, ob ein Rechtsmittel eine wirkliche Erfolgschance bietet, dieser Punkt vor den innerstaatlichen Gerichten vorgebracht werden muss. Im vorliegenden Fall erwägt der GH, dass der Bf. in der Zeit zwischen 16.6.2006 (dem Datum, an dem ihm am erstinstanzlichen Gericht Zugang zur kompletten Akte gegeben wurde und er sich mit dem Inhalt des zypriotischen Urteils vertraut machen konnte) und dem 31.1.2007 (dem Datum der Verhandlung des Senats des OGH) ausreichend Zeit hatte, vor den zypriotischen Gerichten einen Rechtsbehelf zu verfolgen. Er machte aber aus Gründen, die nur ihm bekannt sind, keinen entsprechenden Versuch.

(123) Der Umstand, dass das zypriotische Urteil keinen Bezug auf die verfügbaren Rechtsmittel nahm, beeinträchtigt die Feststellungen des GH nicht. § 230 Abs. 1 der lettischen ZPO verpflichtet die Gerichte zwar, in ihren Entscheidungen die detaillierten Maßnahmen und Fristen zur Berufung dagegen anzugeben. Während ein solches Erfordernis löblich ist, sofern es einen zusätzlichen Schutzmechanismus bietet, der die Ausübung der Rechte von Prozessparteien erleichtert, kann dieses jedoch nicht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleitet werden. Es lag daher beim Bf. selbst – bei Bedarf mit angemessener Beratung –, sich im Hinblick auf die in Zypern verfügbaren Rechtsmittel zu erkundigen, nachdem ihm das fragliche Urteil bekannt wurde.

(124) In diesem Punkt teilt der GH die Ansicht der belangten Regierung, dass sich der Bf. als Anlageberater der rechtlichen Konsequenzen des Schuldanerkenntnisses, das er unterzeichnet hatte, bewusst sein hätte müssen. Diese Urkunde wurde nach zypriotischem Recht geregelt, betraf eine Geldsumme, die der Bf. von einer zypriotischen Firma geliehen hatte, und enthielt eine Klausel, die den zypriotischen Gerichten die Jurisdiktion gewährte. Deshalb hätte der Bf. sicherstellen sollen, dass er mit der Art und Weise vertraut war, auf die mögliche Verfahren vor den zypriotischen Gerichten geführt würden. Indem er es unterließ, diesbezüglich Informationen einzuholen, trug er als Ergebnis seiner Untätigkeit und fehlenden Sorgfalt zu einem großen Teil dazu bei, die Situation zu verursachen, über die er sich vor dem GH beschwerte und die er hätte verhindern können, um so das Erleiden eines Schadens zu vermeiden.

(125) Daher befindet der GH unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles nicht, dass der Grundrechtsschutz offenkundig mangelhaft war und die Vermutung des gleichwertigen Schutzes widerlegt ist.

(127) Es erfolgte daher keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (16:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes gemeinsames Sondervotum der ad hoc-Richterin Briede und des Richters Lemmens; abweichendes Sondervotum von Richter Sajó).

Vom GH zitierte Judikatur:

Robba/D v. 28.2.1996 (ZE)

Akdivar u.a./TR v. 16.9.1996 (GK)

Pellegrini/I v. 20.7.2001

Bosphorus Airways/IRL v. 30.6.2005 (GK) = NL 2005, 172 = EuGRZ 2007, 662

M. S. S./B und GR v. 21.1.2011 (GK) = NLMR 2011, 26 = EuGRZ 2011, 243

Michaud/F v. 6.12.2012 = NLMR 2012, 396

Povse/A v. 18.6.2013 (ZE) = NLMR 2013, 232

X./LV v. 26.11.2013 (GK) = NLMR 2013, 429

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.5.2016, Bsw. 17502/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 227) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_3/Avotins.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise