Bsw33677/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Fürst-Pfeifer gg. Österreich, Urteil vom 17.5.2016, Bsw. 33677/10 und Bsw. 52340/10.
Spruch
Art. 8 EMRK - Veröffentlichung eines psychiatrischen Gutachtens über eine gerichtlich beeidete Sachverständige.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. ist Psychologin und seit dem Jahr 2000 gerichtlich beeidete Sachverständige in familienrechtlichen Verfahren.
Am 23.12.2008 wurde sowohl ein Artikel im Bezirksblatt Wiener Neustadt abgedruckt als auch ein Artikel auf meinbezirk.at online veröffentlicht. Die Überschriften lauteten: »Gutachter-Qualität im Visier« und »Aufgedeckt: NÖ Sorgerechts-Sachverständige selbst ein Therapie-Fall«. In den Artikeln wurden Passagen aus einem Sachverständigengutachten über die Bf. abgedruckt:
»Sich abwechselnde Hoch- und Tiefphasen, Panikattacken, Selbstmordgedanken, optische, mit paranoiden Ideen gekoppelte Erscheinungen – und doch als von Gerichten bestellte Gutachterin tätig, die in den letzten zwölf Jahren rund 3.000 Elternpaaren bei Sorgerechtsstreitigkeiten auf den Zahn fühlte. Jetzt scheint’s für [die Bf.] aber eng zu werden: Tauchte doch ein ihre Psyche bewertendes Gutachten auf…
Besagtes Gutachten stammt aus dem Jahre 1993, wurde im Zuge eines Zivilprozesses von Dr. M. erstellt (Klage aufgrund eines von [der Bf.] angeblich gebrochenen Heiratsversprechens) – und förderte die bereits eingangs erwähnten Defizite zutage. Zudem kam M. zum Schluss, dass die Psychosen [der Bf.] erblich bedingt seien: zeige die Familien-Historie doch eine ›Häufung des Krankheitsbildes.‹ Drei Jahre später wurde [die Bf.] vom Wiener Neustädter Landesgericht in die Gutachter-Szene eingeführt, ihre Integrität stand über eine Dekade nicht zur Debatte – bis jetzt.«
Die Bf. brachte beim LG Innsbruck und beim LG St. Pölten einen Antrag nach § 7 MedienG ein, da der Artikel ihren höchstpersönlichen Lebensbereich in einer Weise darstellen würde, der geeignet wäre, sie in der Öffentlichkeit bloßzustellen. Die Gerichte sprachen ihr eine Entschädigung von je € 5.000,– zu. Sie stellten fest, der durchschnittliche Leser würde die Artikel als Behauptung verstehen, die Bf. wäre aufgrund ihrer psychischen Probleme unfähig, als Gutachterin tätig zu sein.
Die Medieninhaberinnen legten Berufung ein. Das OLG Innsbruck hob das Urteil mit der Begründung auf, dass die inkriminierte Veröffentlichung im Rahmen eines angemessenen Kommentars eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses einer kritischen Betrachtung unterzogen und damit die der Presse obliegenden Rolle als »public watchdog« ausgeübt habe. Auch das OLG Wien hob das Urteil auf und kam zu dem Ergebnis, dass der Artikeltext Teile des Gutachtens der Tätigkeit der Bf. als Sachverständige kritisch gegenüberstellte, die wesentlichen Gutachtensteile zitierte und damit zwar in den höchstpersönlichen Lebensbereich der Bf. eingriff. Aber erstens wäre der Artikel wahr und zweitens sei die Tätigkeit als Sachverständige in Gerichtsverfahren zweifellos dem öffentlichen Leben zuzuordnen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur Verbindung der Beschwerden
(26) Da die beiden Beschwerden denselben Artikel betreffen, welcher einmal im Internet und einmal in gedruckter Form von zwei verschiedenen Unternehmen veröffentlicht wurde und sie auf derselben Rechtsgrundlage beruhen, entscheidet der GH, die Beschwerden zu verbinden (einstimmig).
Zulässigkeit
(32) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(35) Der GH wiederholt, dass nach seiner Rechtsprechung der Schutz des guten Rufs ein eigenständiges, von Art. 8 EMRK umfasstes Recht ist, das vom Staat geschützt werden muss.
(36) In Bezug auf solche Fälle, in denen eine Verletzung der in Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte behauptet wird, und der angebliche Eingriff in diese Rechte aus einer Meinungsäußerung stamm, weist der GH darauf hin, dass der Staat bei der Gewährleistung des Schutzes seine Verpflichtungen nach Art. 10 EMRK berücksichtigen muss. Gerade die letztere Bestimmung ist von den Verfassern der Konvention spezifisch dazu geschaffen worden, eine Richtungsweisung für die Meinungsfreiheit – welche auch eine Kernfrage im vorliegenden Beschwerdefall ist – zu geben. Gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK kann die Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz des guten Rufes eingeschränkt werden. Mit anderen Worten kommt in der EMRK selbst zum Ausdruck, dass Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit innerhalb des Rahmens des Art. 10 EMRK, der diese Freiheit als Grundrecht verankert, zu beurteilen sind.
(37) Insbesondere bei Fällen von Zeitungsveröffentlichungen hat der GH bereits entschieden, dass der Schutz des Privatlebens u.a. mit dem in Art. 10 EMRK garantierten Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit abzuwägen ist.
(38) Der GH hat ferner festgestellt […], dass die von diesen Bestimmungen garantierten Rechte grundsätzlich den gleichen Respekt verdienen und das Ergebnis nicht davon abhängig sein sollte, ob eine Beschwerde nach Art. 8 EMRK von der Person an den GH herangetragen wurde, die Gegenstand der Berichterstattung war, oder unter Art. 10 EMRK von den Herausgebern eines anstößigen Artikels. Daher sollte grundsätzlich auch der Ermessensspielraum in beiden Fällen der gleiche sein.
(39) Zudem hat der GH beobachtet, dass es einer sorgfältigen Überprüfung unter Art. 10 EMRK bedarf, wenn die Maßnahmen oder verhängten Sanktionen geeignet sind, die Presse zu entmutigen, sich an Diskussionen über Angelegenheiten von legitimem öffentlichem Interesse zu beteiligen. Darüber hinaus müssen für jede Maßnahme ernsthafte Gründe vorliegen, um den Zugang zu Informationen zu begrenzen, auf welche die Öffentlichkeit ein Recht hat. Auch hat der GH festgestellt, dass die Presse nicht bestimmte Grenzen überschreiten darf, insbesondere hinsichtlich des guten Rufs und der Rechte anderer.
(40) Haben die innerstaatlichen Behörden eine Abwägung der beiden Rechte in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des GH niedergelegten Kriterien vorgenommen, bedarf es für den GH gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen. Mit anderen Worten wird in der Regel ein weiter Ermessensspielraum gewährt, wenn es für den Staat erforderlich ist, einen Ausgleich zwischen konkurrierenden privaten Interessen oder konkurrierenden Konventionsrechten zu finden.
(41) Der GH erinnert daran, dass es in Fragen der Meinungsäußerungsfreiheit bei der Wahrnehmung seiner Überwachungsfunktion nicht seine Aufgabe ist, die Stelle der zuständigen innerstaatlichen Behörden zu übernehmen, sondern nach Art. 10 EMRK ihre Entscheidungen zu überprüfen […]. Der GH wird sich den beanstandeten Eingriff im Lichte des Falles als Ganzem ansehen, um zu bestimmen, ob die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung vorgebrachten Gründe als »relevant und ausreichend« anzusehen sind und ob sie »verhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel« waren. Dabei hat sich der GH zu vergewissern, ob die nationalen Behörden Standards angewandt haben, die in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Art. 10 EMRK stehen und dass sie sich darüber hinaus auf eine akzeptable Beurteilung des Sachverhalts stützten. […]
(43) In seiner früheren Rechtsprechung betonte der GH, dass Informationen über den Gesundheitszustand einer Person ein wesentlicher Bestandteil des Privatlebens sind. Beide Berufungsgerichte erachteten, dass der Artikel einen wesentlichen Bestandteil der Privatsphäre der Bf. betraf und sie in der Öffentlichkeit bloßgestellt wurde, aber sie lehnten den Schadenersatzanspruch ab, weil die veröffentlichten Fakten wahr wären und einen unmittelbaren Zusammenhang zur öffentlichen Sphäre hätten. Allerdings stammten die spezifischen Informationen über den psychischen Gesundheitszustand der Bf. aus einem gerichtlichen Sachverständigengutachten aus einem öffentlichen Zivilgerichtsverfahren. Wie sich außerdem anhand der in dem in Frage stehenden Artikel zitierten Personen und deren jeweiliger Stellungnahmen zeigt, berichteten die Autoren des Artikels, dass das Sachverständigengutachten bereits politische Reaktionen provoziert hatte und sie sich damit an einer laufenden öffentlichen Debatte beteiligten.
(44) Der zu beurteilende Artikel enthielt keinen Verweis auf laufende oder kürzlich beendete Gerichtsverfahren, sondern einen Streit, ob der psychische Zustand der Bf., wie im Sachverständigengutachten aus 1993 beschrieben, im Widerspruch zu ihrer Bestellung als Sachverständige stehen würde. Was die Methode der Informationsbeschaffung betrifft, beobachtet der GH, dass die Bf. nie geltend gemacht hatte, dass das in Rede stehende medizinische Gutachten illegal erlangt worden wäre. Der Wahrheitsgehalt der Informationen und des Inhalts des Artikels waren im gesamten Verfahren unumstritten. Zudem war der Inhalt des Artikels ausgewogen, informierte über Tatsachen und war nicht nur dazu bestimmt, die öffentliche Neugier zu befriedigen. Neben einer eingängigen Unterüberschrift waren nur Fakten und Kommentare von dritten Personen, welche eindeutig durch Anführungszeichen zu unterscheiden waren, enthalten. Es ging klar hervor, dass das Gutachten aus dem Gerichtsverfahren im Jahr 1993 stammte und dass die Integrität der Bf. mehr als ein Jahrzehnt lang nicht in Frage gestellt worden war. Diese Tatsachen wurden ohne negative Kommentare des Autors dargelegt.
(45) Ferner muss eine ernsthafte Debatte über den psychischen Gesundheitszustand eines psychologischen Sachverständigen, die durch einen begründeten Verdacht hervorgerufen wird, als eine Debatte von öffentlichem Interesse angesehen werden, da ein gerichtlicher Sachverständiger Anforderungen der physischen und psychischen Eignung entsprechen muss. Dies ist umso wichtiger, als eine gerichtlich beeidete psychologische Sachverständige wie die Bf., die eine wichtige und manchmal entscheidende Rolle im Entscheidungsprozess von familienrechtlichen Verfahren spielt und damit nicht nur das Schicksal von Familien beeinflusst, sondern auch von Personen in einer frühen und sensiblen Phase der persönlichen Entwicklung. Aus Sicht der Parteien des Verfahrens und der Öffentlichkeit darf es keine Zweifel an der psychischen Eignung eines solchen Sachverständigen geben, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz wahren zu können.
(46) Der GH hat bereits festgestellt, dass Mitglieder der Justiz nicht gleich wie Politiker behandelt werden sollten, da sie sich nicht im gleichen Ausmaß wie Letztere einer genauen Prüfung all ihrer Äußerungen und Taten unterwerfen. Dennoch sind die Grenzen zulässiger Kritik bei Beamten, die in Ausübung ihres Amts handeln, weiter als bei einfachen Bürgern. Die Entscheidungen der Berufungsgerichte beruhten auf der Erkenntnis, dass die Bf. als häufig bestellte Sachverständige bei Gerichtsverfahren in einem sehr sensiblen Bereich der Kinderpsychologie und Pflege in ihrer amtlichen Eigenschaft ähnlich wie Beamte behandelt werden sollte, wenn es darum geht, zu prüfen, ob ein gerechter Ausgleich zwischen den konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen getroffen wurde. Der GH sieht keine erheblichen Gründe, die Ansicht der nationalen Gerichte in Bezug auf diese Feststellungen durch seine eigene zu ersetzen.
(47) Dennoch stellt der GH fest, dass diejenigen, die in einer amtlichen Eigenschaft handeln, das öffentliche Vertrauen unter Bedingungen genießen müssen, die frei von ungebührlichen Störungen sind, wenn sie ihre Aufgaben erfolgreich bewältigen sollen. Es kann sich daher als notwendig erweisen, sie vor beleidigenden und schmähenden verbalen Angriffen zu schützen, wenn sie im Dienst sind. Im vorliegenden Fall ist es jedoch nicht notwendig, die Erfordernisse eines solchen Schutzes gegen das Interesse der Freiheit der Presse oder das Interesse an einer öffentlichen Diskussion von Angelegenheiten von öffentlichem Interesse abzuwägen, da der umstrittene Artikel der Veröffentlichung keine beleidigenden und schmähenden verbalen Angriffe enthielt.
(48) Aus diesen Gründen ist der GH überzeugt, dass die Entscheidungen des OLG Wien und des OLG Innsbruck im vorliegenden Fall eine gerechte Abwägung zwischen den konkurrierenden Interessen vorgenommen haben.
(49) Der GH stellt fest, dass keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden hat (4:3 Stimmen); übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zupancic; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Wojtyczek und Kuris; abweichendes Sondervotum von Richterin Motoc).
Vom GH zitierte Judikatur:
Janowski/PL v. 21.1.1999 (GK) = NL 1999, 14 = EuGRZ 1999, 8 = ÖJZ 1999, 723
Karakó/H v. 28.4.2009 = NL 2009, 107
Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
Von Hannover/D (Nr. 2) v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278
Wegrzynowski und Smolczewski/PL v. 16.7.2013 = NLMR 2013, 268
Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.5.2016, Bsw. 33667/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016,255) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_3/Fürst-Pfeifer.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.