Bsw8895/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Ärztekammer für Wien und Dorner gg. Österreich, Urteil vom 16.2.2016, Bsw. 8895/10.
Spruch
Art. 10 EMRK - Bezeichnung eines Unternehmens als "Heuschrecke".
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 18.1.2007 richtete der ZweitBf., der als Präsident der Ärztekammer für Wien (der ErstBf.) fungierte, auf deren Website ein Rundschreiben an alle Mitglieder mit der Überschrift »Heuschreckenfonds wollen Ordinationen übernehmen«. Grund für sein Schreiben sei die in den Medien kolportierte Nachricht, wonach die F. GmbH plane, »in das Radiologiegeschäft einzusteigen«. Erklärend fügte er hinzu, dass Kapitalgesellschaften wie die F. GmbH, an der überwiegend institutionelle Anleger beteiligt seien, versuchen würden, ihre Tätigkeit auf das Gebiet der Strahlenmedizin auszudehnen. Bald würden diese Unternehmen auch Dienste in anderen medizinischen Bereichen anbieten, wobei die dort tätigen Ärzte der Gefahr ausgesetzt wären, zu bloßen Angestellten solcher »Heuschrecken-Unternehmen« zu verkommen und entlassen zu werden, sollten sie sich den Wünschen des Unternehmens nicht fügen. In Hinkunft würden von Ordinationen angebotene Radiologiedienste auch von Kapitalgesellschaften angeboten werden. Die F. GmbH würde die Anteile dieser Firmen dann erwerben und die »Heuschrecke« hätte ihr Ziel erreicht, nämlich die »Herrschaft über den ärztlichen Berufsstand«. Der ZweitBf. könne eines jedenfalls garantieren, nämlich dass die Ärztekammer mit allen Mitteln gegen diese desaströse Entwicklung vorzugehen beabsichtige, werde doch die Qualität der Behandlung heutzutage nicht mehr vom Arzt bestimmt, sondern von Managern und Controllern.
Am 16.2.2007 untersagte das Handelsgericht Wien den Bf. per einstweiliger Verfügung zu behaupten, die Klägerin verhalte sich gegenüber einzelnen Ärzten rücksichtslos, und zwar insbesondere die Behauptung, die Klägerin sei ein »Heuschrecken-Unternehmen«, eine »Heuschrecke« und/oder ein »Heuschrecken-Fonds«. Ferner wurde den Bf. die Behauptung untersagt, die Bereitstellung von Diensten durch die F. GmbH im Bereich der Radiologie sei eine »desaströse Entwicklung«. Begründend führte das Handelsgericht aus, zwischen den Bf. und der F. GmbH bestünde ein Wettbewerbsverhältnis, sodass die von diesen getätigten Äußerungen als ehrenrührig iSv. § 1330 ABGB bzw. als kreditschädigend iSv. § 7 UWG anzusehen seien.
Das von den Bf. angerufene OLG Wien gab ihrem Rechtsmittel lediglich insofern statt, als sie die von der Klägerin bereitgestellten Dienste als »desaströse Entwicklung« bezeichnen dürften. Im deutschen Sprachgebrauch gälte das Wort »Heuschrecke« als eine abwertende Tiermetapher für Private-Equity-Gesellschaften und andere Formen der Kapitalbeteiligung mit zu kurzfristigen oder überzogenen Renditeerwartungen, frei nach dem Prinzip »abfressen und weiterziehen«. Zwar sei die Verwendung dieses Begriffs als zulässige Kritik im Kontext einer politischen Debatte anzusehen, sodass die Klägerin ihre Ansprüche nicht auf § 1330 ABGB stützen könne. Da jedoch die Bf. auch in Wettbewerbsabsicht gehandelt hätten, könnten ihre in Verletzung des UWG getätigten Äußerungen nicht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung gerechtfertigt werden.
Die Bf. wandten sich daraufhin mit einem außerordentlichen Revisionsrekurs an den OGH, der diesen mit Beschluss vom 22.1.2008, 4 Ob 236/07w, zurückwies. Er räumte vorerst ein, dass gesetzt den Fall, dass ein Mitbewerber – wenngleich in Wettbewerbsabsicht – an einer Debatte teilnehme, die öffentliche Interessen betreffe, die Freiheit der Meinungsäußerung bei der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung seiner Aussagen ein an sich höheres Gewicht als bei rein unternehmensbezogenen Äußerungen habe. Allerdings sei auch die Absicht der Bf. deutlich hervorgetreten, den Wettbewerb freiberuflich tätiger Ärzte gegenüber auf den Markt drängenden Kapitalgesellschaften zu fördern. Indem diese ein bestimmtes Unternehmen, das bereits im umkämpften Geschäftsfeld tätig sei, als »Heuschrecke« bezeichneten, müsse diese Äußerung, um erlaubt zu sein, einen sachlich richtigen Kern haben. Diesen Beweis hätten die Beklagten jedoch nicht erbracht.
Am 7.7.2008 erließ das Handelsgericht Wien sein Urteil in der Sache und untersagte den Bf. die Wiederholung ihrer auf der Homepage gemachten Äußerungen. Ferner ordnete es die Veröffentlichung seines Urteilsspruchs auf der Homepage und im Ärzte-Newsletter an. Die von den Bf. im Instanzenweg erhobene außerordentliche Revision an den OGH blieb erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
Zu den Einreden der Regierung
(32) Die Regierung stellt vorerst die Beschwerdelegitimation der ErstBf. unter Art. 34 EMRK in Frage.
(33) Die ErstBf. sei eine staatliche Organisation, genauer gesagt eine Körperschaft öffentlichen Rechts in Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben. Ihren Pflichten komme sie in typisch regierungsstaatlicher Art und Weise nach, etwa durch die Verabschiedung von Erlässen. Strenge die Wiener Ärztekammer ein Verfahren [gegen Mitglieder] an, so sei sie an das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz gebunden, während die Vollstreckung ihrer Entscheidungen dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz unterliege. Die von ihr verabschiedeten Erlässe würden von der Wiener Landesregierung überwacht, die auch befugt sei, sie aufzuheben. [...]
(35) Der GH weist [...] darauf hin, dass der Begriff »staatliche Organisation« im Gegensatz zum Begriff der »nichtstaatlichen Organisation« iSv. Art. 34 EMRK [auch] juristische Personen einschließt, die an der Ausübung von Regierungsgewalt teilnehmen oder öffentliche Dienstleistungen unter staatlicher Beaufsichtigung erbringen. Der Begriff »staatliche Organisation« ist nicht nur auf die zentralen Staatsorgane anzuwenden, sondern auch auf dezentralisierte Behörden, wenn sie ungeachtet ihrer Autonomie gegenüber den Zentralorganen »öffentliche Funktionen« wahrnehmen. Ob nun eine bestimmte juristische Person in eine der beiden oben beschriebenen Kategorien fällt, ist mit Blick auf ihren rechtlichen Status (und, sofern angemessen, die damit einhergehenden Rechte), den Charakter ihrer Aktivitäten, den Kontext, in dem diese wahrgenommen werden, und schließlich den Grad der Abhängigkeit von den politischen Stellen zu klären.
(37) Was Österreich anbelangt, hat der GH bereits die Gemeinden und die Handelskammer als »staatliche Organisation« iSd. Art. 34 EMRK angesehen. Hingegen hat er diese Eigenschaft beim Österreichischen Rundfunk verneint, da dieser keine behördlichen Befugnisse innehat und [vom Gesetzgeber] für seine Unabhängigkeit und institutionelle Autonomie gesorgt wurde.
(38) Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass es sich bei der ErstBf. um eine gesetzliche Einrichtung handelt, wodurch der Fortbestand ihrer Existenz gesichert wird. Ihr rechtlicher Status ist somit der einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und nicht der eines im Rahmen des Privatrechts errichteten »Gebildes«.
(39) Der GH bemerkt weiters, dass die Organisationsstruktur der ErstBf. gesetzlich vorgegeben ist und für Mitglieder eine Zwangsmitgliedschaft besteht. Die Beziehung zwischen Mitgliedern und Kammervorstand gestaltet sich durch öffentlich-rechtliche Rechtsakte, die vom Kammervorstand verabschiedet werden, sie unterliegen nicht der zivilen Gerichtsbarkeit. Sogar die Einforderung der Kammerumlage ist Regelungsgegenstand des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes.
(40) Der GH verweist [in diesem Zusammenhang] auf die im Bundesgesetz über die Ausübung des ärztlichen Berufes und die Standesvertretung der Ärzte (Ärztegesetz 1998) umschriebenen Aufgaben der Ärztekammern.
(41) Was die Aktivitäten der ErstBf. angeht, ist auf der einen Seite unstrittig, dass sie in gewissen Angelegenheiten als Privater handelt und daher auch vor den ordentlichen Gerichten belangt werden kann. Auf der anderen Seite sind sich die beiden Parteien darin einig, dass die ErstBf. hoheitliche Befugnisse wahrnimmt und eine Rolle als öffentlicher Dienstleister innehat, indem sie die Ausbildung der Ärzte übernimmt und ihnen Posten [...] verschafft. In der Ausübung all dieser Funktionen unterliegt sie der Aufsicht durch andere staatliche Behörden. Ferner können auch die Kammerorgane von der örtlich zuständigen Landesregierung [unter näher geregelten Voraussetzungen – vgl. § 195b Ärztegesetz 1998] ihres Amtes enthoben werden.
(43) Der GH ist übrigens vom Vorbringen der ErstBf. nicht überzeugt, sie habe im Rahmen der Veröffentlichung des gegenständlichen Rundbriefs keine hoheitlichen Befugnisse iSv. Art. 34 EMRK ausgeübt. Die von ihr getätigten Äußerungen erfolgten evidentermaßen in der Ausübung öffentlicher Funktionen.
(44) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die ErstBf. keine »natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe« iSv. Art. 34 EMRK ist.
(45) Die Beschwerde der ErstBf. ist daher gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK mit der Konvention unvereinbar ratione personae [und] muss folglich [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).
(46) Die Regierung bringt vor, der ZweitBf. habe in seiner Eigenschaft als Präsident der ErstBf. gehandelt und folglich als Vorsitzender einer staatlichen Organisation. Er habe die von der ErstBf. betriebene Homepage für die Veröffentlichung der strittigen Äußerungen in Ausübung seiner Verpflichtungen gegenüber Ärztinnen und Ärzten benutzt. Seine Handlungen sollten daher als vom Regelungsgegenstand des öffentlichen Rechts gedeckt angesehen werden, sodass der GH die von ihm eingebrachte Beschwerde [wegen fehlender Opfereigenschaft] als unzulässig ratione personae erklären möge.
(48) Der GH erinnert daran, dass der Begriff »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK die Person meint, die von der strittigen Handlung oder Unterlassung direkt betroffen ist.
(49) Im vorliegenden Fall untersagten die Gerichte dem ZweitBf., einer natürlichen Person, die Wiederholung der von ihm [im Rundschreiben] gemachten strittigen Äußerungen. [...] Es ist zwar unbestritten, dass er im anschließenden Gerichtsverfahren als rechtlicher Vertreter der ErstBf. agierte. Indem sich die gerichtliche Verfügung jedoch auch auf den ZweitBf. als natürliche Person bezog, berührte sie diesen als Privatperson. Der GH ist daher der Ansicht, dass dem ZweitBf. Beschwerdelegitimation zukommt. Der Einwand der Regierung ist somit zurückzuweisen.
(50) Die Beschwerde des ZweitBf. ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 34 EMRK [richtig: Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK]. Da keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
(51) Der ZweitBf. sieht sich als Folge der von den nationalen Instanzen angeordneten Maßnahmen in seiner Meinungsäußerungsfreiheit verletzt.
(55) Laut dem ZweitBf. wäre die Untersagung der [Wiederholung] der von ihm gemachten strittigen Äußerungen nicht rechtmäßig gewesen, da § 7 UWG (Herabsetzung eines Unternehmens) in dieser Hinsicht nicht ausreichend klar und bestimmt sei. Eine sich auf diese Gesetzesbestimmung stützende Untersagung wäre daher für ihn nicht vorhersehbar gewesen. [...]
(60) [Bezüglich der Frage, ob die strittige Maßnahme gesetzlich vorgesehen war und ein legitimes Ziel verfolgte] erinnert der GH daran, dass er bereits festgehalten hat, dass § 1 [Abs. 1. Z. 1] UWG, der unlautere Geschäftspraktiken oder sonstige unlautere Handlungen im Geschäftsverkehr verbietet, die geeignet sind, den Wettbewerb zum Nachteil von Unternehmen nicht nur unerheblich zu beeinflussen, ausreichend präzise ist, was die Anforderungen des Art. 10 EMRK betrifft. Ein auf dieser Bestimmung basierender Eingriff ist daher als gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 10 EMRK zu betrachten. § 7 UWG definiert ein derartiges »Verhalten« detaillierter, indem er im Wesentlichen zum Zwecke des Wettbewerbs getätigte Behauptungen bzw. die Verbreitung von herabsetzenden bzw. kreditschädigenden Tatsachen über das Unternehmen eines anderen verbietet, sofern die Tatsachen nicht erweislich wahr sind. Für den GH ist diese Gesetzesbestimmung ausreichend präzise iSd. Art. 10 EMRK. [...] Der Eingriff war daher von den §§ 1 und 7 UWG gesetzlich vorgesehen.
(61) Es besteht auch Einigkeit unter den Parteien, dass besagter Eingriff einem legitimen Ziel, nämlich dem Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK, diente. Der GH teilt diese Ansicht.
(62) [Was die Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft anbelangt], hält der GH fest, [...] dass das Recht auf Schutz des guten Rufs dem Schutz des Art. 8 EMRK unterfällt. Damit diese Konventionsbestimmung ins Spiel kommt, muss der Angriff auf die Ehre des Betroffenen allerdings einen gewissen Schweregrad erreicht haben.
(65) Der GH hat bereits hervorgehoben, dass sich große öffentliche Unternehmen unvermeidlich und bewusst einer eingehenden Überprüfung ihrer Handlungen aussetzen, sodass die Grenzen akzeptabler Kritik im Hinblick auf diese weiter gezogen sind. Zusätzlich zum existierenden öffentlichen Interesse an einer offenen Debatte über Geschäftspraktiken bestehen aber auch wettbewerbsrechtliche Interessen am Schutz des Geschäftserfolgs (Ertrags) und der Überlebensfähigkeit von Unternehmen – und zwar nicht nur zum Vorteil der Angestellten und Aktionäre, sondern auch um des wirtschaftlichen Ertrags willen. Demzufolge genießt der Staat einen Ermessensspielraum dahingehend, welche Mittel er in seiner Rechtsordnung zur Verfügung stellt, mit welchen ein Unternehmen die Richtigkeit [von Äußerungen] anfechten und den Schaden von seinen guten Ruf gefährdenden Behauptungen begrenzen kann. Ferner ist zu betonen, dass der Ermessensspielraum des Staats notwendigerweise größer sein muss, wenn es um den komplexen und im stetigen Umbruch befindlichen Bereich des unlauteren Wettbewerbs geht.
(66) Eine Reduktion des Ermessensspielraums erscheint jedoch dann notwendig, wenn es sich nicht um eine rein »unternehmensbezogene« Äußerung eines Individuums handelt, sondern um dessen Teilnahme an einer Debatte von allgemeinem Interesse, beispielsweise einer solchen über die öffentliche Gesundheit.
(68) Im gegenständlichen Fall zogen die nationalen Gerichte die strittigen Äußerungen in ihrer Gesamtheit in Betracht und kamen zu dem Schluss, dass diese in einem klaren wirtschaftlichen Kontext des Wettbewerbs zwischen medizinischem Dienst und Kapitalgesellschaften betreffend ein und dieselbe Dienstleistung standen. Sie räumten ein, dass wenn ein Mitbewerber – wenngleich in Wettbewerbsabsicht – an einer Debatte teilnehme, die öffentliche Interessen betreffe, der Freiheit der Meinungsäußerung ein höheres Gewicht [als bei rein unternehmensbezogenen Äußerungen] einzuräumen wäre. Jedoch sei der Begriff »Heuschrecke« fast ausschließlich negativ besetzt, was auf eine sittenwidrige Verunglimpfung eines Mitbewerbers hinauslaufe. Der verwendete Begriff habe beim Leser nämlich den Eindruck erwecken müssen, die F. GmbH habe das die Interessen von Ärzten und Patienten schädigende – rücksichtslose – Verhalten bereits an den Tag gelegt. Die Gerichte stuften die fragliche Äußerung daher als Tatsachenbehauptung ein, die an sich geeignet war, den wirtschaftlichen Interessen der Klägerin zu schaden, ohne dass dafür ein Wahrheitsbeweis erbracht worden wäre.
(69) Nach Ansicht des GH besteht für ihn keine Notwendigkeit einer weiteren Klarstellung, ob die strittige Äußerung nun eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil darstellte, wäre dafür doch in jedem Fall eine ausreichende Faktengrundlage zu fordern gewesen. Für ein medizinische Dienste anbietendes Unternehmen wie die F. GmbH war der ihr gegenüber geäußerte Vorwurf, sie habe als »Heuschrecke« gehandelt (was vom Kontext des vom ZweitBf. verfassten Rundschreibens her gesehen implizieren sollte, dass diese [...] offenbar ihre wirtschaftlichen Interessen über die Interessen von Patienten stellte) besonders gravierend und geeignet, seinen guten Ruf zu schädigen. Der ZweitBf. hätte daher – gesetzt den Fall, er beabsichtigte die von ihm aufgestellte Behauptung im Kontext einer breiten Debatte über eine Angelegenheit von »öffentlicher Besorgnis« zu führen – diese auf eine solide Tatsachengrundlage aufbauen müssen. Die nationalen Gerichte [...] konnte keine solche ausmachen und auch der ZweitBf. vermochte keine zwingenden Argumente vorzubringen, die seine Behauptungen faktisch untermauert hätten. [...]
(70) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass das von den Gerichten ausgesprochene Verbot auf »relevanten und ausreichenden« Gründen basierte.
(71, 72) Zu den über den ZweitBf. verhängten Maßnahmen ist zu bemerken, dass [...] das Wiener Handelsgericht dem ZweitBf. keine Strafe auferlegte, sondern ihm verbot, die F. GmbH in Verwendung des Begriffs »Heuschrecke« als rücksichtslos zu bezeichnen. Ferner wurde ihm die Veröffentlichung des Urteilsspruchs auf der Homepage der ErstBf. und im Ärzte-Newsletter aufgetragen. Mag der ZweitBf. auch die Verhängung einer Strafe im Fall der Nichtbefolgung der einstweiligen Verfügung riskieren, ist festzuhalten, dass die gerichtlichen Sanktionen ihrer Natur nach moderat waren. Letzterer hat außerdem keine Begründung dafür gegeben, warum ihn die gerichtlichen Maßnahmen an der Erfüllung seiner Pflichten [als Präsident] hätten hindern sollen.
(73) Der Eingriff in die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit des ZweitBf. war daher in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz des guten Rufs und der Rechte der F. GmbH notwendig [...]. Es hat somit keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
16 österreichische Gemeinden u.a./A v. 31.5.1974 (ZE der EKMR)
Weiss/A v. 10.7.1991 (ZE der EKMR)
Hertel/CH v. 25.8.1998 = NL 1998, 148 = ÖJZ 1999, 614
Österreichischer Rundfunk/A v. 7.12.2006 = NL 2006, 308 = ÖJZ 2007, 472
Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.2.2016, Bsw. 8895/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 66) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/ÄrztekammerWien.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.