JudikaturAUSL EGMR

Bsw71545/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
21. Januar 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache L. E. gg. Griechenland, Urteil vom 21.1.2016, Bsw. 71545/12.

Spruch

Art. 4 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Keine angemessene Behandlung der Strafanzeige eines Opfers von Menschenhandel.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 12.000,– für immateriellen Schaden, € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der Bf. handelt es sich um eine nigerianische Staatsbürgerin, die am 9.6.2004 mit K. A. das griechische Staatsgebiet betrat. Dieser hatte ihr in Nigeria versprochen, sie nach Griechenland zu führen, damit sie dort in Bars oder Nachtlokalen arbeiten konnte. Er verlangte dafür das Versprechen der Bf., ihm € 40.000,– zu zahlen und die Polizei nicht zu informieren.

Bei Ankunft in Griechenland nahm K. A. der Bf. den Pass ab und zwang sie zwei Jahre lang zur Prostitution.

Die Bf. erhob am 29.11.2006 eine Strafanzeige gegen K. A. und dessen Gattin D. J. Sie behauptete, Opfer von Menschenhandel geworden zu sein und beschuldigte die zwei Genannten, sie und zwei andere Nigerianerinnen zur Prostitution gezwungen zu haben. Am 28.12.2006 wies der Staatsanwalt am Strafgericht von Athen die Anzeige der Bf. zurück, weil aus der Akte nicht hervorgehen würde, dass sie Opfer von Menschenhandel geworden wäre. Die Aussage von E. S., der Direktorin der Regierungsorganisation »Nea Zoi«, die mit der materiellen und psychologischen Unterstützung von zur Prostitution gezwungenen Frauen befasst war und mit der die Bf. seit ihrer Ankunft in Griechenland in Kontakt stand, wonach es sich bei der Bf. um ein Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung handle, hatte – obwohl bereits am 12.12.2006 von der Polizei aufgenommen – noch nicht Eingang in die Fallakte gefunden. Dies erfolgte erst am 11.1.2007.

Am 26.1.2007 beantragte die Bf. beim Staatsanwalt am Berufungsgericht Athen, dass ihre Anzeige erneut untersucht werden möge. Sie wies auf die bis dato unzureichende Untersuchung ihres Falles hin, zudem hätte der Staatsanwalt wichtige Beweiselemente nicht berücksichtigt. Sie schloss sich dem Verfahren als Zivilklägerin an. Der Staatsanwalt am Berufungsgericht gab dem Antrag am 1.6.2007 statt und ordnete gegenüber dem Staatsanwalt am Strafgericht an, ein Strafverfahren gegen K. A. und D. J. wegen Menschenhandel anzustrengen. Dieser leitete ein entsprechendes Verfahren am 21.8.2007 ein.

Der Untersuchungsrichter lud K. A. und D. J. am 6.3.2008 vor. Die Vorladungen konnten allerdings nicht zugestellt werden, da die Betroffenen nicht mehr an der von der Bf. angegebenen Adresse im Viertel von Kypseli wohnten. Daraufhin schloss der Untersuchungsrichter am 31.3.2008 die Untersuchung und erließ Haftbefehle gegen die beiden. Die Sache wurde in der Folge an das Geschworenengericht Athen verwiesen.

Am 12.3.2009 ordnete der Staatsanwalt am Berufungsgericht von Athen die Vorladung der Angeklagten an und – sollte diese nicht möglich sein – ihre Eintragung in die Polizeidatenbank gesuchter Personen. Am 20.7.2009 wurde die Verhandlung des Falles bis zur Verhaftung der Angeklagten ausgesetzt.

Am 19.5.2011 wurde D. J. verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Die Verhandlung des Falles fand am 20.4.2012 statt, nachdem auf Antrag der Bf. bzw. der Angeklagten zweimal vertagt worden war. Die Bf. trat mit einem Betrag von € 44,– als Zivilklägerin auf. Am gleichen Tag sprach das Geschworenengericht die Angeklagte frei (Urteil Nr. 193/2012), da sie nicht Komplizin von K. A., sondern selbst Opfer desselben gewesen und sexuell ausgebeutet worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf., die angibt, Opfer von Menschenhandel geworden zu sein, indem sie zur Prostitution gezwungen wurde, behauptet eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit), da der Staat es verabsäumt habe, seinen positiven Verpflichtungen gegenüber ihr nachzukommen. Sie rügt zudem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) durch die Dauer des Strafverfahrens, in dem sie als Zivilklägerin auftrat, und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), weil kein wirksames Rechtsmittel im Hinblick auf die Rüge der überlangen Verfahrensdauer existiert hätte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Zur Zulässigkeit

Zur Verspätetheit eines Teils der Beschwerde

(48) Die Regierung [...] betont insbesondere, dass der GH unter der genannten Bestimmung der Konvention nur die Handlungen und Unterlassungen der nationalen Behörden prüfen dürfe, die im Laufe der sechs dem Zeitpunkt der Erhebung der gegenständlichen Beschwerde, also dem 20.10.2012, vorangehenden Monate erfolgten. Nun sei aber das einzige Ereignis innerhalb dieses Zeitraums die Veröffentlichung des Urteils Nr. 193/2012 des Geschworenengerichts Athen gewesen, mit dem D. J. freigesprochen wurde. Folglich könne lediglich die Freilassung von D. J. [...] vom GH [...] geprüft werden.

(53) [...] Angesichts des Inhalts der Beschwerde unter Art. 4 EMRK kann sich der Einklang der Handlungen der nationalen Behörden mit dieser Bestimmung nur aus der Gesamtheit des Falles mit Bezug auf die gerügten Fakten und das Urteil Nr. 193/2012 ergeben. Daraus folgt somit, dass die früheren Ermittlungsstadien des Falles nicht von seiner Verhandlung vor dem Geschworenengericht Athen getrennt werden können, was D. J. anbelangt. Angesichts dessen, dass das Urteil Nr. 193/2012 am 20.4.2012 veröffentlicht wurde, also sechs Monate vor Einbringung der vorliegenden Beschwerde, sind die Rügen der Bf. unter Art. 4 EMRK nicht verspätet.

(54) Was im Übrigen K. A. angeht, befindet sich dieser auf der Flucht und bleibt das Verfahren im Hinblick auf ihn immer noch offen. Es handelt sich daher um eine andauernde Situation, soweit seine strafrechtliche Verantwortung von den nationalen Gerichten noch nicht festgelegt wurde, und wie von der Bf. betont wird, können Fakten nach April 2012 die Verantwortlichkeit der nationalen Behörden begründen.

(55) Angesichts des Vorgesagten muss die Einrede der Regierung wegen Verspätetheit eines Teils der Beschwerde zurückgewiesen werden.

Zur Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(57) Im Hinblick auf die Möglichkeit, eine Schadenersatzklage gegen K. A. und D. J. einzubringen, erinnert der GH an seine Rechtsprechung, wonach derjenige, der einen Rechtsbehelf verwendet hat, der dazu dient, im Hinblick auf die strittige Situation direkt – und nicht indirekt – Abhilfe zu schaffen, nicht gehalten ist, andere zu verwenden, die ihm offenstehen, deren Wirksamkeit jedoch unwahrscheinlich ist. Nun bemerkt der GH aber, dass der Gegenstand des von der Regierung angeführten Rechtsbehelfs zum Teil mit jenem des Auftretens der Bf. als Zivilklägerin zusammenfällt: beide Klagen erlauben es dem Betroffenen, eine Entschädigung zu erhalten. Die Bf. hat den Weg der Zivilbeteiligung am Strafverfahren gewählt und der GH kann nicht verlangen, dass sie zusätzlich eine Klage gestützt auf die einschlägigen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches einbringt. Angesichts des Vorgesagten weist der GH die von der Regierung im Hinblick auf die fehlende Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe [...] erhobene Einrede zurück.

Zur Anwendung von Art. 4 EMRK

(58) Der GH erinnert daran, dass es keinen Zweifel daran geben kann, dass Menschenhandel die Menschenwürde und Grundfreiheiten der Opfer verletzt und nicht als mit einer demokratischen Gesellschaft oder den in der Konvention verbürgten Werten vereinbar angesehen werden kann. Der GH verweist auf seine einschlägige Rechtsprechung, die bereits festgehalten hat, dass Menschenhandel unter Art. 4 EMRK fällt. Er bemerkt auch, dass die Regierung den Umstand nicht bestreitet, dass die Bf. Opfer von Menschenhandel wurde. Daraus folgt, dass Art. 4 EMRK im vorliegenden Fall Anwendung findet.

(59) Im Übrigen stellt der GH fest, dass die Rüge unter Art. 4 EMRK nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist [einstimmig].

In der Sache

Allgemeine Grundsätze des Art. 4 EMRK

(65) Was insbesondere den Menschenhandel betrifft, [...] geht aus der Rechtsprechung [des GH] hervor, dass den Staaten zunächst die Verantwortung zukommt, einen angemessenen rechtlichen Rahmen einzurichten, der einen konkreten und wirksamen Schutz der Rechte der tatsächlichen oder potenziellen Opfer von Menschenhandel bietet. [...]

(66) Zum zweiten sieht sich der Staat unter bestimmten Umständen der Verpflichtung ausgesetzt, konkrete Maßnahmen zu setzen, um nachweisliche oder mögliche Opfer von Art. 4 EMRK zuwiderlaufenden Behandlungen zu schützen. [...] Damit eine positive Verpflichtung besteht, in einem gegebenen Fall konkrete Maßnahmen zu setzen, muss gezeigt werden, dass die Behörden des Staates von Umständen wussten oder wissen mussten, die es erlauben vernünftigerweise zu vermuten, dass ein Einzelner Menschenhandel oder Ausbeutung iSd. Art. 3 lit. a des Palermoprotokolls (Anm: Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15.11.2000, StF. BGBl. III 2005/220.) und des Art. 4 lit. a der Konvention des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (Anm: Konvention vom 16.5.2005, StF. BGBl. III 2008/10.) unterworfen wird oder sich in der tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr befindet, es zu werden. [...]

(68) Zum Dritten erlegt Art. 4 EMRK eine verfahrensrechtliche Verpflichtung auf, Situationen möglichen Menschenhandels zu untersuchen. [...] Es handelt sich dabei um keine Pflicht im Hinblick auf ein Ergebnis, sondern um eine solche im Hinblick auf die Mittel. Ein Erfordernis von angemessener Geschwindigkeit und Sorgfalt ist in allen Fällen implizit, aber wenn es möglich ist, das betroffene Individuum einer schädlichen Situation zu entziehen, muss die Untersuchung mit Dringlichkeit geführt werden.

Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall

(69) Der GH bemerkt zunächst, dass die Bf. vom GH verlangt, bestimmte, von der Regierung beigebrachte Beweiselemente nicht zu berücksichtigen, weil ihre Verwendung durch die staatlichen Behörden dem Gesetz Nr. 2247/1997 über den Schutz personenbezogener Daten widersprechen würde. Der GH betont, dass die von der Bf. in Frage gezogenen Dokumente sich insbesondere auf ihre Polizeiakte beziehen und alle in Zusammenhang mit dem gegenständlichen Fall stehen. Er erwägt, dass die Bf., soweit sie Fragen im Hinblick auf das innerstaatliche Recht aufwerfen mögen, die im nationalen Recht verfügbaren Rechtsbehelfe verwenden kann. In jedem Fall erinnert der GH bezüglich des gegenständlichen Verfahrens, dass der Sektionspräsident dem Antrag der Bf. nach Art. 47 Abs. 4 VerfO auf Geheimhaltung ihrer Identität bereits stattgegeben hat. Folglich können die von ihr in Frage gezogenen Dokumente, da ihre Identität nicht öffentlich gemacht wurde, nicht mit ihrer Person in Verbindung gebracht werden.

Zum Vorliegen eines angemessenen rechtlichen Rahmens

(70) Die Bf. bestreitet weder die Sachdienlichkeit noch die Wirksamkeit des Rahmens der griechischen Gesetzgebung hinsichtlich der Verhütung und Bestrafung des Menschenhandels auf dem griechischen Staatsgebiet. Im Übrigen stellt der GH in Bezug auf die den Staaten obliegende Verpflichtung, eine Gesetzgebung zu schaffen, die es erlaubt, Vergehen in Hinblick auf dieses Phänomen strafbar zu stellen, fest, dass das griechische StGB zum Zeitpunkt der Ereignisse ausdrücklich den Menschenhandel zu sexuellen Zwecken untersagte. Insbesondere definierte Art. 351 StGB den Menschenhandel im Einklang mit seiner Definition durch das Palermoprotokoll und das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels [...]. Zudem sah Art. 12 des Gesetzes Nr. 3064/2002 spezielle Schutzmaßnahmen für die Opfer des Menschenhandels im Hinblick auf ihre physische Integrität und individuelle Freiheit vor. Dieselbe Bestimmung erlegt den Behörden unter anderem auch die Pflicht zur Unterstützung bei Wohnen, Unterhalt und Gesundheitspflege sowie zur psychologischen und gerichtlichen Hilfe auf. Außerdem sah die Gesetzgebung zum Zeitpunkt der Ereignisse – wenn das Opfer des Menschenhandels zu sexuellen Zwecken ein Ausländer ist, der sich illegal auf dem griechischen Staatsgebiet aufhält – die Möglichkeit vor, das Abschiebeverfahren gegen es auszusetzen.

(71) Schließlich hat Griechenland bereits einige der grundlegenden internationalen Texte zum Menschenhandel in sein nationales Recht inkorporiert. Über die Gesetze Nr. 3875/2010 und 4216/2013 wurden jeweils das Palermoprotokoll und das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert. Im Hinblick auf das Unionsrecht hat das Gesetz Nr. 4198/2013 die RL 2011/36 der EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels (Anm: Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, ABl. L 101, S. 1.) umgesetzt.

(72) Unter Berücksichtigung des Vorgesagten befindet der GH nicht, dass die einschlägige Gesetzgebung, die zum Zeitpunkt der Ereignisse in Griechenland in Kraft stand, es verabsäumte, der Bf. einen praktischen und wirksamen Schutz zu bieten.

Zum Ausreichen der zum Schutz der Bf. getroffenen operativen Maßnahmen

(73) Das entscheidende Datum, das im Hinblick auf die den Behörden obliegende Pflicht, konkrete Maßnahmen für den Schutz der Bf. als Opfer des Menschenhandels zu Zwecken sexueller Ausbeutung zu setzen, zu berücksichtigen ist, ist der 29.11.2006. An diesem Datum und während ihrer Anhaltung in Schubhaft behauptete die Bf. gegenüber den Behörden ausdrücklich, dass sie Opfer von Menschenhandel wäre.

(74) Es liegt daher beim GH zu untersuchen, ob die zuständigen Behörden vor dem 29.11.2006 vernünftigerweise wissen oder den Verdacht haben konnten, dass die Bf. Opfer von Menschenhandel war. Zudem wird der GH prüfen, ob die polizeilichen und gerichtlichen Behörden ab diesem Datum die nötigen in ihrer Macht stehenden Maßnahmen trafen, um der Bf. einen angemessenen Schutz zu bieten.

(75) Was den Zeitraum vor dem 29.11.2006 betrifft, behauptet die Bf. nicht, die Aufmerksamkeit der Behörden auf ihre Situation als Opfer von Menschenhandel gelenkt zu haben. Tatsächlich geht aus der Akte hervor, dass die nationalen Behörden trotz mehrmaligen Kontakts mit der Bf. in verschiedenen Zusammenhängen nicht über ihre besondere Situation verständigt wurden – so etwa z.B. als die Bf. bei den zuständigen Behörden Asylanträge einreichte. Der GH nimmt diesbezüglich auch den Umstand zur Kenntnis, dass die Behörden der Bf. auch ohne Wissen von ihrer speziellen Situation einen Platz in einem Aufnahmezentrum angeboten haben, diese jedoch nicht erschienen ist, um ihn in Anspruch zu nehmen.

(76) Was den Zeitraum nach dem 29.11.2006 angeht, blieben die zuständigen Behörden im Hinblick auf die ausdrückliche Behauptung der Bf., Opfer von Menschenhandel durch K. A. und D. J. gewesen zu sein, nicht gleichgültig. Nach ihrer Anzeige reagierten die Polizeidienste sofort, indem sie die Bf. der spezialisierten Polizeidienststelle zur Bekämpfung des Menschenhandels übergaben, um Ermittlungen über die Wahrheit ihrer Behauptungen vorzunehmen. Außerdem wurde das gegen die Bf. anhängige Abschiebeverfahren gemäß der einschlägigen Gesetzgebung nicht abgeschlossen und wurde ihr eine Aufenthaltsgenehmigung auf griechischem Staatsgebiet zuerkannt. Am 21.8.2007 schließlich stufte der Staatsanwalt am Strafgericht von Athen die Bf. formell als Opfer von Menschenhandel ein, was im Übrigen durch Urteil Nr. 193/2012 des Geschworenengerichts von Athen bestätigt wurde.

(77) Obwohl die Bf. ihre Situation als Opfer von Menschenhandel den Behörden am 29.11.2006 ausdrücklich mitgeteilt hatte, erkannte ihr der zuständige Staatsanwalt diesen Status jedoch erst am 21.8.2007 zu, das heißt ungefähr neun Monate später. Nun konnten die nationalen Behörden aber ab dem Ende des Jahres 2006 sehr wohl wissen, dass die Bf. Menschenhandel oder Ausbeutung unterworfen war. Abgesehen von der konkreten Anzeige der Bf. und dem Wissen der Behörden, dass sie systematisch der Prostitution nachging, hatte E. S., die Direktorin der Regierungsorganisation »Nea Zoi«, den Polizeibehörden am 12.12.2006 tatsächlich bestätigt, dass die Bf. ihrer Erfahrung nach von jemandem zu sexuellen Zwecken ausgebeutet wurde und dass diesbezüglich Hilfe von Seiten des Staates notwendig wäre. Wie die Regierung zugesteht, wurde diese Aussage nicht rechtzeitig in die Akte inkludiert. Folglich kann der Zeitraum von ungefähr neun Monaten, der verstrichen ist, bevor die Bf. als Opfer des Menschenhandels anerkannt wurde, nicht als angemessen eingestuft werden. Dies trifft umso mehr zu, als das Versäumnis der zuständigen Behörden negative Konsequenzen für die persönliche Situation der Bf. haben konnte. Tatsächlich verzögerte sich ihre Freilassung, da sie ja bis zum 20.2.2007 in Haft blieb. Es muss daran erinnert werden, dass gemäß Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 3064/2002 die nationalen Behörden ihre Schubhaft früher aussetzen hätten können.

(78) Daraus folgt, dass die Verzögerung der nationalen Behörden bei der Anerkennung der Bf. als Opfer von Menschenhandel einen wesentlichen Mangel im Hinblick auf die operativen Maßnahmen darstellte, welche die Behörden treffen konnten, um sie zu schützen.

Zur Wirksamkeit der polizeilichen Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens

(79) Der GH bemerkt, dass die Bf. ihre Argumentation auf zwei spezielle Aspekte des im vorliegenden Fall angewendeten gerichtlichen und verwaltungsrechtlichen Verfahrens konzentriert. Was das gerichtliche Verfahren anbelangt, rügt sie die Freilassung von D. J. durch das Geschworenengericht von Athen. Was darüber hinaus die Voruntersuchung und die Untersuchung des Falles betrifft, weist sie auf die mangelnde Sorgfalt der nationalen Behörden hin, die die Wirksamkeit des Verfahrens untergraben hätte.

(80) Im Hinblick auf die Freilassung von D. J. erinnert der GH daran, dass die Identifizierung und die Bestrafung der für Menschenhandel Verantwortlichen keine Verpflichtung im Hinblick auf das Ergebnis, sondern eine solche im Hinblick auf die Mittel ist. Im gegenständlichen Fall kam das Geschworenengericht in einem Urteil von 42 Seiten und nach Berücksichtigung von mehreren Zeugenaussagen von in den Fall verwickelten Personen zum Schluss, dass nicht nachgewiesen worden wäre, dass die Beschuldigte die Bf. zur Prostitution gezwungen hätte. Insbesondere hielt das zuständige Gericht vor allem fest, dass die Behauptungen der Bf. vage wären, und kam gestützt auf die Elemente der Akte zum Schluss, dass D. J. ebenfalls Opfer des Menschenhandels zum Zweck sexueller Ausbeutung geworden wäre. Folglich kann dem Geschworenengericht Athen nicht vorgeworfen werden, D. J. mit einem willkürlichen oder unzureichend begründeten Urteil freigesprochen zu haben, so dass die verfahrensrechtliche Pflicht aus Art. 4 EMRK nicht beachtet worden wäre.

(81) Was die Angemessenheit der polizeilichen Untersuchung angeht, betont der GH zunächst, dass die Polizeiorgane rasch auf die Anzeige der Bf. vom 29.11.2006 reagierten, dass sie Opfer von Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung wäre. Die Untersuchung wurde der spezialisierten Polizeidienststelle zur Bekämpfung des Menschenhandels übergeben. Die Bf. wurde sofort von den Beamten dieser Dienststelle befragt und zudem wurde die mutmaßliche Adresse von K. A. und D. J. unter Überwachung gestellt. Daneben wurden mehrere Zeugenaussagen von in den Fall verwickelten Personen gesammelt und wurde die anfängliche Untersuchung, deren Unabhängigkeit die Bf. nicht bestreitet, am 22.12.2006 beendet, d.h. rechtzeitig.

(82) Dennoch sind eine bestimmte Zahl an Aspekten des verwaltungsrechtlichen und gerichtlichen Verfahrens, die insbesondere mit seiner Angemessenheit und Sorgfalt zusammenhängen, nicht zufriedenstellend. Zunächst wurde die Anzeige der Bf. am 28.12.2006 vom zuständigen Staatsanwalt zurückgewiesen. Nun verfügte der Staatsanwalt aber nicht über die Zeugenaussage von E. S., der Direktorin der Regierungsorganisation »Nea Zoi«, die bestätigte – nachdem sie mehrere Kontakte mit der Bf. gehabt hatte –, dass diese tatsächlich Opfer von Menschenhandel zu Zwecken sexueller Ausbeutung wäre. Es wird in Erinnerung gerufen, dass diese Zeugenaussage laut der Regierung aufgrund des Versehens der Polizeibehörden nicht zur Akte gelegt wurde. Der GH erwägt, dass dieses Versäumnis wahrscheinlich negative Auswirkungen auf die ursprüngliche Beurteilung der Anzeige durch den Staatsanwalt beim Strafgericht hatte. Tatsächlich wurde diese Zeugenaussage vom Staatsanwalt am Berufungsgericht berücksichtigt, als dieser am 1.6.2007 gegenüber dem Staatsanwalt beim Strafgericht anordnete, eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten. Abgesehen von dem Versäumnis, diese Zeugenaussage der Fallakte beizugeben, haben die zuständigen Gerichte die Prüfung der Anzeige der Bf. nach ihrer Einbeziehung nicht aus eigenem Antrieb wiederaufgenommen. Es war die Bf., die das Verfahren durch die Anrufung des Staatsanwalts des Strafgerichts am 26.1.2007 wieder in Gang brachte. Schließlich ordnete der Staatsanwalt am Berufungsgericht von Athen die Eröffnung einer strafrechtlichen Verfolgung erst am 1.6.2007 an. Die Regierung bringt keine Erklärungen für diesen Zeitraum der Inaktivität von mehr als fünf Monaten vor. Der GH erwägt, dass diese Handlungen oder Unterlassungen der zuständigen Behörden die Verlängerung der Zeitspanne zwischen der Anzeige der strittigen Situation durch die Bf. und der Einleitung einer strafrechtlichen Verfolgung gegen K. A. und D. J. zur Folge hatten. Diese Zeitspanne war entscheidend für das rasche Voranschreiten des Verfahrens.

(83) Zweitens beeinträchtigte eine gewisse Zahl von Mängeln bei der Voruntersuchung und der Untersuchung des Falles seine Wirksamkeit. So trifft es zu, dass das Gebäude im Viertel von Kypseli gleich nach der Anzeige durch die Bf. der Überwachung durch die Polizei unterworfen wurde, um K. A. zu finden. Jedoch weitete die Polizei, nachdem sie festgestellt hatte, dass dieser dort nicht mehr wohnte, ihre Untersuchungen nicht mehr auf die beiden anderen von der Bf. in ihrer eidlichen Aussage explizit erwähnten Adressen aus. Es scheint auch nicht, dass sie versucht hätte, andere Informationen einzuholen, insbesondere über Ermittlungen beim Personal des Hotels im Zentrum von Athen, vor dem die Bf. sich regelmäßig prostituierte. Es muss festgehalten werden, dass die Intensivierung der Suche nach K. A. an diesem Punkt des Verfahrens entscheidend erschien, da D. J., d.h. seine mutmaßliche Komplizin, bereits am 21.12.2006 von der Polizei vorgeladen worden war, um im Rahmen der Voruntersuchung vernommen zu werden.

(84) Drittens fanden sowohl das Vorverfahren als auch die Untersuchung mit beträchtlichen Verzögerungen statt. So vergingen nach der Einleitung der strafrechtlichen Verfolgung gegen K. A. und D. J. am 21.8.2007 ungefähr mehr als vier Jahre und acht Monate bis zur Verhandlung des Falls vor dem Geschworenengericht von Athen. Gewiss verliert der GH nicht aus dem Blick, dass diese Zeitspanne zu einem gewissen Grad gerechtfertigt ist, wenn man bedenkt, dass K. A. und D. J. zwischenzeitlich die Flucht ergriffen hatten und dass die Verhandlung des Falls in deren Abwesenheit nicht stattfinden konnte. Dennoch werden beträchtliche Verzögerungen zwischen den einzelnen Verfahrensstadien festgestellt, für welche die Regierung keine Erklärungen bietet. So vergingen mehr als sechseinhalb Monate zwischen der Einleitung der strafrechtlichen Verfolgung am 21.8.2007 und der Vorladung von K. A. und D. J. am 13.3.2008. Nun wohnten diese zu dieser Zeit allerdings nicht mehr im Viertel von Kypseli. Im Übrigen bietet die Regierung keine Erklärungen zur Zeitspanne von etwa elf Monaten zwischen der Beendigung der Untersuchung am 31.3.2008 und dem 25.2.2009, dem Datum der Anklageerhebung gegenüber K. A. und D. J.

(85) Was schließlich insbesondere K. A. betrifft, den mutmaßlichen Haupttäter [...], so geht aus der Akte nicht hervor, dass die nationalen Behörden abgesehen von seinem Eintrag in die Fahndungsdatenbank der Polizei weitere konkrete Initiativen gesetzt haben, um ihn zu finden und ihn der Justiz zuzuführen. Zudem bietet die Regierung auch für die Zeit nach der Verhandlung des Falls vor dem Geschworenengericht von Athen und der Freilassung von D. J. keine konkreten Informationen über den Stand der polizeilichen Ermittlungen zum Schicksal von K. A. So geht aus der Akte z. B. nicht hervor, dass die griechischen Behörden eine Kooperation und einen Kontakt mit den nigerianischen Behörden hergestellt haben, um K. A. festzunehmen und zu verhaften.

Ergebnis

(86) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fehlende Schnelligkeit im Hinblick auf die Setzung von operativen Maßnahmen zugunsten der Bf. und Mängel bezüglich der dem griechischen Staat gemäß Art. 4 EMRK obliegenden verfahrensrechtlichen Pflichten fest. Der GH erkennt daher auf eine Verletzung dieser Bestimmung (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung der Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK

(88) Die Regierung behauptet, dass diese Rügen verpätet sind, da das von der Bf. als Zivilbeteiligte angestrengte Verfahren gegen K. A. und D. J. de facto am 20.7.2009 beendet worden wäre, als der zuständige Staatsanwalt [...] die Aussetzung der Verhandlung des Falls anordnete. [...] Es wäre nicht angemessen, die Zeit nach der Aussetzung des Verfahrens zu berücksichtigen, da die Verhaftung von K. A. und D. J., die die Fortsetzung des Verfahrens erlaubt hätte, von Zufällen abhängen würde.

(90) Im gegenständlichen Fall trat die Bf. mit einer Summe von € 44,– als Zivilbeteiligte auf. Daher hatte das fragliche Verfahren einen vermögenswerten Charakter und findet Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Zweig Anwendung. Im Übrigen bemerkt der GH, dass das mit dem fraglichen Fall verbundene Verfahren nicht beendet war. Seine Verhandlung wurde aufgeschoben, weil die Angeklagten die Flucht ergriffen hatten. Deshalb kann das Stadium der Verhandlung des Falls, die am 20.4.2012 stattfand, nicht von den vorherigen Verfahrensstadien losgelöst werden, mit denen es eine Einheit bildet. Da die gegenständliche Beschwerde am 20.10.2012 eingebracht wurde, sind die Rügen unter den Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK nicht verspätet iSd. Art. 35 Abs. 1 EMRK. Der GH stellt zwar fest, dass die Flucht von K. A. und D. J. von ihm im Rahmen der Beurteilung der Verantwortlichkeit des belangten Staates für die Verlängerung des fraglichen Verfahrens berücksichtigt werden kann, doch kommt er zum Schluss, dass die Einrede der Regierung wegen der Verspätetheit dieser Rügen zurückgewiesen werden muss.

(91) Im Übrigen stellt der GH fest, dass die genannten Beschwerden nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind und daher für zulässig erklärt werden müssen (einstimmig).

Zur Verfahrensdauer

(92) Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 26.1.2007, als die Bf. ihre Absicht erklärte, sich am strittigen Verfahren als Zivilklägerin zu beteiligen. Er endete am 20.4.2012 mit der Veröffentlichung des Urteils Nr. 139/2012. Die Dauer betrug daher fünf Jahre und mehr als zwei Monate für eine Instanz.

(97) Gegenständlich stellt der GH ohne Verkennung der Komplexität des vorliegenden Falls in Bezug auf seine Untersuchung fest, dass in etwa zweieinhalb Jahre zwischen der Beteiligung der Bf. als Zivilklägerin und der Aussetzung des Verfahrens [...] verstrichen sind. Unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung in diesem Bereich und der besonderen Geschwindigkeit, die bei der Behandlung dieser Art von Fällen verlangt wird, erwägt der GH, dass die Dauer des strittigen Verfahrens im vorliegenden Fall für eine Instanz übermäßig war und nicht dem Erfordernis einer »angemessenen Frist« entsprach.

(98) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens (einstimmig).

Zur Existenz einer wirksamen Beschwerde im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens

(100) [...] Der GH hatte bereits Gelegenheit festzustellen, dass die griechische Rechtsordnung der Betroffenen zum Zeitpunkt der Ereignisse keinen wirksamen Rechtsbehelf iSd. Art. 13 EMRK zur Verfügung stellte, die es ihr erlaubt hätte, sich über die Dauer des Verfahrens zu beschweren. Angesichts der vorangehenden Überlegungen befindet der GH, dass eine Verletzung von Art. 13 EMRK erfolgte, weil es zum Zeitpunkt der Ereignisse im nationalen Recht an einem Rechtsbehelf fehlte, der es der Bf. erlaubt hätte, die Anerkennung ihres Rechts zu erhalten, ihren Fall iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK binnen angemessener Frist verhandelt zu bekommen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 12.000,– für immateriellen Schaden; € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Osman/GB v. 28.10.1998 (GK) = NL 1998, 221

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Rantsev/CY und RUS v. 7.1.2010 = NLMR 2010, 20

Giuliani und Gaggio/I v. 24.3.2011 (GK) = NLMR 2011, 85

M. u.a./I und BG v. 31.7.2012 = NLMR 2012, 260

Glykantzi/GR v. 30.10.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.1.2016, Bsw. 71545/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 20) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/L.E.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise