JudikaturAUSL EGMR

Bsw17429/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Januar 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Kalda gg. Estland, Urteil vom 19.1.2016, Bsw. 17429/10.

Spruch

Art. 10 EMRK - Kein Zugang für Häftling zu Rechtsinformation im Internet.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt bereits für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Im Oktober 2007 suchte er beim Justizministerium um Zugang zur Homepage des Informationszentrums des Europarates in Tallinn sowie jener des estnischen Justizministers bzw. Parlaments an. Diese Internetseiten enthalten Übersetzungen und Zusammenfassungen von Urteilen des EGMR, rechtliche Stellungnahmen des Justizministers sowie Gesetzesentwürfe nebst erläuternden Bemerkungen zu Gesetzen und Protokolle der Parlamentssitzungen, die der Bf. angeblich für einen anhängigen Rechtsstreit mit der Gefängnisleitung benötigte. Am 23.11.2007 wurde sein Antrag abgelehnt.

Die dagegen erhobene Beschwerde des Bf. wurde im Instanzenweg vom Obersten Gerichtshof mit Urteil vom 7.12.2009 abgewiesen. Begründend führte er aus, die fraglichen Internetseiten würden nicht unter die in § 31 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz (im Folgenden: StVG) genannte Ausnahme (Anm: Diese Bestimmung verbietet Strafgefangenen die Nutzung des Internets, außer es existieren speziell dafür adaptierte Computer in einem Gefängnis, wobei die Anstaltsleitung den Zugang zu den im Internet veröffentlichten amtlichen Gesetzes- und Judikatursammlungen genehmigt haben muss.) fallen. Zwar würde diese Bestimmung in das in Art. 44 der Verfassung verankerte Recht auf freien Zugang zu für öffentlichen Gebrauch bestimmte Informationen eingreifen. Da jedoch die Möglichkeit technisch nicht ausgeschlossen werden könne, dass Häftlinge ihr Recht auf Nutzung des Internets missbrauchen könnten, müsse ihnen der Zugang zu zusätzlichen Internetseiten kraft § 31 Abs. 1 StVG untersagt werden. Besagtes Verbot habe zum Ziel, Häftlinge von einer mit ihrer Anhaltung unvereinbaren Kommunikation abzuhalten, etwa wenn diese auf den Erhalt von Informationen abziele, die die Sicherheit im Gefängnis oder die Anleitung der Häftlinge zu rechtstreuem Verhalten gefährden könnte. Häftlingen einen extensiven Gebrauch des Internets zu gestatten würde letztlich darauf hinauslaufen, dass die Gefängnisbehörden deren Aktivitäten nicht mehr hinreichend kontrollieren könnten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (hier: Informationsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Der Bf. beklagt sich über die Weigerung der Behörden, ihm den Zugang zu bestimmten Webseiten zu gewähren, was sein Recht auf den Erhalt von Informationen »ohne behördliche Eingriffe« verletzt habe.

(28) Die Regierung hält die Beschwerde für offensichtlich unbegründet, da der Bf. Zugang zu den auf den Internetseiten enthaltenen Informationen auch auf anderem Wege als über das Internet erhalten hätte können.

(35) Die Beschwerde des Bf. bezieht sich auf sein Recht auf den Erhalt von Informationen, das unter Art. 10 EMRK fällt. Sie ist folglich nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss besagte Beschwerde für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(41) Der GH hat wiederholt anerkannt, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf den Erhalt von Informationen von allgemeinem Interesse hat [...].

(42) Er hat weiters festgehalten, dass dieses Recht es der Regierung grundsätzlich verbietet, eine Person davon abzuhalten, Informationen zu erhalten, die ein Dritter weiterzugeben bereit ist bzw. wünscht. [...]

(43) Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Weigerung der Behörden, die begehrten Informationen freizugeben, hatte doch der Antrag des Bf. Informationen zum Gegenstand, die im öffentlichen Raum frei verfügbar waren. Vielmehr ging es um ein bestimmtes Mittel, um Zugang zu den fraglichen Informationen zu erhalten. In diesem Fall war es so, dass der Bf. in seiner Eigenschaft als Häftling [...] Zugang zu auf bestimmten Webseiten enthaltenen Informationen begehrte.

(44) In diesem Zusammenhang möchte der GH daran erinnern, dass das Internet angesichts seiner [leichten] Zugänglichkeit und der Fähigkeit, große Datenmengen zu lagern und zu kommunizieren, eine bedeutende Rolle bei der Verbesserung des Zugangs der Öffentlichkeit zu Nachrichten und Neuigkeiten und bei der Ermöglichung der Verbreitung von Informationen spielt.

(45) Andererseits sind mit einer Anhaltung im Gefängnis unweigerlich eine Reihe von Einschränkungen verbunden, was die Kommunikation von Häftlingen mit der Außenwelt einschließlich der Möglichkeit, Informationen zu erhalten, angeht. Art. 10 EMRK kann daher nicht derart ausgelegt werden, dass er [den Konventionsstaaten] eine generelle Verpflichtung auferlegt, Häftlingen den Zugang zum Internet oder zu spezifischen Webseiten zu ermöglichen. Da jedoch vom estnischen Recht ein Zugang zu gewissen Internetadressen, die rechtliche Informationen enthalten, gewährt wird, stellt die Einschränkung des Zugangs auf andere Internetseiten mit ebenfalls rechtlichem Gehalt einen Eingriff in das Recht auf den Erhalt von Informationen dar.

(46) Für den GH besteht kein Zweifel, dass die Einschränkung der Nutzung des Internets durch Häftlinge auf einer gesetzlichen Grundlage, nämlich den einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes, [...] beruhte. [...] Der strittige Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK.

(47) Er akzeptiert auch das Vorbringen der Regierung, wonach besagter Eingriff die Ziele des Schutzes der Rechte anderer, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhinderung von Straftaten verfolgte.

(48) Zur Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, brachte die Regierung vor, dass die Ermöglichung des Zugangs von Häftlingen zu einer größeren Anzahl von Internetseiten das Sicherheitsrisiko erhöht und zusätzliche Ressourcen zu dessen Bewältigung in Anspruch genommen hätte. [...]

(50) Der GH hält fest, dass die Webseiten des Informationszentrums des Europarates in Tallinn, des Justizministers und des Parlaments, auf die der Bf. Zugriff begehrte, überwiegend rechtliche Informationen und Informationen über Grundrechte, einschließlich der Rechte von Häftlingen, enthielten. Beispielsweise kann man auf der Webseite des Parlaments Gesetze mit erläuternden Bemerkungen und die Wortprotokolle der Parlamentssitzungen und der Ausschüsse abrufen, während die Homepage des Justizministers (der gleichzeitig estnischer Ombudsmann ist) ausgewählte rechtliche Stellungnahmen aufweist. Der GH ist der Ansicht, dass die Ermöglichung des Zugangs zu derartigen Informationen das öffentliche Bewusstsein und die Achtung der Menschenrechte fördert. Insofern ist das Vorbringen des Bf. von einem gewissen Gewicht, wonach selbst die estnischen Gerichte diese Informationen verwenden würden und er einen Zugang zu diesen zum Schutz seiner Rechte in einem anhängigen Gerichtsverfahren benötige. Der GH nimmt auch vom zusätzlichen Vorbringen des Bf. Notiz, demzufolge rechtliche Recherchen in der Form von »Durchstöbern« von verfügbaren Informationen (um relevante Dokumente ausfindig zu machen) und spezifische Anträge auf Übermittlung von Informationen zweierlei Dinge seien und dass die strittigen Webseiten mehr auf rechtliche Recherchen als auf die Stellung spezifischer Anfragen ausgerichtet seien. [...] Die Behörden haben in diesem Zusammenhang auf alternative Mittel der Erlangung der vom Bf. begehrten Informationen auf den genannten Internetseiten – und zwar über E-Mail – hingewiesen, ohne jedoch die Kosten dieser alternativen Mittel mit den zusätzlichen Kosten zu vergleichen, die ein ausgedehnter Internetzugang angeblich mit sich bringen würde.

(51) Der GH weist ferner darauf hin, dass laut den Regeln des Ministerkomitees [des Europarates] betreffend die Überwachung der Umsetzung der Urteile [des EGMR] bzw. der gütlichen Einigungen die Veröffentlichung der Urteile in der offiziellen Sprache des belangten Staats als ein Beispiel der Ergreifung von generellen Maßnahmen zur Urteilsumsetzung erwähnt wird. Zum Zeitpunkt, zu dem der Bf. die estnischen Gerichte anrief, waren aber Übersetzungen von Urteilen des EGMR ins Estnische bzw. Zusammenfassungen lediglich auf der Webseite des Informationszentrums des Europarates verfügbar, erst später wurden diese Informationen woanders, nämlich in der Online-Version der amtlichen Gesetzessammlung der Republik Estland, veröffentlicht.

(52) Der GH vermag nicht über die Tatsache hinwegzusehen, dass in einer Reihe von Instrumenten des Europarates und von internationalen Institutionen der besondere Nutzen des Internets für die Öffentlichkeit und seine Bedeutung für den Genuss der Menschenrechte anerkannt worden ist. Der Zugang zum Internet wird zunehmend als Recht verstanden und es gab bereits Aufrufe, effektive politische Strategien zu entwickeln, um universellen Zugang zum Internet zu erlangen und dadurch die »digitale Kluft« zu überwinden. Der GH ist der Überzeugung, dass diese Entwicklungen die bedeutende Rolle des Internets im alltäglichen Leben widerspiegeln. Zunehmend sind Dienstleistungen und Informationen nur mehr über das Internet erhältlich, wie auch die Tatsache zeigt, dass in Estland die Veröffentlichung von Gesetzen nur mehr über die Online-Version der amtlichen Gesetzessammlung und nicht mehr in Papierform stattfindet.

(53) Schließlich möchte der GH noch daran erinnern, dass gemäß dem estnischen Strafvollzugsgesetz Häftlinge eingeschränkten Zugang zum Internet über speziell zu diesem Zweck adaptierte Computer unter Überwachung der Gefängnisverwaltung haben. Die für die Nutzung des Internets durch Häftlinge notwendigen Arrangements wurden daher bereits getroffen und die damit einhergehenden Kosten von den Behörden getragen. Zwar sind die von Letzteren geäußerten Wirtschaftlichkeits- und Sicherheitsbedenken durchaus relevant, jedoch haben die nationalen Gerichte keine detaillierte Analyse hinsichtlich der angeblich auftretenden Sicherheitsrisiken im Fall der Gewährung des Zugangs zu den in Frage stehenden drei zusätzlichen Internetseiten vorgenommen – ungeachtet der Tatsache, dass es sich hierbei um Internetadressen von zwei Regierungsstellen und einer internationalen Organisation handelte. Der Oberste Gerichtshof wiederum beschränkte seine Analyse in diesem Punkt auf die eher allgemein gehaltene Aussage, wonach die Gewährung des Zugangs von Häftlingen zu zusätzlichen Webseiten das Risiko von verbotener Kommunikation erhöhen würde, dem man dann mit verstärkten Überwachungsmaßnahmen entgegentreten müsste. Sowohl der Oberste Gerichtshof als auch die Regierung haben es jedoch verabsäumt, überzeugend darzulegen, dass im Fall des Zugangs des Bf. zu drei zusätzlichen Internetseiten irgendwelche nennenswerten Mehrkosten anfallen würden. Unter diesen Umständen ist der GH nicht davon überzeugt, dass im vorliegenden Fall ausreichende Gründe vorgebracht wurden, welche den Eingriff in das Recht des Bf. auf den Erhalt von Informationen gerechtfertigt hätten.

(54) Der besagte Eingriff [...] war daher unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Kjølbro).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt bereits für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Kjølbro).

Vom GH zitierte Judikatur:

Leander/S v. 26.3.1987

Times Newspapers Ltd/GB (Nr. 1 und 2) v. 10.3.2009 = NL 2009, 84

Österreichische Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung/A v. 28.11.2013 = NLMR 2013, 433 = ÖJZ 2014, 326

Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.1.2016, Bsw. 17429/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 57) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/Kalda.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise