Bsw23279/14 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Bergmann gg. Deutschland, Urteil vom 7.1.2016, Bsw. 23279/14.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 7 Abs. 1 EMRK - Nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung wegen weiter bestehender Gefahr aufgrund psychischer Störung.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wurde zwischen 1966 und 1984 unter anderem wegen sexuellem Missbrauch, versuchter Vergewaltigung, Brandstiftung und der Strangulierung eines Kindes im Zuge eines Raubes fünf Mal verurteilt. Wegen seiner Alkoholisierung bei der Tatbegehung war er nicht schuldfähig. Er wurde zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren verurteilt.
Am 18.4.1986 verurteilte ihn das Landgericht Hannover wegen zweifachem versuchtem Mord in Tateinheit mit Vergewaltigung in einem Fall und wegen zweifacher schwerer Körperverletzung zu 15 Jahren Haft und ordnete nach § 66 Abs. 2 StGB seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Bf. wiederholt Frauen mit einem Messer verletzt hatte, um sich sexuelle Befriedigung zu verschaffen. In einem Fall hatte er zudem versucht, das Opfer zu vergewaltigen. Das Landgericht stellte nach Beiziehung zweier ärztlicher Gutachter fest, dass er sich bei der Tatbegehung in einem alkoholbedingten Zustand der verminderten Schuldfähigkeit befunden hatte. Beim Bf. war eine sexuelle Abweichung und eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden. Solange der Bf. keinen Alkohol trank, beeinflussten diese Abweichungen seine Schuldfähigkeit nicht, da er seine Aggressionen kontrollieren konnte. In Verbindung mit dem Konsum von Alkohol führten sie jedoch zu einer verminderten Schuldfähigkeit. Wie die Gutachter bestätigten, bestand ein hohes Risiko, dass der Bf. im Fall seiner Entlassung unter Alkoholeinfluss weitere Gewaltstraftaten begehen würde, weshalb er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Das Landgericht entschied, keine Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt anzuordnen, weil die Persönlichkeitsstörung des Bf. nach Ansicht der Gutachter nicht mehr behandelt werden konnte. Der öffentlichen Sicherheit wäre daher durch seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besser gedient.
Der Bf. verbüßte seine gesamte Freiheitsstrafe und wurde am 12.6.2001 in Sicherungsverwahrung untergebracht. Die Strafvollzugsgerichte entschieden in regelmäßigen Intervallen über deren Fortsetzung.
Am 26.7.2013 ordnete das Landgericht Lüneburg die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung des Bf. an. Das Gericht berücksichtigte, dass der Bf. in die Kategorie von Angehaltenen fiel, deren Sicherungsverwahrung rückwirkend verlängert wurde, da zur Zeit seiner letzten Straftat die erstmalige Unterbringung in Sicherungsverwahrung die Dauer von zehn Jahren nicht übersteigen durfte. Es erachtete diese jedoch als zulässig, weil die in § 316f Abs. 2 Einführungsgesetz zum StGB (EGStGB) normierten Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung gegeben waren, da er an einer psychischen Störung litt und nach wie vor eine hochgradige Gefahr bestünde, dass er schwerste sexuell motivierte Gewaltstraftaten begehen würde. Trotz der beinahe 30 Jahre dauernden Anhaltung wäre diese angesichts der beträchtlichen Gefahr für die Allgemeinheit weiterhin verhältnismäßig.
Der gegen diese Entscheidung erhobene Einspruch wurde am 2.9.2013 vom OLG Celle abgewiesen.
Das BVerfG nahm die Beschwerde des Bf. am 29.10.2013 ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung an.
Am 25.4.2014 und am 15.1.2015 wurde neuerlich die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung angeordnet.
Bis 20.2.2012 wurde der Bf. in dem für die Sicherungsverwahrung vorgesehenen Trakt der JVA Celle angehalten. Seit 2.6.2013 ist er im neuen Zentrum für Sicherungsverwahrung der JVA Rosdorf untergebracht. Dieses wurde errichtet, um den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Abstandsgebots zwischen Sicherungsverwahrung und Strafvollzug zu entsprechen, die das BVerfG in seinem Urteil vom 4.5.2011 formuliert hatte (Anm: BVerfG 4.5.2011, 2 BvR 2365/09 = BVerfGE 128, 326.).
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und von Art. 7 EMRK (Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen).
Zulässigkeit
(81, 137) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
(77) Der Bf. rügte, dass die gerichtliche Anordnung, mit der [...] seine Sicherungsverwahrung über die zur Zeit seiner Tatbegehung und Verurteilung geltende Höchstdauer von zehn Jahren hinaus verlängert wurde, sein Recht auf persönliche Freiheit verletzt hätte. [...]
Die anwendbaren Grundsätze
(96) [...] Einer Person kann ihre Freiheit nicht wegen einer psychischen Krankheit entzogen werden, solange nicht die drei folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: erstens muss [...] von einer zuständigen Behörde aufgrund objektiver ärztlicher Expertise eine echte psychische Krankheit festgestellt werden; zweitens muss die psychische Krankheit von einer Art oder Schwere sein, die eine zwangsweise Unterbringung verlangt; drittens hängt die Gültigkeit der fortgesetzten Unterbringung vom Fortbestehen einer solchen Störung ab.
(98) Bei der Entscheidung, ob eine Person als »psychisch krank« angehalten werden soll, muss den innerstaatlichen Behörden ein gewisses Ermessen zuerkannt werden, insbesondere hinsichtlich der Beurteilung klinischer Diagnosen [...]. Der relevante Zeitpunkt, zu dem verlässlich festgestellt werden muss, dass eine Person iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK psychisch krank ist, ist das Datum der Maßnahme, mit welcher der Person wegen dieses Zustands die Freiheit entzogen wird.
(99) Zudem muss ein gewisser Zusammenhang zwischen den geltend gemachten Gründen der zulässigen Freiheitsentziehung und dem Ort und den Bedingungen der Anhaltung bestehen. Die Anhaltung einer Person wegen einer psychischen Krankheit wird nur dann rechtmäßig iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK sein, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung stattfindet.
Anwendung der Grundsätze im vorliegenden Fall
Gründe für die Freiheitsentziehung
(103) Der GH ist aufgerufen zu entscheiden, ob die Sicherungsverwahrung des Bf. in der fraglichen Zeitspanne unter einer der Ziffern des Art. 5 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt war.
(104) Wie der GH zunächst feststellt, dauerte die Sicherungsverwahrung des Bf., die vom Landgericht Hannover 1986 gemeinsam mit seiner strafrechtlichen Verurteilung angeordnet worden war, auch nach Ablauf der zur Zeit der Tatbegehung und Verurteilung geltenden Höchstdauer von zehn Jahren (§ 67d Abs. 1 StGB in der damals geltenden Fassung) an. Angesichts seiner Feststellungen im Fall M./D kann die Sicherungsverwahrung des Bf. daher nach Ansicht des GH nicht nach Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt werden. Es handelte sich nicht länger um eine Freiheitsentziehung »nach Verurteilung« durch ein zuständiges Gericht, weil ein ausreichender kausaler Zusammenhang zwischen der 1986 erfolgten Verurteilung des Bf. und seiner fortgesetzten Freiheitsentziehung fehlte.
(105) Der GH muss daher prüfen, ob die Sicherungsverwahrung des Bf. [...] nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt war.
Freiheitsentziehung einer psychisch kranken/alkoholsüchtigen Person
(106) Der GH wird eingangs prüfen, ob die umstrittene Anhaltung des Bf. als Freiheitsentziehung einer »psychisch kranken« Person iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt werden konnte. Dies erfordert zunächst [...], dass zur Zeit der Anordnung der Fortsetzung seiner Sicherungsverwahrung [...] von einer zuständigen Behörde aufgrund objektiver ärztlicher Expertise eine wirkliche psychische Störung festgestellt wurde.
(107) [...] Das Landgericht Lüneburg und das OLG Celle bestätigten den Befund des Experten, wonach der Bf. an sexuellem Sadismus litt, und stellten fest, dass dies eine psychische Störung iSv. § 316f Abs. 2 2. Satz EGStGB und § 1 Abs. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter sei.
(108) [...] Die Strafvollzugsgerichte konnten die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung des Bf. nach dem neuen § 316f Abs. 2 EGStGB [...] nur dann anordnen, wenn sie feststellten, dass er an einer psychischen Störung litt. Diese Anforderung war eingeführt worden, nachdem das BVerfG in seinem Urteil vom 4.5.2011 strengere Standards für die Fortsetzung rückwirkend verlängerter Sicherungsverwahrung gesetzt hatte.
(109) Die innerstaatlichen Gerichte mussten daher nicht länger nur nach § 67d Abs. 3 StGB beurteilen, ob eine Gefahr bestand, dass die betroffene Person nach ihrer Entlassung aufgrund ihrer kriminellen Neigungen rückfällig würde, egal ob dies eine Folge ihres psychischen Zustands war. Sie waren verpflichtet festzustellen, dass der Angehaltene an einer psychischen Störung litt, aufgrund derer es sehr wahrscheinlich war, dass er schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen würde.
(110) Der GH ist daher davon überzeugt, dass die innerstaatlichen Gerichte im umstrittenen Verfahren zuständige Behörden waren, die feststellten, dass der Bf. an einer psychischen Störung litt, wie sie vom innerstaatlichen Recht definiert wurde. Die Schlussfolgerung der Gerichte beruhte auf einem von dem von ihnen beigezogenen externen Gutachter erstellten Bericht vom 8.6.2013 und damit auf objektiver ärztlicher Expertise.
(111) Es bleibt zu prüfen, ob die innerstaatlichen Gerichte auch feststellten, dass der Bf. »psychisch krank« war, also dass er iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK an einer wirklichen psychischen Störung litt. [...]
(113) Der GH erinnert daran, dass die Gründe für eine Freiheitsentziehung in Art. 5 Abs. 1 EMRK eng auszulegen sind. Damit eine psychische Störung als wirkliche psychische Krankheit iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK angesehen werden kann, muss sie so schwerwiegend sein, dass sie eine Behandlung im Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Institution erfordert. Der GH hat bereits in Glien/D festgestellt, dass der Begriff »psychisch kranke Person« in Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK enger sein könnte als der Begriff »psychische Störung« in § 1 Abs. 1 Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter.
(114) Im vorliegenden Fall war die psychische Störung, an welcher der Bf. den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte zufolge litt, ausreichend schwerwiegend, um eine wirkliche psychische Krankheit iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK darzustellen. Seine Sexualstörung (sexueller Sadismus) [...] erforderte sowohl medikamentöse Behandlung unter ärztlicher Aufsicht als auch Therapie. Seine Störung war in Kombination mit Alkoholkonsum als so schwerwiegend angesehen worden, dass sie bei der Begehung seiner Straftaten seine strafrechtliche Schuld vermindert hatte. [...]
(115) Der GH ist weiters davon überzeugt, dass [...] die psychische Störung des Bf. von einer Art oder Schwere war, die eine zwangsweise Unterbringung erforderte. Die innerstaatlichen Gerichte stellten fest, dass ein sehr hohes Risiko bestand, dass er im Fall seiner Entlassung schwerste sexuell motivierte Gewaltstraftaten begehen würde, ähnlich jenen wegen derer er verurteilt worden war [...]. Außerdem war die Gültigkeit der fortgesetzten Verwahrung des Bf. vom Fortbestehen seiner psychischen Störung abhängig. Gemäß § 316f EGStGB konnte die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung nur angeordnet werden, wenn und solange eine hochgradige Gefahr bestand, dass er im Fall seiner Entlassung aufgrund dieser Störung rückfällig würde.
(116) Daraus folgt, dass der Bf. eine »psychisch kranke« Person iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK war.
(117) Angesichts dieser Feststellung kann der GH offenlassen, ob der Bf. [...] auch in die Kategorie der »Alkoholsüchtigen« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK fällt.
Geeignete Institution für einen psychisch kranken Patienten
(119) Wie der GH feststellt, wurde der Bf. während der von dem umstrittenen Verfahren umfassten Zeitspanne, also von 26.7.2013 bis 25.4.2014, im neu errichteten Zentrum für Sicherungsverwahrung, einem separaten Gebäude auf dem Gelände der JVA Rosdorf, angehalten.
(120) Die Situation des Bf. unterscheidet sich daher von jener einer Reihe von Bf., die nach dem Urteil des GH im Fall M./D weiterhin als psychisch kranke Personen in verschiedenen Gefängnissen in gesonderten Trakten für Personen in Sicherungsverwahrung angehalten wurden. Der GH stellte wiederholt fest, dass diese Bf. nicht in für die Verwahrung psychisch kranker Patienten geeigneten Einrichtungen angehalten wurden.
(121) Das Zentrum für Sicherungsverwahrung Rosdorf wurde in Folge des Leiturteils des BVerfG vom 4.5.2011 errichtet, um diesem zu entsprechen. In diesem Urteil, das nach dem Urteil des GH vom 17.12.2009 im Fall M./D zur rückwirkend verlängerten Sicherungsverwahrung ergangen ist, erklärte das BVerfG alle Bestimmungen des StGB über die Anordnung und die Dauer von Sicherungsverwahrung für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht von Personen in Sicherungsverwahrung. Das BVerfG stellte fest, dass diese Bestimmungen nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot des deutlichen Abstands zwischen Sicherungsverwahrung und Strafvollzug entsprachen. [...]
(122) Angesichts dieses Gebots verabschiedete der Gesetzgeber neue Bestimmungen über die Durchführung von Sicherungsverwahrung auf Bundesebene im Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, das am 1.6.2013 in Kraft trat. Insbesondere sieht § 66c StGB nun vor, dass die Sicherungsverwahrung in Einrichtungen durchgeführt werden muss, die dem Untergebrachten individuelle und intensive Betreuung bieten. [...] Um diesen Voraussetzungen in der Praxis entsprechen zu können und die Unterbringung von Personen in Sicherungsverwahrung an diese anzupassen, wurden in einer Reihe von Gefängnissen in Deutschland substantielle Bauarbeiten durchgeführt.
(123) In Hinblick auf diese Entwicklungen begrüßt der GH die umfangreichen Maßnahmen, die im belangten Staat auf gerichtlicher, legislativer und exekutiver Ebene ergriffen wurden, um die Sicherungsverwahrung an die Anforderungen und insbesondere an das Freiheitsgrundrecht anzupassen.
(124) Um festzustellen, ob der Ort der Anhaltung des Bf. als für einen psychisch kranken Patienten passend angesehen werden kann, muss der GH die besonderen Anhaltebedingungen im Zentrum für Sicherungsverwahrung Rosdorf beurteilen. [...]
(125) Was die Personalsituation [...] betrifft, stellt der GH fest, dass das Gefängnispersonal [...] für damals insgesamt 30 Angehaltene einen Psychiater, vier Psychologen, fünf Sozialarbeiter und 25 Mitglieder des allgemeinen Gefängnisdienstes umfasste. Er ist der Ansicht, dass diese Personalsituation, die jener in einem psychiatrischen Krankenhaus im selben Bundesland ähnelt, die Behörden in die Lage versetzte, die psychische Störung des Bf. zu behandeln.
(126) Zur spezifischen Behandlung, die dem Bf. angeboten wurde, stellt der GH fest, dass das Landgericht es der wiederholten Feststellung des Experten W. entsprechend für wesentlich ansah, dass dem Bf. eine Behandlung zur Reduktion seiner sadistischen Phantasien und seiner Libido – und damit seiner Gefährlichkeit – angeboten wurde. Dementsprechend wies das Gericht [...] die Leitung des Zentrums für Sicherungsverwahrung Rosdorf an, dem Bf. binnen drei Monaten eine solche Therapie anzubieten. Wie [...] dokumentiert wurde, war dem Bf. wiederholt eine solche Behandlung angeboten worden. Er hatte diese jedoch wegen der von ihm befürchteten Nebenwirkungen abgelehnt. Außerdem lehnte er wiederholte Angebote ab, sich an Gruppensitzungen des Behandlungsprogramms für Straftäter zu beteiligen.
(127) Wie der GH weiters feststellt, geht aus dem Vollzugsplan des Zentrums Rosdorf hervor, dass der Bf. zwischen Juli 2013 und August 2014 erfolgreich motiviert wurde, an einer Gruppentherapie zur Prävention erneuten exzessiven Alkoholkonsums teilzunehmen. Es wurde ihm auch einige Male begleiteter Freigang gewährt. [...]
(128) [...] Der GH stellt fest, dass es nach der Verlegung des Bf. in das Zentrum für Sicherungsverwahrung Rosdorf zu einer substantiellen Änderung der ihm angebotenen medizinischen und therapeutischen Behandlung gekommen ist. Dem Bf. wurde nach Ansicht des GH jenes therapeutische Umfeld geboten, das für eine wegen einer psychischen Krankheit angehaltene Person angemessen ist. Er wurde daher in einer für die Unterbringung solcher Patienten passenden Einrichtung angehalten.
»Rechtmäßige« Freiheitsentziehung »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise«
(129) Der GH [...] ist überzeugt, dass die Anordnung der fortgesetzten Sicherungsverwahrung des Bf., die nach § 67d StGB iVm. § 316 Abs. 2 EGStGB erfolgte, den materiellen und prozessualen Regeln des innerstaatlichen Rechts entsprach.
(130) Freiheitsentziehung muss allerdings auch dem Zweck von Art. 5 Abs. 1 EMRK entsprechen, der darin besteht zu verhindern, dass eine Person willkürlich der Freiheit beraubt wird. In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass der Bf. zu dem Zeitpunkt, zu dem die innerstaatlichen Gerichte die Fortsetzung seiner Sicherungsverwahrung wegen seiner Gefährlichkeit anordneten, 69 Jahre alt war und bereits mehr als 27 Jahre lang angehalten wurde.
(131) Wie der GH jedoch bemerkt, behandelten die innerstaatlichen Gerichte ausdrücklich die Frage, ob der Bf. angesichts seines fortgeschrittenen Alters noch immer wegen seiner Sexualstörung als Gefahr für die Allgemeinheit angesehen werden konnte. Die Feststellungen des beigezogenen Experten für Psychiatrie beachtend stellten sie fest, dass der sexuelle Sadismus des Bf. sich in Folge des Alters noch nicht erheblich gemindert hatte. Außerdem berücksichtigten die innerstaatlichen Gerichte, dass der Bf. bereits beinahe 30 Jahre lang angehalten wurde. Sie stellten jedoch fest, dass eine sehr hohe Gefahr bestand, dass er im Fall seiner Entlassung versuchen würde, weitere Sexual- und Gewaltstraftaten zu begehen. Angesichts der erheblichen Gefahr, die der Bf. für die Allgemeinheit darstellte, erachteten sie die Fortsetzung seiner Anhaltung als verhältnismäßig. [...]
(132) Angesichts dieser Argumente, die er als sachdienlich erachtet, ist der GH davon überzeugt, dass die Sicherungsverwahrung des Bf. nicht willkürlich war. Sie war daher iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK »rechtmäßig« und erfolgte »auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise«.
Schlussfolgerung
(133) [...] Der GH gelangt zu dem Schluss, dass die umstrittene Sicherungsverwahrung des Bf. nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt war [...].
(134) Es hat folglich keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK
(135) Der Bf. behauptete weiters, dass die rückwirkende Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung über die frühere Höchstdauer von zehn Jahren hinaus das Verbot der rückwirkenden Strafe nach Art. 7 EMRK verletzt hätte. [...]
War die Maßnahme »schwerer« als die zur Zeit der Tatbegehung angedrohte?
(152) Die innerstaatlichen Gerichte ordneten die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung des Bf. über die Dauer von zehn Jahren hinaus an. Der Bf. beging die Straftaten, in Bezug auf welche die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, [...] zwischen 7.7. und 3.10.1985. Zu dieser Zeit bedeutete eine erstmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung [...], dass der Bf. höchstens zehn Jahre lang in Sicherungsverwahrung angehalten werden konnte. Gestützt auf die 1998 erfolgte Änderung von § 67d StGB iVm. § 1a Abs. 3 EGStGB, die die Höchstdauer mit sofortiger Wirkung beseitigte, und § 316f Abs. 2 2. Satz EGStGB ordneten die Strafvollzugsgerichte im umstrittenen Verfahren die fortgesetzte Sicherungsverwahrung des Bf. über die Zehnjahresfrist hinaus an. Die Sicherungsverwahrung des Bf. wurde somit – wie jene des Bf. im Fall M./D – aufgrund eines nach der Tatbegehung durch den Bf. erlassenen Gesetzes rückwirkend verlängert.
War die Maßnahme eine »Strafe«?
(153) [...] Der GH bemerkt, dass er im Fall M./D zu dem Schluss gelangte, dass eine nach dem deutschen StGB in der zur relevanten Zeit geltenden Fassung angeordnete und durchgeführte Sicherungsverwahrung als »Strafe« zu qualifizieren sei. Im Fall Glien/D stellte er fest, dass die Sicherungsverwahrung des Bf., wie sie in der Übergangszeit nach dem Urteil des BVerfG vom 4.5.2011, aber vor Inkrafttreten des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung am 1.6.2013 vollstreckt wurde, noch immer eine »Strafe« iSv. Art. 7 Abs. 1 EMRK darstellte. Er stellte fest, dass es bei der Durchführung der Sicherungsverwahrung des Bf. zu keinen wesentlichen Änderungen im Vergleich zur in M./D behandelten Situation gekommen war.
(154) Der GH nimmt das Argument der Regierung zur Kenntnis, die Sicherungsverwahrung des Bf. würde angesichts der wesentlichen Änderungen ihrer rechtlichen Form und ihrer praktischen Durchführung nicht länger eine Strafe iSv. Art. 7 Abs. 1 EMRK darstellen, zumindest nicht in der Zeitspanne ab Juni 2013. Dies wurde vom Bf. bestritten [...].
Infolge einer Verurteilung wegen einer Straftat verhängte Maßnahme
(155) [...] Ausgangspunkt und ein sehr gewichtiger Faktor bei der Einschätzung des Vorliegens einer Strafe ist die Frage, ob die umstrittene Maßnahme in Folge einer Verurteilung wegen einer strafbaren Handlung verhängt wurde.
(156) Die Sicherungsverwahrung des Bf. wurde ursprünglich vom Landgericht Hannover in seinem Urteil vom 18.4.1986 gemäß § 66 Abs. 2 StGB gemeinsam mit seiner Verurteilung wegen mehrerer Straftaten, einschließlich versuchtem Mord in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung, angeordnet. Nach der genannten Bestimmung konnte eine Sicherungsverwahrung vom verurteilenden Gericht nur gegen jemanden angeordnet werden, der wie der Bf. zu mindestens drei Jahren Haft wegen mindestens drei Vorsatzdelikten verurteilt wurde.
(157) Der Bf. blieb weiterhin aufgrund ihrer Anordnung im Urteil des Landgerichts Hannover von 1986 in Sicherungsverwahrung. Die zusätzlichen Voraussetzungen gemäß § 316f Abs. 2 2. Satz EGStGB für eine Verlängerung der umstrittenen Sicherungsverwahrung des Bf. ändern nichts an der Tatsache, dass es die ursprüngliche, 1986 erfolgte Anordnung war, die wiederholt verlängert wurde, wenn auch unter zusätzlichen restriktiven Voraussetzungen.
(159) Der GH stellt daher fest, dass die Sicherungsverwahrung des Bf. infolge seiner Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet wurde. Seine Situation unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von jener, die in den Fällen M./D und Glien/D zu beurteilen war.
Charakterisierung der Maßnahme im innerstaatlichen Recht
(161) Was die Charakterisierung der Sicherungsverwahrung im innerstaatlichen Recht betrifft, stellt der GH fest, dass eine solche Unterbringung in Deutschland nicht als Strafe angesehen wird oder je angesehen wurde, auf die das verfassungsrechtliche absolute Verbot rückwirkender Bestrafung anwendbar ist. In seinem Leiturteil vom 4.5.2011 bestätigte das BVerfG einmal mehr, dass Sicherungsverwahrung – entgegen den Feststellungen des GH zu Art. 7 EMRK – keine Strafe im Sinne des grundgesetzlichen absoluten Verbots der rückwirkenden Anwendung von Strafrecht ist. Es stellte jedoch weiters fest, dass die früheren Bestimmungen des StGB über die Durchführung und Dauer der Sicherungsverwahrung nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Differenzierung zwischen rein präventiven Maßnahmen [...], wie der Sicherungsverwahrung, und [...] Freiheitsstrafen entsprachen. Das BVerfG trug daher dem Gesetzgeber auf, die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung im StGB zu ändern, damit sie diesen Abstand widerspiegeln.
(162) Diesem Gebot entsprechend dienen die Änderungen des StGB durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung dazu, die Unterschiede zwischen der Vollstreckung von Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafen klarzustellen und auszuweiten. [...]
(163) In diesem Zusammenhang stimmt der GH der Feststellung des BVerfG zu, dass eine schematische Harmonisierung der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Begriffs »Strafe« mit jenem nach der Konvention nicht zwingend sei, wenn in der Sache den Mindeststandards der Konvention entsprochen wird. Wie er in seiner Rechtsprechung dargelegt hat, muss der GH seinerseits den Begriff »Strafe« in Art. 7 Abs. 1 EMRK autonom auslegen [...].
Charakter der Maßnahme
(164) Der GH [...] stellt zunächst fest [...], dass Sicherungsverwahrung wie eine Freiheitsstrafe einen Entzug der Freiheit mit sich bringt. Anders als in den Fällen M./D und Glien/D wurde die Sicherungsverwahrung des Bf. jedoch nicht in einem besonderen Trakt eines gewöhnlichen Gefängnisses durchgeführt. [...]
(165) Bei der Entscheidung darüber, ob [...] substantielle Unterschiede zwischen der Art der Durchführung der Sicherungsverwahrung des Bf. und einer Freiheitsstrafe bestanden, stellt der GH fest, dass Sicherungsverwahrung heute von besonderen Vorschriften geregelt ist, die insbesondere in § 66c StGB und dem Niedersächsischen Gesetz über die Sicherungsverwahrung enthalten sind. Dem verfassungsgesetzlichen Abstandsgebot zwischen Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe entsprechend wird Sicherungsverwahrung jetzt in einem eigenen Gebäude auf dem Gelände der JVA Rosdorf durchgeführt.
(166) Die materiellen Bedingungen für in diesem Zentrum in Sicherungsverwahrung Untergebrachte sind viel besser als jene von Gefangenen, die eine Freiheitsstrafe verbüßen. [...] Erhebliche Mittel wurden verfügbar gemacht, um Untergebrachten in Sicherungsverwahrung individuelle und intensive psychiatrische, psychotherapeutische und sozialpädagogische Behandlung zu gewähren, die das Risiko herabsetzen soll, das sie für die Allgemeinheit darstellen [...]. Auch wenn Sicherungsverwahrung weiterhin eine staatliche Reaktion auf eine Straftat bleibt, die der betroffenen Person die Freiheit entzieht, ist der GH davon überzeugt, dass sich die Art und Weise der Vollstreckung der Maßnahme erheblich geändert hat.
(167) Nach Ansicht des GH sind die Änderungen des Charakters der Sicherungsverwahrung für Personen, die wie der Bf. als psychisch kranke Patienten angehalten werden, fundamental. Der GH hält es für besonders wichtig, dass nach § 316f Abs. 2 2. Satz EGStGB eine neue zusätzliche Voraussetzung erfüllt sein muss, wenn die Sicherungsverwahrung einer Person rückwirkend verlängert werden soll. Danach muss festgestellt werden, dass die betroffene Person an einer psychischen Störung leidet. Dieses Element war nach dem innerstaatlichen Recht für das Gericht, das 1986 die Sicherungsverwahrung anordnete, nicht relevant und es ändert den Charakter der Freiheitsentziehung der betroffenen Person. Trotz der Tatsache, dass die Verbindung zwischen der Maßnahme und den Straftaten, wegen derer sie angeordnet worden war, nicht völlig gelöst ist, liegt der Fokus der Maßnahme nun auf der medizinischen und therapeutischen Behandlung der betroffenen Person.
(169) Dem neuen Konzept der Sicherungsverwahrung entsprechend [...] wurde dem Bf. [...] eine Behandlung seiner psychischen Störung angeboten, die er zum Teil annahm. [...] Es gab somit nach der Verlegung des Bf. in das Zentrum Rosdorf eine wesentliche Änderung bei der ihm angebotenen medizinischen und therapeutischen Behandlung. Der Charakter der Sicherungsverwahrung änderte sich somit im Fall des Bf., dessen Sicherungsverwahrung verlängert wurde, weil er wegen seiner psychischen Störung als hochgradige Gefahr für die Allgemeinheit angesehen wurde.
Zweck der Maßnahme
(170) [...] In den Fällen M./D und Glien/D konnte der GH dem Argument der Regierung nicht folgen, dass Sicherungsverwahrung in ihrer rechtlichen Form und praktischen Umsetzung zur damaligen Zeit einem rein präventiven und keinem strafenden Zweck diente. [...]
(174) Wie vom BVerfG [...] gefordert, wurden die präventiven und therapeutischen Aspekte der Sicherungsverwahrung vom Gesetzgeber weiterentwickelt und gestärkt. Dem § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Vollzuges der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in Niedersachsen entsprechend wurden Zentren für Sicherungsverwahrung errichtet, in denen Angehaltenen eine Reihe spezifischer Maßnahmen angeboten werden, um sie dabei zu unterstützen, ihre Gefährlichkeit in einem solchen Ausmaß zu reduzieren, dass sie entlassen werden können. [...]
(175) Der GH ist sich dennoch der Tatsache bewusst, dass Sicherungsverwahrung nur angeordnet werden kann, wenn die betroffene Person wegen einiger Vorsatzdelikte von gewisser Schwere verurteilt wurde. Wenn ein Gericht Sicherungsverwahrung zusammen mit einer Strafe für ein Delikt anordnet, kann dies von der betroffenen Person durchaus als zusätzliche Bestrafung verstanden werden. Sie umfasst eindeutig auch ein abschreckendes Element, das nicht von den zusätzlichen Behandlungsmaßnahmen unter besseren materiellen Haftbedingungen in den Schatten gestellt wird. Freiheitsstrafen und Sicherungsverwahrung dienen gleichermaßen dem Zweck, Gefangenen zu erlauben, die Fähigkeit zu erlangen, ein gesellschaftlich verantwortliches Leben zu führen, ohne Straftaten zu begehen.
(176) [...] Im Gegensatz zur Situation, die herrschte, als die Sicherungsverwahrung des Bf. angeordnet wurde, und im Gegensatz zur Situation von Personen, deren Sicherungsverwahrung nicht rückwirkend verlängert (oder angeordnet) wurde, war es eine neue Voraussetzung für die Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Bf., dass festgestellt wurde, dass er an einer psychischen Störung litt. Der von der geänderten Gesetzgebung [...] verfolgte präventive Zweck bekommt unter diesen Umständen entscheidendes Gewicht. Die Sicherungsverwahrung des Bf. konnte nur wegen seiner aus seiner psychischen Störung resultierenden Gefährlichkeit angeordnet werden. Diese psychische Störung war keine Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das verurteilende Gericht und ist somit ein neues, zusätzliches Element, das von der ursprünglich verhängten Sanktion unabhängig ist und den Charakter seiner Unterbringung zum Zweck der medizinischen Behandlung eindeutig kennzeichnet. [...] Der auf die medizinische Behandlung des Bf. zur Reduktion seiner Gefährlichkeit gerichtete Fokus unterscheidet seine Situation [...] von jener von in Sicherungsverwahrung Angehaltenen, denen eine Behandlung angeboten wird, die – in einer weniger umfangreichen Form – auch gewöhnlichen Gefangenen angeboten wird, die eine Freiheitsstrafe verbüßen.
Verfahren zur Anordnung und Umsetzung der Maßnahme
(178) [...] Wie in den Fällen M./D und Glien/D wurde die Sicherungsverwahrung des Bf. von den verurteilenden (Straf)gerichten angeordnet. Über ihre Durchführung wurde in einem gesonderten Verfahren von den Strafvollzugsgerichten entschieden. [...] Diese sind besonders erfahren in der Einschätzung der Notwendigkeit, psychisch kranke Patienten zu verwahren, da sie auch mit Entscheidungen über die Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern nach § 63 StGB betraut sind.
Schwere der Maßnahme
(179) [...] Die Maßnahme umfasste noch immer eine Freiheitsentziehung, die nach den Gesetzesänderungen 1998 keine Höchstdauer mehr hatte. Die Freilassung des Bf. war nicht einfach nach einer bestimmten Zeit anzuordnen. Es muss allerdings festgestellt werden, dass es anders als bei Freiheitsstrafen auch keine Mindestdauer der Anhaltung gab. Die Dauer der Freiheitsentziehung hing damit in erheblichem Ausmaß von der Kooperation des Bf. ab. [...] Seine Entlassung war jedoch weiterhin Gegenstand einer gerichtlichen Feststellung, dass es nicht länger sehr wahrscheinlich war, dass er wegen seiner psychischen Störung wieder schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begehen würde.
(180) Die letztgenannten Anforderungen [...] sind strenger als jene, die im Fall M./D behandelt wurden. Sicherungsverwahrung bleibt jedoch weiterhin eine der schwersten Maßnahmen, die nach dem StGB verhängt werden können. In diesem Zusammenhang wird festgestellt, dass der Bf. bereits mehr als zwölf Jahre in Sicherungsverwahrung war, nachdem er zuvor seine 15-jährige Freiheitsstrafe verbüßt hatte.
Schlussfolgerung
(181) Der GH [...] ist der Ansicht, dass die dem neuen rechtlichen Rahmen entsprechend durchgeführte Sicherungsverwahrung in der Regel noch immer eine »Strafe« iSv. Art. 7 EMRK darstellt. Der stärker präventive Charakter und Zweck der geänderten Form der Sicherungsverwahrung reichen nicht aus, um die Tatsache in den Schatten zu stellen, dass die eine zeitlich unbeschränkte Freiheitsentziehung umfassende Maßnahme infolge einer Verurteilung wegen einer Straftat verhängt wurde und noch immer von Gerichten beschlossen wird, die zum Strafgerichtssystem gehören.
(182) In Fällen wie jenem des Bf., wo Sicherungsverwahrung wegen einer psychischen Störung und der Notwendigkeit ihrer Behandlung verlängert wird, akzeptiert der GH jedoch, dass sich sowohl der Charakter als auch der Zweck seiner Sicherungsverwahrung substantiell gewandelt haben und das strafende Element und die Verbindung mit seiner strafrechtlichen Verurteilung in einem solchen Ausmaß in den Schatten gestellt werden, dass die Maßnahme nicht länger als Strafe iSv. Art. 7 EMRK zu qualifizieren ist.
(183) Dementsprechend hat keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Winterwerp/NL v. 24.10.1979 = EuGRZ 1979, 650
M./D v. 17.12.2009 = NL 2009, 371 = EuGRZ 2010, 25
Kallweit/D v. 13.11.2011 = EuGRZ 2011, 255
O. H./D v. 24.11.2011 = NLMR 2011, 360
Stanev/BG v. 27.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23
B./D v. 19.4.2012 = EuGRZ 2012, 383
Del Rio Prada/E v. 21.10.2013 (GK) = NLMR 2013, 358
Glien/D v. 28.11.2013 = NLMR 2013, 436
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 07.1.2016, Bsw. 23279/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 30) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/Bergmann.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.