JudikaturAUSL EGMR

Bsw6232/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. Dezember 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Mäder gg. die Schweiz, Urteil vom 8.12.2015, Bsw. 6232/09.

Spruch

Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Überlange Dauer der Prüfung des Antrags eines Mannes auf Entlassung aus der Psychiatrie.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde am 2.4.2008 durch Entscheidung der Vormundschaftsbehörde Kreuzlingen unter dem Titel der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (Anm: Darunter versteht man die Einweisung einer psychisch beeinträchtigten oder an einer Sucht leidenden Person in eine Anstalt gegen ihren Willen. Der Begriff wurde 2013 durch jenen der »fürsorgerischen Unterbringung« abgelöst.) in die psychiatrische Klinik von Münsterlingen eingewiesen.

Der Bf. strengte gegen diese Entscheidung ein gerichtliches Verfahren und ein Verwaltungsverfahren an.

Das gerichtliche Verfahren über die Aufhebung der psychiatrischen Einweisung

Am 13.5.2008 beantragte der Bf. bei der Vormundschaftsbehörde, seine psychiatrische Einweisung aufzuheben. Noch vor deren Entscheidung beantragte der Bf. mit Antrag an das Vize-Gerichtspräsidium des BG Kreuzlingen seine sofortige Entlassung. Das BG wies den Antrag am 28.5.2008 ab, da zuerst die Vormundschaftsbehörde zu entscheiden hätte. Der Bf. berief dagegen an das Obergericht des Kantons Thurgau.

Am 5.6.2008 ordnete die Vormundschaftsbehörde die Entlassung des Bf. unter der Voraussetzung an, dass sich dieser zur Einhaltung gewisser Bedingungen verpflichtete. Der Bf. behauptet, dennoch gegen seinen Willen in der Klinik interniert geblieben zu sein.

Mit Entscheidung vom 9.6.2008 wies das Obergericht das Rechtsmittel des Bf. zurück. Man könne sich mangels Rechtsgrundlage im kantonalen Recht nicht direkt mit einem Antrag auf Freilassung an die Justiz wenden, wenn die nach Bundesrecht zuständige Vormundschaftsbehörde die Entscheidung verzögere. Die Gerichte könnten lediglich über eine Entscheidung zur Einweisung oder zur Verweigerung der Entlassung absprechen. Der Bf. müsse daher zunächst eine solche Entscheidung der Vormundschaftsbehörde erlangen und bei Verzögerung oder Nichtreaktion derselben eine Disziplinarbeschwerde an die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde richten, gegenständlich das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau. Erst dann könnte der Bf. die Gerichte anrufen.

Der Bf. berief an das Bundesgericht und rügte dabei unter anderem eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK. Mit Urteil vom 7.7.2008 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab. Es stützte sich dabei im Wesentlichen auf dieselben Gründe wie die kantonalen Gerichte. Das Verfahren und die Auslegung von § 59 des Einführungsgesetzes von Thurgau zum Schweizerischen ZGB betreffend die Entscheidung über die Entlassung stünden mit dem Schweizer Bundesrecht in Einklang. Die Rüge unter Art. 5 Abs. 4 EMRK wurde nicht explizit erwähnt.

Das Verwaltungsverfahren zur Aufhebung des Entzugs der Handlungsfähigkeit und zur Aufhebung der psychiatrischen Einweisung

Am 29.5.2008 entzog die Vormundschaftsbehörde dem Bf. vorläufig die Handlungsfähigkeit und bestellte für ihn einen Vormund. Der Bf. erhob dagegen am 11.6.2008 eine Beschwerde an das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau als vormundschaftliche Aufsichtsbehörde. Er ersuchte auch um seine sofortige Freilassung.

Mit Brief vom 12.6.2008 ersuchte das Departement die Vormundschaftsbehörde um ihre Stellungnahme. Diese reagierte nicht, weshalb das Departement am 10.9.2008 erneut anfragte.

Mit Entscheidung vom 29.9.2008 hob die Aufsichtsbehörde die vorläufige Entziehung der Handlungsfähigkeit des Bf. auf und wandelte sie in eine Vertretungs- und Verwaltungsbeistandschaft (das bedeutet etwa Vertretung nur im Rahmen der dem Beistand oder der Beiständin übertragenen Aufgabenbereiche) um. Sie hob auch die Bedingungen für die Entlassung des Bf. auf, womit dieser freigelassen wurde.

Der Leiter des Departements erklärte das Rechtsmittel des Bf. am 1.10.2008 mit Rücksicht auf die Entscheidung der Aufsichtsbehörde für gegenstandslos.

Der Bf. berief gegen diese Entscheidung an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und beantragte, die Entscheidung des Departement für nichtig zu erklären und eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK und des nationalen Rechts festzustellen.

Das Verwaltungsgericht wies das Rechtsmittel am 25.3.2009 zurück. Dagegen richtete der Bf. eine Beschwerde an das Bundesgericht, die von diesem am 6.8.2009 zurückgewiesen wurde. Der Bf. habe weder ein aktuelles Interesse (da ihm die Freiheit nicht mehr entzogen war) noch ein potenzielles Interesse am Verfahren.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet insbesondere eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Haftprüfung) durch die Verpflichtung, eine Entscheidung der Vormundschaftsbehörde einzuholen, um die Gerichte anrufen zu können. Dadurch sei nicht innerhalb kurzer Frist über seine Freiheitsentziehung vom 2.4.2008 bis zum 29.9.2008 entschieden worden. Auch hätte das Verfahren über seinen Antrag auf Entlassung zu lange gedauert und wäre ihm kein wirksames Verfahren zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung zur Verfügung gestanden. Daneben rügt er unter anderem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), weil er betreffend seinen Antrag auf Entlassung keine begründete Entscheidung erhalten habe.

Zur Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

Im Hinblick auf die Verfahrensdauer

(45) Der Bf. behauptet, dass die Dauer des Verfahrens über seinen Antrag auf Entlassung übermäßig gewesen sei, insbesondere aufgrund der von der Vormundschaftsbehörde für die Behandlung seines Antrags benötigten Zeit.

(46) Die Regierung [...] macht geltend, dass eine Amtshaftungsklage nach Art. 429a ZGB dem Bf. die Möglichkeit bieten hätte können, Wiedergutmachung für die seinen Rügen unter Art. 5 Abs. 4 EMRK zugrundeliegenden Nachteile zu erlangen. [...]

(48) Der GH hat in der Zulässigkeitsentscheidung A. B./CH bereits befunden, dass der fragliche Rechtsbehelf zu jenen Rechtsmitteln gehörte, die gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK erschöpft werden mussten. Er sieht im vorliegenden Fall keinen Grund dafür, von dieser Schlussfolgerung abzugehen. Nun geht aber aus der Akte hervor, dass der Bf. den genannten Rechtsbehelf zu keinem Zeitpunkt eingelegt hat [...]. Daraus folgt, dass die Einrede der Regierung aufrechterhalten und diese Rüge [...] wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs [als unzulässig] zurückgewiesen werden muss (einstimmig).

Im Hinblick auf die Verpflichtung, sich an die Vormundschaftsbehörde zu wenden

(49) Der Bf. rügt zudem, dass keines der ihm zur Verfügung stehenden Verfahren es ihm erlaubte, eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung zu erhalten. [...]

(53) [...] Die ordentlichen Gerichte hätten sich ohne das Vorliegen einer Entscheidung der Vormundschaftsbehörde für unzuständig erklärt, und die Verwaltungsgerichte hätten den Rechtsbehelf des Bf. für unzulässig befunden, da seine Freiheitsentziehung bereits beendet worden war. Eine solche Verfahrensorganisation hätte es dem Bf. unmöglich gemacht, eine Entscheidung über den Einklang seiner Freiheitsentziehung mit Art. 5 Abs. 4 EMRK zu erhalten.

(54) Im Hinblick auf die Möglichkeit, eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Bf. durch die Verwaltungsgerichte zu erhalten, verweist der GH auf seine Schlussfolgerung betreffend die Amtshaftungsklage. Er befindet daher, dass die Einrede der Regierung aufrechterhalten und dieser Teil der Beschwerde [...] wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs [als unzulässig] zurückgewiesen werden muss (einstimmig).

(55) Was die Rüge betreffend die Verpflichtung angeht, eine Entscheidung der Vormundschaftsbehörde einzuholen, bevor man die Gerichte anrufen kann, befindet der GH, dass die Einrede der Nichterschöpfung des Instanzenzugs in einem engen Zusammenhang mit dem Inhalt der Beschwerde steht. Deshalb verbindet er sie mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK

(57) Der GH hält fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

(61) Der GH erinnert daran, dass die Konvention die Möglichkeit grundsätzlich nicht ausschließt, dass ein Entlassungsantrag zuerst an eine Verwaltungsbehörde gerichtet wird, sofern dieser Antrag in der Folge von einem Tribunal iSd. Art. 5 Abs. 4 EMRK geprüft werden kann.

(62) Im vorliegenden Fall konnte gegen die Entscheidung der Vormundschaftsbehörde oder gegebenenfalls der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde ein Rechtsbehelf vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau eingelegt werden. Zwischen den Parteien ist nun aber nicht strittig, dass das Verwaltungsgericht den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK entspricht.

(63) Doch bemerkt der GH, dass der Bf. am 11.6.2008 das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau angerufen hat. Dieses lud die Vormundschaftsbehörde zweimal, am 12.6. und am 10.9.2008 ein, Stellungnahmen abzugeben. Angesichts des Schweigens dieser entschied das Departement schließlich am 1.10.2008. Unter Kenntnisnahme der Aufhebung der Bedingungen für die Entlassung des Bf., zu der es am 29.9.2008 gekommen war, erklärte das Departement das Rechtsmittel für gegenstandslos. Daher erhielt der Bf. erst beinahe fünf Monate nach seinem ersten Antrag auf Entlassung eine Entscheidung, die es ihm erlaubte, sich an ein Tribunal zu wenden.

(64) Was die Möglichkeit des Bf. betrifft, einen Rechtsbehelf einzulegen, wie er in Art. 429a ZGB vorgesehen ist, so ist dieser Rechtsbehelf, auch wenn er eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung ermöglicht, nur zur Wiedergutmachung bestimmt und erlaubt es daher insbesondere nicht, die Entlassung anzuordnen.

(65) Der GH erinnert nun aber daran, dass Art. 5 Abs. 4 EMRK so wie jede andere Bestimmung der Konvention und ihrer Protokolle so ausgelegt werden muss, dass die dort verankerten Rechte nicht theoretisch und illusorisch, sondern konkret und effektiv sind.

(66) Unter den Umständen des vorliegenden Falles erwägt der GH, dass die Verpflichtung, eine verwaltungsrechtliche Entscheidung einzuholen, bevor man einen Rechtsbehelf an ein Tribunal richten konnte, bewirkte, dass der Bf. seines Rechts auf Entscheidung über seine Freiheitsentziehung innerhalb kurzer Frist beraubt wurde.

(67) Daher weist der GH die Einrede der Nichterschöpfung des Instanzenzugs zurück (einstimmig) und kommt zum Schluss, dass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK erfolgte (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Nicolaou).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(69) Der Bf. bringt vor, dass er sich vor dem Bundesgericht darauf berufen hätte, dass die Verpflichtung, sich an die Vormundschaftsbehörde zu wenden, bevor man die Gerichte anrufen konnte, und die Auslegung von § 59 des Einführungsgesetzes von Thurgau zum Schweizerischen ZGB durch das Obergericht Art. 5 Abs. 4 EMRK verletzten. Durch die Nichtbeantwortung dieses Rechtsmittels hätte das Bundesgericht seine Verpflichtung verletzt, seine Urteile zu begründen und dadurch gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen.

(76) Der GH nimmt zur Kenntnis, dass das Bundesgericht nicht zum Ziel hatte, über die kurze Zeit für die Kontrolle der Freiheitsentziehung des Bf. zu urteilen, sondern allein über die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs desselben vor den ordentlichen Gerichten ohne eine Entscheidung durch die Vormundschaftsbehörde. Im vorliegenden Fall bestätigte das Bundesgericht die Unzulässigkeit des Rechtsbehelfs, indem es den Einklang des kantonalen Verfahrens mit dem Schweizer Bundesrecht feststellte. Es zeigte dem Bf. im Übrigen ein weiteres Mal die geeigneten administrativen Schritte an, die er setzen sollte. Dabei übernahm das Bundesgericht weitgehend die Gedankengänge des Obergerichts.

(77) Es trifft zu, dass die Begründung des Urteils des Bundesgerichts relativ knapp blieb und Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht ausdrücklich erwähnte. Dennoch befindet der GH, dass das Bundesgericht im Wesentlichen auf die Rüge der übermäßigen Länge des Verfahrens und der Verpflichtung zur Einholung einer Entscheidung der Vormundschaftsbehörde geantwortet hat. Er ist auch bereit zu akzeptieren, dass unter den Umständen des vorliegenden Falls die Feststellung des Einklangs mit dem Schweizer Bundesrecht implizit die Konformität mit Art. 5 Abs. 4 EMRK einschließt. Im Übrigen hat die Frage, ob das fragliche Verfahren den Anforderungen von Art. 5 Abs. 4 EMRK entsprach – die vom GH schon geprüft wurde (Rz. 61-67) –, keine Auswirkungen auf den Umfang der dem Bundesgericht obliegenden Begründungspflicht.

(78) Unter diesen Bedingungen sieht der GH keinen Anschein einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Daraus folgt, dass diese Beschwerde offensichtlich unbegründet und daher [...] [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Nicolaou).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 10.000,– für immateriellen Schaden; € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

S. M./CH v. 21.1.1998 (ZE)

A. B./CH v. 6.4.2000 (ZE)

Schöps/D v. 13.2.2001

Firoz Muneer/B v. 11.4.2013

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.12.2015, Bsw. 6232/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 496) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_6/Mäder.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise