Bsw3690/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Annen gg. Deutschland, Urteil vom 26.11.2015, Bsw. 3690/10.
Spruch
Art. 10 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Anprangerung von Ärzten wegen Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK im Hinblick auf die Anordnung der Unterlassung der weiteren Verbreitung der Flugblätter (5:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 10 EMRK hinsichtlich der Anordnung der Unterlassung der Nennung der Namen und Adresse der Ärzte auf der Website (5:2 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 13.696,87,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf., der eine Kampagne gegen Abtreibungen führt, verteilte am 18. und 19.7.2005 Flugblätter in unmittelbarer Nähe zur Tagesklinik der beiden Ärzte Dr. M. und Dr. R. Auf der Vorderseite der Flugblätter stand in fetter Schrift: »In der Tagesklinik Dr. M./Dr. R. [Angabe der vollen Namen und Adresse] werden rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt«, gefolgt von dieser, in kleinerer Schrift gesetzten Erklärung: »die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt. Der Beratungsschein schützt ›Arzt‹ und Mutter vor Strafverfolgung, aber nicht vor der Verantwortung vor Gott.« In einem weiter unten angebrachten Kästchen stand: »Sinngemäß aus den internationalen Strafgesetzen: Mord ist das vorsätzliche ›Zu-Tode-Bringen‹ eines unschuldigen Menschen!« Auf der Rückseite des Flugblatts rief der Bf. die Leser auf, »auf alle einzuwirken, die direkt oder indirekt an einer Abtreibung mithelfen«. Außerdem stand folgender Text auf der Rückseite des Flugblatts: »Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt.« Darunter fand sich ein Hinweis auf die vom Bf. betriebene Website www.babycaust.de, die unter anderem eine Liste sogenannter Abtreibungsärzte enthielt, in der auch die Tagesklinik und die vollen Namen von Dr. M. und Dr. R. angeführt wurden. Diese Liste war über einen Link »Tod oder Leben« / »Gebetsanliegen für Deutschland« zugänglich.
Auf Antrag von Dr. M. und Dr. R. verurteilte das Landgericht Ulm den Bf. dazu, es zu unterlassen, im unmittelbaren Umkreis der Tagesklinik Flugblätter zu verteilen, die die Namen der Antragsteller und die Behauptung enthielten, in ihrer Praxis würden rechtswidrige Abtreibungen vorgenommen. Das Gericht untersagte dem Bf. außerdem, Namen und Adresse der Antragsteller in der Liste der »Abtreibungsärzte« auf der Website www.babycaust.de zu nennen. Nach Ansicht des Gerichts erweckten die Äußerungen auf dem Flugblatt den falschen Eindruck, dass Abtreibungen außerhalb der rechtlichen Voraussetzungen durchgeführt würden. Dies wurde nicht durch die weitere Erklärung, wonach die Abtreibungen nicht strafbar waren, in Frage gestellt, weil die gesamte Aufmachung des Flugblatts darauf abzielte, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den ersten, in fetten Buchstaben gesetzten Satz zu lenken. Das Gericht war weiters der Ansicht, der Bf. habe durch die Hervorhebung der Antragsteller, die ihm dazu keinerlei Anlass gegeben hatten, eine Prangerwirkung geschaffen. Da seine Behauptungen schwerwiegend in die Persönlichkeitsrechte der Antragsteller eingriffen, müsste sein Recht auf freie Meinungsäußerung zurücktreten. Die gleichen Grundsätze würden auch für die Nennung der Namen der Ärzte auf der Website www.babycaust.de gelten. Diese würde eine Verbindung zwischen den Antragstellern und Straftaten schaffen, die nach Ansicht des Bf. mit den von den Nazis im Zuge des Holocaust begangenen Verbrechen vergleichbar wären.
Die dagegen erhobene Berufung des Bf. wurde am 27.10.2007 vom OLG Stuttgart abgewiesen. Das OLG folgte der Begründung des Landgerichts und ergänzte, dass der Text des Flugblatts aus Sicht eines Laien den Eindruck erwecke, ein Schwangerschaftsabbruch, wie er vom deutschen Gesetzgeber gestattet werde, würde einer unrechtmäßigen Tötung oder gar einem Mord gleichkommen. Zwar gelte bei Debatten von öffentlichem Interesse eine Vermutung zugunsten der Meinungsäußerungsfreiheit, der Bf. habe jedoch eine massive Prangerwirkung durch das Herausheben der beiden Antragsteller geschaffen. Die Revision wurde vom OLG nicht zugelassen.
Ein Antrag des Bf. auf Verfahrenshilfe für eine Nichtannahmebeschwerde wurde am 12.2.2008 vom BGH wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg abgelehnt.
Das BVerfG erklärte die Beschwerde des Bf. am 2.7.2009 ohne Angabe von Gründen für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
(31) Der Bf. brachte vor, das gegen ihn erlassene zivilrechtliche Unterlassungsurteil habe ihn in seinem durch Art. 10 EMRK geschützten Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit verletzt […].
Zur Zulässigkeit
(34) Die Regierung behauptete, der Bf. habe es verabsäumt, eine Berufung gegen die Entscheidung des OLG zu erheben, mit der die Revision nicht zugelassen wurde. Sie wies zudem darauf hin, dass das BVerfG die Beschwerde des Bf. als unzulässig zurückgewiesen hatte. Daher habe er es verabsäumt, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen.
(37) Zum Versäumnis des Bf., eine Revision an den BGH zu erheben, stellt der GH fest, dass dieses Rechtsmittel grundsätzlich erschöpft werden sollte, um die Anforderungen des Art. 35 Abs. 1 EMRK zu erfüllen. […] Angesichts der Begründung des BGH für die Verweigerung der Verfahrenshilfe kann dem Bf. nicht vorgeworfen werden, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft zu haben, indem er das Rechtsmittelverfahren nicht weiter verfolgt hat.
(38) Der GH stellt weiters fest, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des Bf. als unzulässig erachtete, ohne allerdings anzudeuten, welches Zulässigkeitskriterium vom Bf. nicht erfüllt wurde.
(39) […] Es ist nicht offensichtlich, dass der Bf. ein bestimmtes formales Kriterium für die Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde missachtete. Der GH ist im vorliegenden Fall nicht in der Lage, den Grund festzustellen, warum seine Verfassungsbeschwerde als unzulässig beurteilt wurde. Daher ist davon auszugehen, dass der Bf. die innerstaatlichen Rechtsbehelfe iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK erschöpft hat.
(40) Der GH verwirft die Zulässigkeitseinreden der Regierung. Er stellt weiters fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(50) […] Das zivilrechtliche Unterlassungsurteil der innerstaatlichen Gerichte stellte einen »Eingriff« in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung dar […].
(51) Der GH ist der Ansicht – und die Parteien sind sich darin einig –, dass der Eingriff durch § 823 Abs. 1 iVm. § 1004 Abs. 1 BGB vorgesehen war und die Entscheidungen der Zivilgerichte darauf abzielten, »den guten Ruf oder die Rechte anderer« zu schützen, nämlich das Ansehen und die Persönlichkeitsrechte von Dr. M. und Dr. R. Uneinig sind sich die Parteien allerdings darüber, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.
Allgemeine Grundsätze
(53) […] Es gibt unter Art. 10 EMRK wenig Raum für Einschränkungen politischer Äußerungen oder von Debatten über Fragen des öffentlichen Interesses.
(54) Der GH betont weiters, dass das Recht auf Schutz des guten Rufs von Art. 8 EMRK als Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens geschützt wird. Damit Art. 8 EMRK ins Spiel kommt, muss ein Angriff auf das Ansehen einer Person allerdings ein gewisses Maß an Ernsthaftigkeit erreichen und in einer Art und Weise erfolgen, die dem persönlichen Genuss des Rechts auf Achtung des Privatlebens abträglich ist.
(55) Bei der Prüfung, ob in einer demokratischen Gesellschaft eine Notwendigkeit für einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit im Interesse des »Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer« besteht, kann der GH gefordert sein sich zu vergewissern, ob die innerstaatlichen Instanzen beim Schutz zweier von der Konvention geschützter Werte, die in bestimmten Fällen miteinander in Konflikt geraten können, nämlich einerseits die durch Art. 10 EMRK geschützte Meinungsäußerungsfreiheit und andererseits das in Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens, einen fairen Ausgleich getroffen haben.
(56) In Fällen wie dem vorliegenden sollte der Ausgang der Beschwerde nach Ansicht des GH grundsätzlich nicht davon abhängen, ob sie unter Art. 10 EMRK von der Person, von der die umstrittene Äußerung gemacht wurde, oder unter Art. 8 EMRK von der Person, die Gegenstand der Äußerung war, an ihn herangetragen wurde. Diese Rechte verdienen aus Prinzip den gleichen Respekt. Dementsprechend sollte der Ermessensspielraum grundsätzlich in beiden Fällen der gleiche sein.
(57) Wenn die Interessenabwägung zwischen diesen beiden Rechten von den innerstaatlichen Instanzen im Einklang mit den in der Rechtsprechung des GH dargelegten Kriterien vorgenommen wurde, würde der GH starke Gründe verlangen, bevor er seine Ansicht an die Stelle jener der innerstaatlichen Gerichte setzt.
Anwendung im vorliegenden Fall
Untersagung der weiteren Verbreitung von Flugblättern in unmittelbarer Nähe zur Tagesklinik
(58) […] Die innerstaatlichen Gerichte anerkannten ausdrücklich, dass die Äußerungen des Bf. auf dem Flugblatt Fragen von öffentlichem Interesse ansprachen und dass er berechtigt war, seine politischen Ziele sogar durch die Verwendung überspitzter und polemischer Kritik zu verfolgen. Die Gerichte anerkannten auch, dass in derartigen Fällen eine Vermutung zugunsten der Meinungsäußerungsfreiheit galt.
(59) […] Die innerstaatlichen Gerichte stellten fest, dass der Bf. den irreführenden Eindruck erweckt hatte, es würden Abtreibungen außerhalb der rechtlichen Voraussetzungen durchgeführt, weil die gesamte Aufmachung des Flugblatts darauf abzielte, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den ersten, in fetter Schrift gesetzten Satz zu lenken, während die weiteren Erklärungen in kleinerer Schrift gesetzt waren, um ihren Inhalt zu verschleiern. Zudem stellten sie fest, dass der Bf. eine massive Prangerwirkung geschaffen hatte, indem er die beiden Ärzte ausgewählt hatte. Dies sei noch weiter verstärkt worden durch den Bezug zum Holocaust.
(60) Wie der GH feststellt, gibt es nach deutschem Recht nach § 218a StGB einen schmalen Grad zwischen Schwangerschaftsabbrüchen, die als »rechtswidrig« angesehen werden, aber von der Strafbarkeit ausgenommen sind, und jenen Abbrüchen, die gerechtfertigt und damit »rechtmäßig« sind. Daraus folgt, dass die Behauptung des Bf., es wären »rechtswidrige« Abtreibungen durchgeführt worden, aus rechtlicher Sicht korrekt war.
(61) Obwohl die Aufmachung des Flugblatts eindeutig darauf abzielte, die Aufmerksamkeit des Lesers auf den ersten Satz zu lenken, der in fetter Schrift gesetzt war, war der Wortlaut der weiteren Erklärung des Bf., wonach die Abtreibungen nicht strafbar waren, nach Ansicht des GH selbst aus der Perspektive eines Laien ausreichend klar. Obwohl die Einschätzung und Auslegung des Tatsachenhintergrunds eines Falls grundsätzlich Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, ist der GH angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falls und auch in Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 8.6.2010 (Anm: Das BVerfG gab in seinem Urteil vom 8.6.2010 (1 BvR 1745/06) einer Verfassungsbeschwerde des Bf. in einem ähnlich gelagerten Fall statt und stellte eine Verletzung von Art. 5 GG fest, weil die Zivilgerichte nicht ausreichend berücksichtigt hatten, dass der betroffene Arzt selbst im Internet darauf hingewiesen hatte, Abtreibungen durchzuführen und durch die Aktivitäten des Bf. keinen erheblichen Verlust an sozialer Achtung erlitten hatte.), das beinahe idente Fragen betraf, davon überzeugt, dass die bloße Tatsache, dass die weitere Erklärung nicht optisch hervorgehoben wurde, nicht darauf hinausläuft, dass eine vernünftige Person mit normaler Aufmerksamkeit annehmen würde, die Abtreibungen würden außerhalb der rechtlichen Voraussetzungen vorgenommen und wären daher im strengeren Sinn der Strafbarkeit verboten. Hinsichtlich der Wirkung der weiteren Erklärung erinnert der GH auch daran, dass sie direkt an den ersten Teil der Äußerung des Bf. anschloss und daher dem Leser unmittelbar zugänglich war. Die Tatsachen des vorliegenden Falls müssen daher von jenen unterschieden werden, die den früheren Beschwerden des Bf. zugrunde lagen, die der GH als offensichtlich unbegründet erachtete. In diesen Fällen hatte der Bf. Flugblätter verbreitet und ein Plakat mit Informationen über »rechtswidrige« Abtreibungen getragen, ohne jedoch irgendeine weitere, dem Leser unmittelbar zugängliche rechtliche Erklärung zu liefern.
(62) Während der GH die Position der innerstaatlichen Gerichte anerkennt, wonach die Kampagne des Bf. direkt gegen die beiden Ärzte gerichtet war, stellt er auch fest, dass die Wahl des Bf., seine Argumente in einer personalisierten Form vorzubringen, indem er Flugblätter mit den Namen der Ärzte und der beruflichen Adresse in unmittelbarer Nähe der Tagesklinik verteilte, die Effektivität seiner Kampagne steigerte. Der GH weist auch darauf hin, dass die Kampagne des Bf. zu einer höchst kontroversen Debatte von öffentlichem Interesse beitrug. Hinsichtlich der akuten Sensibilität der moralischen und ethischen Fragen, die von der Abtreibung aufgeworfen werden, kann ebenso kein Zweifel bestehen wie hinsichtlich der Bedeutung des berührten öffentlichen Interesses. Obwohl die Regierung darauf hinwies, dass die Ärzte in Folge der negativen öffentlichen Aufmerksamkeit die Tagesklinik geschlossen und eine andere berufliche Aktivität aufgebaut haben, geht aus ihren Behauptungen nicht klar hervor, ob tatsächlich die Aktivitäten des Bf. diese Entwicklung verursacht haben. In diesem Zusammenhang bemerkt der GH weiters, dass die Ärzte keine Schadenersatzklage […] wegen der negativen Auswirkungen auf ihre Geschäftstätigkeit erhoben haben.
(63) Was den Bezug auf das Konzentrationslager Auschwitz und den Holocaust betrifft, erinnert der GH daran, dass die Wirkung einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte einer anderen Person nicht vom historischen und gesellschaftlichen Kontext gelöst werden kann, in dem die Äußerung getätigt wurde. Der Bezug zum Holocaust muss auch im spezifischen Kontext der deutschen Geschichte gesehen werden. Angesichts des genauen Wortlauts des Flugblatts kann der GH jedoch der Auslegung der innerstaatlichen Gerichte, wonach der Bf. die Ärzte und ihre beruflichen Aktivitäten mit dem NS-Regime verglichen hätte, nicht folgen. Tatsächlich kann die Äußerung des Bf., wonach die Tötung von Menschen in Auschwitz unrechtmäßig aber erlaubt und unter dem NS-Regime nicht strafbar gewesen wäre, auch als Weg verstanden werden, um ein stärkeres Bewusstsein für die allgemeine Tatsache zu schaffen, dass das Recht von der Moral abweichen kann. Auch wenn sich der GH des Subtexts der Äußerung des Bf. bewusst ist, die durch den Verweis auf die Website www.babycaust.de noch verstärkt wurde, stellt er fest, dass der Bf. Abtreibung nicht – zumindest nicht ausdrücklich – mit dem Holocaust gleichstellte. Daher ist der GH nicht davon überzeugt, dass das Verbot der Verteilung der Flugblätter wegen einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Ärzte alleine durch den Vergleich mit dem Holocaust gerechtfertigt war.
(64) Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Überlegungen und insbesondere der Tatsache, dass die Äußerung des Bf., die zumindest nicht der rechtlichen Situation hinsichtlich der Abtreibung in Deutschland widersprach, zu einer höchst kontroversen Debatte von öffentlichem Interesse beitrug, gelangt der GH angesichts des besonderen Schutzes von Äußerungen, die im Zuge einer Debatte über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse gemacht wurden, und trotz des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten zu dem Schluss, dass es die innerstaatlichen Gerichte verabsäumten, einen fairen Ausgleich zwischen dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. und den Persönlichkeitsrechten der Ärzte zu treffen.
(65) Daher hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK in Hinblick auf die Anordnung der Unterlassung der weiteren Verbreitung der Flugblätter stattgefunden (5:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterinnen Yudkivska und Jäderblom).
Anordnung der Unterlassung der Nennung der Namen und Adresse der Ärzte in der Liste von »Abtreibungsärzten« auf der Website
(68) Der GH stellt eingangs fest, dass nach Ansicht des OLG die Bezeichnung der Ärzte als »Abtreibungsärzte« auf einer Website, die www.babycaust.de genannt wurde, einen Zusammenhang zwischen den Ärzten und Verbrechen andeutete, die dem Bf. zufolge mit den von den Nazis während des Holocaust begangenen Verbrechen vergleichbar waren. Es schloss daher – in acht Zeilen seines Urteils –, dass der Bf. die Handlungen der Ärzte mit dem Holocaust und mit Massenmord gleichgesetzt hätte und dass dies nicht von der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. gedeckt wäre.
(69) Der GH stellt weiters fest, dass es das OLG nicht als notwendig erachtete, dass die Ärzte den genauen Inhalt der Website vorlegten, da diese allgemein zugänglich und ihr Inhalt daher bekannt war. Außerdem bemerkt der GH […], dass weder eine Beschreibung des genauen Inhalts und Aufbaus der Website noch ein Screenshot in den innerstaatlichen Akten enthalten war.
(70) Was die Urteilsbegründung betrifft, bemerkt der GH, dass das OLG sich darauf beschränkte festzustellen, dass hinsichtlich der Website dieselben Grundsätze anzuwenden seien, die in Hinblick auf das Flugblatt herausgearbeitet worden waren. Die innerstaatlichen Gerichte scheinen damit weder den Inhalt und Gesamtkontext des spezifischen Links »Tod oder Leben« / »Gebetsanliegen für Deutschland«, unter dem Namen und berufliche Adressen der Ärzte in einer alphabetischen Liste veröffentlicht wurden, geprüft noch den Ausdruck »Abtreibungsärzte« vor dem Hintergrund, dass in der Tagesklinik tatsächlich Abtreibungen stattfanden, ausgelegt zu haben.
(71) Der GH erinnert daran, dass seine Aufgabe darin besteht zu überprüfen, ob die nationalen Instanzen Standards angewendet haben, die mit den in Art. 10 EMRK verkörperten Grundsätzen vereinbar waren, und ob sie sich überdies auf eine verlässliche Einschätzung der relevanten Tatsachen stützten. Er stellt weiters fest, dass eine Prüfung des Falls daher eine individuelle und kontextuelle Einschätzung in Hinblick auf die Situation zu jener Zeit umfassen würde, zu der die umstrittene Veröffentlichung online gestellt wurde.
(72) Konkreter bemerkt der GH auch, dass die innerstaatlichen Gerichte keine Unterscheidung getroffen zu haben scheinen zwischen der Äußerung des Bf. auf dem Flugblatt, die eine örtlich eingeschränkte Wirkung hatte, einerseits und seinen Äußerungen im Internet, die weltweit verbreitet werden konnten, andererseits. Zudem hätte eine individuelle und kontextuelle Beurteilung Fragen wie beispielsweise den genauen Inhalt, den Gesamtzusammenhang und die spezifische Aufmachung der Website des Bf., auf der die Namen der Ärzte aufgelistet wurden, die Notwendigkeit des Schutzes sensibler Daten sowie das Vorverhalten der Ärzte – beispielsweise ob sie selbst im Internet öffentlich die Durchführung von Abtreibungen in der Tagesklinik angekündigt hatten – einschließen können. Außerdem hätten die innerstaatlichen Gerichte die Auswirkung der Äußerung des Bf. auf Dritte und die Frage berücksichtigen können, ob sie geeignet war, zu Aggression oder Gewalt gegen die Ärzte aufzureizen, insbesondere weil ihre Namen und ihre Adressen auf der Website des Bf. genannt wurden.
(73) Während der GH den Fall nicht in der Sache entscheiden kann, ist er der Ansicht, dass nicht gesagt werden kann, die innerstaatlichen Gerichte hätten, indem sie hauptsächlich auf ihre Schlussfolgerungen betreffend das Flugblatt verwiesen und es verabsäumten, die spezifischen Elemente im Zusammenhang mit der Internetseite des Bf. anzusprechen, Standards angewendet, die mit den von Art. 10 EMRK verkörperten verfahrensrechtlichen Grundsätzen vereinbar waren und sich auf eine akzeptable Einschätzung der relevanten Tatsachen gestützt.
(74) Die vorangehenden Überlegungen sind ausreichend, um dem GH die Schlussfolgerung zu erlauben, dass der rechtliche Schutz, den der Bf. vor den innerstaatlichen Gerichten erhalten hat, nicht mit den verfahrensrechtlichen Anforderungen von Art. 10 EMRK vereinbar war. Daher hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK hinsichtlich der Anordnung der Unterlassung der Nennung der Namen und Adresse der Ärzte auf der Website stattgefunden (5:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterinnen Yudkivska und Jäderblom).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
(75, 76) Der Bf. behauptet eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren, […] weil weder der BGH noch das BVerfG ihre Entscheidung begründet hätten.
(78) Der GH bemerkt, dass sich die Entscheidung des BGH auf den Gegenstand der Verfahrenshilfe beschränkt und dass das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Bf. als unzulässig abgelehnt hatte. Unter diesen Umständen erachtet der GH die Begründung der Gerichte als ausreichend.
(79) Daraus folgt, dass dieser Beschwerdepunkt offensichtlich unbegründet und daher [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Annen/D v. 30.3.2010 (ZE)
A., B. und C./IRL v. 16.12.2010 (GK) = NLMR 2010, 368
Hoffer und Annen/D v. 13.1.2011 = NLMR 2011, 18
Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
PETA Deutschland/D v. 8.11.2012 = NLMR 2012, 371
Annen/D v. 13.2.2013 (ZE) = EuGRZ 2014, 176
Delfi AS/EST v. 16.6.2015 (GK) = NLMR 2015, 232
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.11.2015, Bsw. 3690/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 528) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_6/Annen.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.