Bsw35343/05 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Vasiliauskas gg. Litauen, Urteil vom 20.10.2015, Bsw. 35343/05.
Spruch
Art. 7 EMRK - Verurteilung eines Geheimdienstmitarbeiters aufgrund rückwirkender Anwendung des Delikts des Völkermords.
Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).
Verletzung von Art. 7 EMRK (9:8 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.072,– für materiellen Schaden; € 2.450,– für Kosten und Auslagen (9:8 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 15.6.1940 marschierte die sowjetische Armee in Litauen ein und am 3.8.1940 wurde Litauen der Sowjetunion einverleibt. Nachdem Deutschland Litauen zwischen 1941 und 1944 besetzt hatte, wurde die sowjetische Herrschaft im Juli 1944 wiederhergestellt. In Litauen entwickelte sich in der Folge eine landesweite Partisanenbewegung gegen die russische Besatzung mit dem Ziel der litauischen Unabhängigkeit. Diese wurde erst am 11.3.1990 erreicht und von der Sowjetunion am 6.9.1991 offiziell anerkannt. Die russische Armee verließ Litauen am 31.8.1993.
Beim Bf. handelt es sich um einen litauischen Staatsangehörigen, der ab 1952 als Agent für das Ministerium für Staatssicherheit (MGB) und dann für die Nachfolgeorganisation KGB tätig war.
Am 2.1.1953 nahm der Bf. an einer Operation gegen zwei litauische Partisanen teil, die Brüder J. A. und A. A., die sich in der Gegend von Šakiai im Wald versteckt hatten und gefangen genommen oder liquidiert werden sollten. Die beiden Brüder leisteten Widerstand und eröffneten das Feuer auf die sowjetischen Soldaten und die Beamte des MGB. Sie wurden daraufhin erschossen. Der Bf. erhielt für die erfolgreiche Durchführung der Aktion eine Belohnung.
Im April 2001 wurden Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Tod von J. A. und A. A. aufgenommen und im September wurde gegen den Bf. schließlich Anklage wegen Völkermord erhoben.
Mit Urteil vom 4.2.2004 befand das Landesgericht Kaunas den Bf. des Völkermordes für schuldig und verurteilte ihn zu sechs Jahren Haft, da die zwei Brüder Vertreter einer politischen Gruppe – der litauischen Partisanen – gewesen wären und daher der Tatbestand des Art. 99 des kurz zuvor in Kraft getretenen neuen StGB erfüllt wäre (Anm: Art. 99 StGB sieht eine weitere Definition von Völkermord vor als etwa die Völkermordkonvention. Letztere sieht diesen als gegeben an, wenn der Täter die Absicht hatte, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Art. 99 StGB erweitert die in der Völkermordkonvention genannten Gruppen um soziale oder politsche Gruppen. Zur Definition des Völkermords im Völkerrecht siehe genauer unten II. 2. b. i.). Die Haft des Bf. wurde aus gesundheitlichen Gründen zur Bewährung ausgesetzt.
Das Berufungsgericht bestätigte die Verurteilung am 21.9.2004, befand allerdings, dass die Einordnung der litauischen Partisanen als politische Gruppe nicht exakt wäre, sondern diese Vertreter der litauischen Nation und daher einer nationalen Gruppe gewesen wären. Der sowjetische Völkermord wäre genau aufgrund der Nationalität/Volkszugehörigkeit der Bewohner erfolgt, womit die Voraussetzungen von Völkermord nach Völkerrecht erfüllt wären.
Der OGH bestätigte am 22.2.2005 die Verurteilung des Bf. Am 28.2.2011 sprach er der Tochter bzw. Nichte der Getöteten in letzter Instanz umgerechnet circa € 14.500,– an Schadenersatz für immateriellen Schaden zu, den der Bf. gemeinsam mit einem Mittäter zu zahlen hätte.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt, dass die weite Auslegung des Verbrechens des Völkermords durch die litauischen Gerichte keine Grundlage im Wortlaut der Straftat nach Völkerrecht gehabt und daher eine Verletzung von Art. 7 EMRK (hier: Nulla poena sine lege) bewirkt habe.
Zulässigkeit
(115) Die Regierung argumentierte, dass der Bf. es verabsäumt hätte, seine Beschwerde binnen sechs Monaten nach der letzten Entscheidung zu erheben. [...]
(117) Der GH beobachtet, dass die Verurteilung des Bf. vom OGH am 22.2.2005 bestätigt wurde. Demgemäß lief die sechsmonatige Frist zur Erhebung einer Beschwerde an den GH [...] am 22.8.2005 ab. Nach Untersuchung der vom Bf. vorgelegten Materialien bemerkt der GH, dass das Kuvert mit seinem Beschwerdeformular in Litauen am 30.7.2005 aufgegeben wurde, da der Umschlag einen Poststempel der Post von Taurage von diesem Tag aufweist. Der Umschlag weist auch einen Stempel auf, wonach die Kanzlei des GH ihn am 28.9.2005 erhalten hat. Das Beschwerdeformular ist mit einem Stempel versehen, dass es beim GH am 29.9.2005 einlangte. Auch wenn er anerkennt, dass es eine gewisse Verzögerung beim Einlangen der Beschwerde [...] gab, erachtet er den Poststempel als das Datum, an dem die Beschwerde erhoben wurde. Die Einrede der Regierung muss daher zurückgewiesen werden.
(119) [Was den Antrag der Regierung betrifft, den Fall aufgrund einer möglichen Wiederaufnahme vor den nationalen Gerichten aus dem Register zu streichen], beobachtet der GH [...], dass der Staatsanwalt mit rechtskräftiger Entscheidung vom 28.5.2014 beschloss, den OGH nicht zu ersuchen, die Strafsache des Bf. wiederaufzunehmen. Es kann daher nicht gesagt werden, dass die Angelegenheit gelöst worden oder dass es iSd. Art. 37 Abs. 1 lit. b und c EMRK nicht länger gerechtfertigt wäre, die Untersuchung dieser Beschwerde weiterzuführen.
(120) Der GH bemerkt weiters, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist. Daher muss sie für zulässig erklärt werden (mehrheitlich; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Turkovic sowie der Richter Sajó und VuCinic).
In der Sache
(162) [...] Aufgabe des GH unter Art. 7 Abs. 1 EMRK ist es zu beurteilen, ob es unter Berücksichtigung des 1953 anwendbaren Rechts eine ausreichend klare rechtliche Grundlage für die Verurteilung des Bf. gab. Insbesondere wird der GH untersuchen, ob die Verurteilung des Bf. wegen Völkermord im Einklang mit dem Wesen dieser Straftat stand und vom Bf. zur Zeit seiner Beteiligung an der Operation vom 2.1.1953, während der die beiden Partisanen J. A. und A. A. getötet wurden, vernünftigerweise vorhergesehen werden konnte.
Die relevanten Tatsachen
(163) Vor der Untersuchung des Inhalts der Rüge der Bf. wird der GH zunächst den faktischen Streit zwischen der belangten Regierung und dem Bf. im Hinblick auf die Behauptung des Letzteren ansprechen, dass die Brüder J. A. und A. A. zum Zeitpunkt ihres Todes nicht länger Partisanen gewesen wären, was es ausschließen würde, ihn wegen Genozid an litauischen Partisanen als Gruppe zu verurteilen.
(164) Der GH beobachtet, dass die nationalen Gerichte diesbezüglich unter sorgfältiger Prüfung aller Vorbringen zu einer klaren Feststellung kamen. Im Lichte seiner ständigen Rechtsprechung wiederholt der GH, dass es nicht seine Aufgabe ist, seine Beurteilung der Tatsachen an die Stelle jener der nationalen Gerichte zu setzen. [...] Er erwägt auch, dass die nationalen Gerichte angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe, die Fakten des Falls mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen zu rekonstruieren, in einer besseren Position waren, das gesamte verfügbare Material und alle verfügbaren Beweise zu würdigen. [...] Nach seiner gründlichen Analyse wies das Berufungsgericht die Behauptungen des Bf. als unbegründet zurück. Diese Schlussfolgerung wurde vom OGH völlig bestätigt. Der GH sieht keinen Grund, von den Schlussfolgerungen der nationalen Gerichte abzugehen, die zudem auf deren direktem Wissen von den nationalen Umständen basierten.
War die Verurteilung des Bf. wegen Völkermord mit Art. 7 EMRK vereinbar?
(165) Der GH wiederholt, dass das Verbrechen des Völkermords 1992 ins litauische Recht eingeführt wurde. 2001 klagte der Staatsanwalt den Bf. wegen Völkermord an litauischen Partisanen als Vertreter einer politischen Gruppe gemäß Art. 71 Abs. 2 des litauischen StGB idF. von 1998 an. Als das Prozessgericht den Bf. 2004 wegen Völkermord verurteilte, war ein neues litauisches StGB in Kraft getreten und der Bf. wurde nach Art. 99 dieses neuen StGB verurteilt. Das Berufungsgericht und der OGH bestätigten die Verurteilung des Bf. auf Grundlage desselben Art. 99.
(166) Der GH erachtet es daher für klar, dass die Verurteilung des Bf. auf rechtliche Bestimmungen gestützt wurde, die 1953 nicht in Kraft standen und dass solche Bestimmungen daher rückwirkend angewendet wurden. Demgemäß würde dies eine Verletzung von Art. 7 EMRK begründen, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass diese Verurteilung auf das Völkerrecht in der damals bestehenden Form gestützt wurde. Die Verurteilung des Bf. muss daher nach Ansicht des GH aus dieser Sicht geprüft werden.
Zugänglichkeit
(167) Der GH bemerkt, dass die Sowjetunion Partei des Londoner Abkommens vom 8.8.1945 (Anm: Abkommen zwischen der Regierung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Provisorischen Regierung der Französischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse.) war, mit dem die Satzung des Internationalen Militärgerichtshofs angenommen wurde. Gemäß Art. 6 lit. c der Satzung wurden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit das Auslöschen, die Deportation oder andere unmenschliche Akte gegen eine Zivilbevölkerung, einschließlich Verfolgungen aus politischen Gründen, definiert. Am 11.12.1946 verurteilte die Generalversammlung der UN das Verbrechen des Völkermords durch die Annahme von Resolution Nr. 96 (I) (Anm: Resolution 96 (I) vom 11.12.1946.). Die Völkermordkonvention von 1948 (Anm: Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords, StF. BGBl. 1958/91.), welche die von dieser Resolution anerkannten Grundsätze des Völkerrechts bestätigte, wurde von der UN-Generalversammlung am 9.12.1948 einstimmig angenommen. Die Sowjetunion unterzeichnete sie am 16.12.1949. [...] Die Konvention trat am 12.1.1951 in Kraft. Der GH beobachtet weiter, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) im Gutachten von 1951 (Anm: Gutachten vom 28.5.1951 zur Völkermordkonvention, ICJ-Reports 1951, 23.) darauf hinwies, dass die der Völkermordkonvention zugrundeliegenden Prinzipien von zivilisierten Nationen als für die Staaten verbindlich anerkannte Grundsätze sind – auch ohne eine vertragliche Verpflichtung.
(168) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass das Verbrechen des Völkermords nach dem Völkerrecht von 1953 eindeutig als Verbrechen angesehen wurde. Es wurde in der Völkermordkonvention von 1948 kodifiziert und noch vor diesem Zeitpunkt von den UN 1946 anerkannt und verurteilt. Unter diesen Umständen befindet der GH, dass völkerrechtliche Instrumente, die Völkermord verboten, für den Bf. ausreichend zugänglich waren.
Vorhersehbarkeit
Die Definition des Verbrechens des Völkermords im Jahr 1953
(170) Der GH beginnt damit festzuhalten, dass das durch Art. II der Konvention von 1948 verbotene Verbrechen des Völkermords vier geschützte Personengruppen auflistet: nationale, ethnische, rassische oder religiöse. Diese Bestimmung nimmt nicht Bezug auf eine soziale oder politische Gruppe. […] Der GH stellt kein überzeugendes Argument dafür fest, von der 1948 festgelegten vertraglichen Definition von Völkermord abzugehen, einschließlich der dortigen Liste der vier geschützten Gruppen. Ganz im Gegenteil umschreiben alle Bezugnahmen auf das Verbrechen des Völkermords in folgenden völkerrechtlichen Instrumenten – das Übereinkommen über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus 1968 (Anm: Übereinkommen vom 26.11.1968, UNTS 754 I 10.823.), das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien (ICTY) von 1993 (Anm: Angenommen durch Resolution 827 (1993) des Sicherheitsrates.), das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (ICTR) aus 1994 (Anm: Angenommen durch Resolution 955 (1994) des Sicherheitsrates.) wie auch […] das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 (Anm: Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998, StF. BGBl. III 2002/180.) – dieses Verbrechen mit ähnlichen, wenn nicht identischen Begriffen. […] Der Umstand, dass gewisse Staaten später entschieden, Völkermord an einer politischen Gruppe in ihrem innerstaatlichen Recht zu kriminalisieren, ändert als solches die Tatsache nicht, dass der Text der Konvention aus 1948 dies nicht tat.
(171) Der GH wendet sich der Frage zu, ob die Definition von Völkermord nach der Konvention von 1948 neben weiteren Normen des Völkergewohnheitsrechts existierte, die eine gültige Basis für die Verurteilung des Bf. wegen Völkermord bieten konnten.
(172) Es wird aus der obigen Feststellung (Rn. 168) des GH klar, dass Völkermord im Jahr 1953 nach Völkergewohnheitsrecht bereits ein Verbrechen war. […]
(173) Die Meinungen scheinen aber dahingehend auseinanderzugehen, ob die Reichweite des Verbrechens des Völkermords nach Völkergewohnheitsrecht als anders und insbesondere weiter angesehen werden konnte als die Definition der Konvention.
(174) Raphael Lemkin, der den Begriff »Genozid« prägte, schlug eine weite Definition der Straftat vor. In seinem Buch aus 1944 (Anm: Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, Analysis of Government, Proposals for Redress (1944) 91.) sprach er Verbrechen gegen nationale Gruppen an, akzeptierte aber, dass Völkermord Handlungen umfassen konnte, die darauf abzielten, die nationale Gruppe durch die Zerstörung ihrer politischen Institutionen, Kultur und Lebensgrundlage zu zerstören. Die spätere Resolution 96 (1) der Generalversammlung der UN forderte die Vorbereitung einer Völkermordkonvention, um »rassische, religiöse, politische und andere Gruppen« zu schützen. Einige Autoren erwogen, dass diese Resolution ein gewohnheitsrechtliches ius cogens-Verbot von Völkermord reflektiert (Anm: Z. B. Van Schaack, The Crime of Political Genocide: Repairing the Genocide Convention’s Blind Spot, Yale Law Journal 1997, 2262.), während andere diese Ansicht in Frage zogen (Anm: Z. B. Schabas, Genocide in International Law: The Crime of Crimes (2000) 134.). Manche Autoren waren auch der Meinung, dass die endgültige Liste der durch die Konvention von 1948 zu schützenden Gruppen Ergebnis politischer Zweckmäßigkeit war und keine fundierte Betrachtung auf Basis von philosophischer oder anderweitiger Unterscheidung zwischen bestimmten Arten von Gruppen (Anm: Z. B. Van Schaack, The Crime of Political Genocide (Fn. 11) 2268.). In den späten 1940ern drückten einige Kommentatoren auch ihre Bedenken aus, dass der Ausschluss von politischen und wirtschaftlichen Gruppen bedeuten würde, dass die Konvention von 1948 keine Handlungen ansprechen könne, die von den sowjetischen Behörden gegen Grundeigentümer begangen wurden (Anm: Finch, Editorial Comment: The Genocide Convention, American Journal of International Law 1949, 734; Report of the Committee on International Law of the Bar of the City of New York, 5 f. in Kunz, The United Nations Convention on Genocide, American Journal of International Law 1949, 743; Drost The Crime of State, Book II, Genocide (1959) 123.). Andere Autoren jedoch stimmten nicht damit überein, dass der Ausschluss von politischen Gruppen Ergebnis des Drucks von Seiten der Sowjets war (Anm: Van Schaack, The Crime of Political Genocide (Fn. 11) 2268; Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Convention (2008) 154.).
(175) Angesichts der oben dargelegten Faktoren stellt der GH fest, dass es einige Argumente dafür gibt, dass politische Gruppen 1953 vom Völkergewohnheitsrecht zum Völkermord geschützt wurden. Es existieren aber gleichermaßen starke gleichzeitige Gegenmeinungen. An dieser Stelle wiederholt der GH, dass trotz dieser Ansichten, die die Einbeziehung von politischen Gruppen in die Definition von Völkermord bevorzugen, die Reichweite der kodifizierten Definition von Völkermord in der Konvention von 1948 enger bleibt und in allen folgenden völkerrechtlichen Instrumenten beibehalten wurde. In Summe stellt der GH fest, dass es keine ausreichend starke Grundlage für die Feststellung gibt, dass das Völkergewohnheitsrecht im Jahr 1953 »politische Gruppen« in die Definition von Völkermord einschloss.
(176) [Zur folgenden Auslegung des Terminus »zum Teil« nach Art. II der Völkermordkonvention] wendet sich der GH als nächstes dem Vorbringen der belangten Regierung zu, dass die litauischen Partisanen aufgrund ihrer Bedeutung »Teil« der nationalen Gruppe, also einer durch Art. II der Völkermordkonvention geschützten Gruppe, waren. Diesbezüglich hält der GH fest, dass es 1953 keine Rechtsprechung irgendeines internationalen Gerichts zur richterlichen Interpretation der Definition von Völkermord gab. Die vorbereitenden Arbeiten zur Völkermordkonvention bieten wenig Anleitung dazu, was die Verfasser mit dem Terminus »zum Teil« meinten. Die frühen Kommentatoren der Völkermordkonvention betonten, dass der Terminus »zum Teil« ein Erheblichkeitserfordernis enthielt. Die Völkermordkonvention selber sieht vor, dass das Verbrechen durch eine »Absicht eine … Gruppe als solche ganz oder zum Teil zu zerstören« charakterisiert wird und das Erheblichkeitserfordernis wird von der Resolution 96 (1) gestützt, nach der »Völkermord die Verleugnung des Rechts der Existenz ganzer menschlicher Gruppen ist«. Unter Berücksichtigung, dass das Ziel der Völkermordkonvention war, sich mit Massenverbrechen zu befassen, hielt der ICTY die breite Anerkennung fest, dass die Absicht zu zerstören zumindest auf einen wesentlichen Teil der Gruppe gerichtet sein muss. Die Schwere von Völkermord wird ferner durch die strengen Erfordernisse reflektiert, die erfüllt sein müssen, bevor eine Verurteilung verhängt wird – der Nachweis eines speziellen Vorsatzes und das Aufzeigen des Ziels, die Gruppe als gesamte oder in einem wesentlichen Teil zu zerstören. Der GH erachtet es daher für vernünftig festzustellen, dass es 1953 vorhersehbar war, dass der Terminus »zum Teil« ein Erheblichkeitserfordernis enthielt.
(177) Der GH bedenkt allerdings die folgenden Entwicklungen in der internationalen Rechtsprechung zum Verbrechen des Völkermords. Ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen, wegen welcher der Bf. verurteilt wurde, tauchte eine gerichtliche Anleitung zur Auslegung des Begriffs »zum Teil« auf, als Fälle betreffend Völkermord vor den ICTY, den ICTR und den IGH gebracht wurden. Insbesondere […] konnte die absichtliche Zerstörung eines »bestimmten« Teils der geschützten Gruppe als Völkermord gegenüber der ganzen Gruppe angesehen werden, vorausgesetzt, dass der »bestimmte« Teil aufgrund der sehr großen Zahl seiner Mitglieder wesentlich war. Zudem bestätigte die gerichtliche Auslegung, dass zusätzlich zur numerischen Größe des anvisierten Teils auch seine »Bedeutung« innerhalb der geschützten Gruppe eine nützliche Überlegung sein konnte. Wie dem auch sei, diese Auslegung des Begriffs »zum Teil« konnte vom Bf. zur betreffenden Zeit nicht vorhergesehen werden.
(178) Im Ergebnis stellt der GH fest, dass das Völkervertragsrecht 1953 in die Definition von Völkermord keine »politische Gruppe« einschloss und auch nicht mit ausreichender Klarheit nachgewiesen werden kann, dass das Völkergewohnheitsrecht eine weitere Definition von Völkermord vorsah als jene, die in Art. II der Völkermordkonvention von 1948 dargetan wurde.
War die Auslegung der Handlungen des Bf. durch die innerstaatlichen Gerichte im Einklang mit dem Verständnis von Völkermord, wie es 1953 galt?
(179) Der GH wendet sich als nächstes der Auslegung des Verbrechens des Völkermords durch die litauischen Gerichte im Fall des Bf. zu. Er hält fest, dass das Prozessgericht den Bf. der Anklage des Staatsanwalts entsprechend für schuldig befand, d. h. schuldig des Völkermords an litauischen Partisanen als Mitglieder einer separaten politischen Gruppe. Das Berufungsgericht seinerseits formulierte die Verurteilung des Bf. um und stellte fest, dass die Zuordnung der litauischen Partisanen als Beteiligte am bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungsmacht zu einer speziellen »politischen« Gruppe »nur relativ/bedingt und nicht sehr genau« wäre. Für das Berufungsgericht waren die litauischen Partisanen auch »Vertreter der litauischen Nation, also der nationalen Gruppe«. Trotzdem erklärte das Berufungsgericht nicht, was der Begriff »Vertreter« umfasste. Es lieferte auch nicht viele historische oder tatsächliche Erklärungen, wie die litauischen Partisanen die litauische Nation repräsentierten. Auch scheint die spezielle Stellung der Partisanen im Hinblick auf die »nationale« Gruppe vom OGH nicht interpretiert worden zu sein. Dieser, der anerkannte, dass der Bf. »wegen Beteiligung an der physischen Auslöschung eines Teils der litauischen Bevölkerung, der zu einer separaten politischen Gruppe gehörte, verurteilt« wurde, beobachtete lediglich, dass zwischen 1944 und 1953 in Litauen der bewaffnete Widerstand der Nation gegen das sowjetische Besatzungsregime – der Partisanenkrieg – stattfand.
(180) Das litauische Verfassungsgericht anerkannte seinerseits ebenfalls, dass der organisierte bewaffnete Widerstand gegen die sowjetische Besatzung als Selbstverteidigung des litauischen Staats angesehen werden musste. Die Partisanen hatten den politischen und militärischen nationalen Kampf für Freiheit angeführt.
(181) Der GH akzeptiert, dass die innerstaatlichen Behörden ein Ermessen haben, um die Definition von Völkermord weiter auszulegen als die Konvention von 1948. Ein solches Ermessen erlaubt es den innerstaatlichen Gerichten jedoch nicht, angeklagte Personen rückwirkend nach dieser weiteren Definition zu verurteilen. Der GH hat bereits nachgewiesen, dass politische Gruppen 1953 von der Definition des Völkermords nach Völkerrecht ausgeschlossen waren (Rn. 178). Daraus folgt, dass die Staatsanwälte daran gehindert waren, den Bf. rückwirkend wegen Völkermord an litauischen Partisanen als Mitglieder einer politischen Gruppe anzuklagen, und die innerstaatlichen Gerichte daran, ihn rückwirkend deswegen zu verurteilen […]. Selbst wenn 1953 die folgende Auslegung des Begriffs »zum Teil« durch die internationalen Gerichte verfügbar gewesen wäre, gibt es zudem keine haltbare Feststellung bei der Etablierung der Fakten durch die innerstaatlichen Gerichte, um es dem GH zu ermöglichen zu beurteilen, auf welcher Grundlage die innerstaatlichen Gerichte zum Schluss kamen, dass die litauischen Partisanen 1953 einen bedeutenden Teil der nationalen Gruppe – anders gesagt einer unter Art. II der Völkermordkonvention geschützten Gruppe – darstellten. Daher ist der GH nicht überzeugt, dass der Bf. zur betreffenden Zeit – auch nicht mit der Unterstützung eines Anwalts – vorhersehen hätte können, dass die Tötung der litauischen Partisanen die Straftat des Völkermords an litauischen Bürgern oder ethnischen Litauern begründen könnte.
(182) Zusätzlich bemerkt der GH, dass Art. II der Völkermordkonvention von 1948 verlangt, dass der Täter mit Absicht handelt, eine geschützte Gruppe im Gesamten oder zum Teil zu zerstören. Die Aussagen des Bf. zur betreffenden Zeit nehmen Bezug auf Handlungen gegen »Banditen«, den »nationalistischen Untergrund« und »nationalistische Banden«. Zudem waren die vom MGB auf seinen Meetings 1953 erklärten Ziele gegen diese Gruppen gerichtet. Nach Ansicht des GH war das wesentliche Ziel dieser weiteren Gruppe von »litauischen Nationalisten« – auch wenn die Politik der Auslöschung des MGB ausgeweitet wurde auf »diejenigen, die ihnen helfen und ihre Kontakte« – die Unabhängigkeit des litauischen Staates sicherzustellen. In der Tat kämpften die litauischen Partisanen wie vom Staatsanwalt festgehalten und vom Berufungs- und Kassationsgericht bestätigt gegen die sowjetische Besetzung und für die Unabhängigkeit des litauischen Staates. Angesichts des oben Gesagten akzeptiert der GH, dass das Argument des Bf. nicht ohne Gewicht ist, dass seine Handlungen und die des MGB auf die Auslöschung der Partisanen als separate und eindeutig identifizierbare Gruppe abzielten, die durch ihren bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetmacht charakterisiert war.
(183) Der GH bemerkt auch, dass im Einklang mit Art. 31 Abs. 1 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) (Anm: Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, BGBl. 1980/40.) den Vertragsbestimmungen deren gewöhnliche Bedeutung zu geben ist. Diesbezüglich ist es nicht unmittelbar offensichtlich, dass die gewöhnliche Bedeutung der Begriffe »national« oder »ethnisch« in der Völkermordkonvention dahingehend ausgeweitet werden kann, dass sie Partisanen umfasst. Daher erwägt der GH, dass der Schluss der innerstaatlichen Gerichte, dass die Opfer unter die Definition von Völkermord als Teil einer geschützten Gruppe fielen, eine analoge Auslegung zum Schaden des Bf. darstellte, die seine Verurteilung unvorhersehbar machte.
(184) Bezüglich dieses letzten Punkts räumt der GH auch dem Vorbringen des Bf. Gewicht ein, dass die Definition des Verbrechens des Völkermords nach litauischem Recht nicht nur keine Grundlage im Wortlaut dieser Straftat hatte, wie sie in der Völkermordkonvention 1948 formuliert war, sondern auch während der Jahre von Litauens Unabhängigkeit nach und nach ausgeweitet worden wäre, womit seine Situation weiter verschlechtert worden wäre [...]. Vom litauischen Verfassungsgericht wurde darauf hingewiesen (Anm: Urteil vom 18.3.2014.), dass die rückwirkende Verfolgung wegen Völkermord an zu einer politischen oder sozialen Gruppe gehörenden Personen – wenn diese Ereignisse stattgefunden hätten, bevor diese beiden Gruppen dem litauischen StGB hinzugefügt wurden – gegen die Rechtsstaatlichkeit wäre und Litauens Verpflichtungen nach Völkerrecht verletzen würde [...]. Der GH kann das Argument des litauischen OGH nicht akzeptieren, dass die Änderungen des StGB [...], welche die Definition des Völkermords dahin ausweiteten, dass sie »politische Gruppen« einschloss, auf Basis von Art. V der Völkermordkonvention gerechtfertigt werden konnten. Während Art. V der Völkermordkonvention (Anm: Dieser lautet: »Die vertragschließenden Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen Verfassungen, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Konvention sicherzustellen und insbesondere wirksame Strafen für Personen vorzusehen, die sich des Völkermordes oder einer der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen schuldig machen.«) es nicht verbietet, die Definition von Völkermord auszuweiten, erlaubt er nicht die rückwirkende Anwendung einer weiteren Definition von Völkermord.
(185) In Übereinstimmung mit dem IGH im Fall BIH/SRB und MNE (Anm: IGH 26.2.2007, Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (BIH gg. SRB und MNE), ICJ-Reports 2007, 43.) erwägt der GH, dass die Schwere von Völkermord in den strengen Anforderungen reflektiert wird, die erfüllt sein müssen, bevor diese Verurteilung erfolgen kann. Diese Erfordernisse – der Nachweis einer speziellen Absicht und das Aufzeigen des Ziels, die geschützte Gruppe in ihrer Gesamtheit oder in einem wesentlichen Teil zu zerstören – beugen der Gefahr vor, dass Verurteilungen wegen dieses Verbrechens leichtfertig erfolgen. Unter Berücksichtigung der Argumente der litauischen Gerichte im vorliegenden Fall ist der GH nicht überzeugt, dass die Verurteilung des Bf. für das Verbrechen des Völkermords als mit dem Wesen dieser Straftat im Einklang stehend angesehen werden konnte, wie es zur betreffenden Zeit im Völkerrecht definiert war, und daher von ihm 1953 vernünftigerweise vorhergesehen werden konnte.
(186) Angesichts des Vorgesagten ist der GH der Ansicht, dass die Verurteilung des Bf. wegen Völkermord zur Zeit der Tötung der Partisanen nicht vorhergesehen werden konnte.
Hätte die Verurteilung des Bf. unter Art. 7 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein können?
(187) Der GH nimmt das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach die Handlungen des Bf. zur betreffenden Zeit nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar waren und daher unter die Bestimmungen von Art. 7 Abs. 2 EMRK fallen.
(188) Der GH hat zu prüfen, ob Art. 7 Abs. 2 EMRK auf die Verurteilung des Bf. anwendbar ist. [...] Die Große Kammer erinnerte in Rn. 186 von Kononov/LV an den ursprünglichen und außergewöhnlichen Zweck dieses Absatzes: »Angesichts des Gegenstands des Falles und die Stützung auf die Gesetze und Kriegsgebräuche, wie sie vor dem und während des Zweiten Weltkriegs Anwendung fanden, erachtet es der GH für wichtig, daran zu erinnern, dass die vorbereitenden Arbeiten zur Konvention angeben, dass der Zweck von Art. 7 Abs. 2 EMRK darin lag, zu präzisieren, dass Art. 7 EMRK Gesetze nicht beeinträchtigte, die unter den völlig außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkriegs erlassen wurden, um unter anderem Kriegsverbrechen zu bestrafen, so dass Art. 7 EMRK in keiner Weise darauf abzielt, ein rechtliches oder moralisches Urteil über diese Gesetze zu fällen [...]«.
(189) Kürzlich wurde diese restriktive Auslegung von Art. 7 Abs. 2 EMRK in Rn. 72 von Maktouf und Damjanovic/BIH bestätigt: »Zudem kann der GH dem Vorbringen der Regierung nicht beipflichten, dass – wenn eine Handlung ›nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen‹ iSd. Art. 7 Abs. 2 EMRK zur Zeit der Begehung strafbar war – die Regel der Nichtrückwirkung von Straftaten und Bestrafungen nicht zur Anwendung komme. Dieses Argument steht nicht im Einklang mit den vorbereitenden Arbeiten, die andeuten, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK als eine allgemeine Regel der Nichtrückwirkung enthaltend angesehen werden kann und dass Art. 7 Abs. 2 EMRK nur eine kontextabhängige Klarstellung des Teils dieser Regelung betreffend die Verantwortlichkeit darstellt, die integriert wurde, um sicherzustellen, dass es keinen Zweifel im Hinblick auf die Gültigkeit von Strafverfolgungen nach dem Zweiten Weltkrieg betreffend während dieses Kriegs begangener Verbrechen gab. Es ist somit klar, dass die Verfasser der Konvention nicht beabsichtigten, eine allgemeine Ausnahme zur Regel der nicht rückwirkenden Anwendung zu gestatten. [...]«
(190) Daher und unter Berücksichtigung der Schlussfolgerung des GH in Rn. 186 oben, dass die Verurteilung des Bf. unter Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht gerechtfertigt werden konnte, kann sie unter Art. 7 Abs. 2 EMRK ebenfalls nicht gerechtfertigt werden.
Ergebnis
(191) Der GH stellt fest, dass eine Verletzung von Art. 7 EMRK erfolgte (9:8 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Power-Forde sowie der Richter Villiger, Pinto de Albuquerque und Kuris; abweichendes Sondervotum von Richterin Ziemele; abweichende Sondervoten von Richterin Power-Forde allein und von Richter Kuris allein).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 10.072,– für materiellen Schaden; € 2.450,– für Kosten und Auslagen (9:8 Stimmen).
Vom GH zitierte Judikatur:
Kokkinakis/GR v. 25.5.1993 = NL 1993/4, 19 = ÖJZ 1994, 59
Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK) = NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 210 = ÖJZ 2002, 274
K.-H. W./D v. 22.3.2001 (GK) = NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 219
Jorgic/D v. 12.7.2007 = NL 2007, 184
Scoppola/I (Nr. 2) v. 17.9.2009 (GK) = NL 2009, 260
Kononov/LV v. 17.5.2010 (GK) = NL 2010, 151
Maktouf und Damjanovic/BIH v. 18.7.2013 (GK) = NL 2013, 270
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.10.2015, Bsw. 35343/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 419) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_5/Vasiliauskas.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.