JudikaturAUSL EGMR

Bsw11882/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Oktober 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Pentikäinen gg. Finnland, Urteil vom 20.10.2015, Bsw. 11882/10.

Spruch

Art. 10 EMRK - Festnahme eines Pressefotografen bei Demonstration wegen Missachtung polizeilicher Anweisungen.

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (13:4 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. arbeitet als Fotograf und Journalist für das Wochenmagazin Suomen Kuvalehti. Sein Arbeitgeber schickte ihn am 9.9.2006 zu einer Demonstration gegen den in Helsinki stattfindenden Asien-Europa-Gipfel (ASEM). Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden drohte die Kundgebung (»Smash ASEM«) gewalttätig zu werden. Die anonymen Organisatoren hatten einen Marsch angekündigt und Plakate verteilt, auf denen Teilnehmer aufgefordert wurden, »auch ein bisschen Unordnung auf die Straßen von Helsinki zu bringen«.

Die Demonstration begann am 9.9.2006 um 18:00 Uhr. Rund 500 Schaulustige, ein Kern von etwa 50 Demonstranten und rund 50 Journalisten hatten sich am Ausgangspunkt des Marsches eingefunden. Zu Beginn der Kundgebung wurden Flaschen und Steine gegen die Polizisten und gegen Passanten geschleudert. Einige der Demonstranten schlugen auf Polizeibeamte ein. Gegen 18:05 Uhr kreiste die Polizei die Demonstranten ein und verkündete über Lautsprecher, dass eine friedliche Kundgebung vor Ort gestattet sei, aber kein Demonstrationszug. Nachdem die Gewalt eskaliert war, riegelte die Polizei das Gebiet ab, um die Ausschreitungen einzudämmen. Familien mit Kindern und Journalisten durften die Polizeiabsperrung passieren. Die Polizei verkündete mehrmals über Lautsprecher, dass die Kundgebung aufgelöst sei und die Menge den Ort des Geschehens verlassen solle. Daraufhin entfernten sich hunderte Personen freiwillig. Nach seinen eigenen Angaben hörte der Bf. diese Aufforderung erstmals um 20:30 Uhr. Er rief seinen Arbeitgeber an, der ihn anwies, vor Ort zu bleiben. Gegen Ende der Kundgebung befand sich der Bf. zwischen der Polizei und den verbliebenen Aktivisten. Die Polizei forderte die Menge noch mehrmals auf, sich zu zerstreuen und kündigte an, jede Person festzunehmen, die sich nicht entfernte. Gegen 21:00 Uhr teilte ein Polizist dem Bf. persönlich mit, dass er eine letzte Chance hätte, den Ort zu verlassen.

Um 21:00 Uhr saßen noch rund 20 Personen auf dem Boden, als die Polizei begann, die Aktivisten festzunehmen. Auch der Bf. wurde verhaftet. Dabei wies er den Beamten darauf hin, dass er Journalist sei. Er wurde zu einer Polizeistation gebracht, wo er von 21:26 Uhr bis 15:05 Uhr am folgenden Tag angehalten wurde.

Am 17.12.2007 verurteilte das BG Helsinki den Bf. wegen Ungehorsam gegenüber der Polizei, sah jedoch von der Verhängung einer Strafe ab, weil es sein Verhalten als »entschuldbar« ansah. Dieses Urteil wurde vom Berufungsgericht bestätigt. Der Oberste Gerichtshof erklärte das Rechtsmittel des Bf. für unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(65) Der Bf. brachte vor, es habe ein Eingriff in sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit stattgefunden, weil ihn die Polizei aufforderte, den Ort der Demonstration zu verlassen, er festgenommen wurde und er während der 17,5 Stunden dauernden Inhaftierung keine Informationen übertragen konnte und weil er wegen einer Straftat angeklagt und verurteilt wurde, was einen »abschreckenden Effekt« auf seine Rechte und seine Arbeit hätte.

Zum Vorliegen eines Eingriffs

(83) Der Bf. wurde von der Polizei im Zusammenhang mit einer Demonstration festgenommen, rund 18 Stunden lang angehalten und [...] wegen Ungehorsam gegenüber der Polizei angeklagt und für schuldig befunden. Allerdings wurde keine Strafe verhängt [...]. Selbst wenn die umstrittenen Maßnahmen nicht auf den Bf. als Journalisten abzielten, sondern die Folge seines Versäumnisses waren, an alle in der abgeriegelten Zone aufhältigen Personen gerichtete polizeiliche Anordnungen zu befolgen, den Ort zu verlassen, wurde die Ausübung seiner journalistischen Funktionen beeinträchtigt, da er als Zeitungsfotograf anwesend war, um über die Ereignisse zu berichten. Der GH anerkennt daher, dass ein Eingriff in sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit stattgefunden hat.

Zur gesetzlichen Grundlage des Eingriffs

(85) [...] Der GH ist überzeugt davon, dass der angefochtene Eingriff, der in der Festnahme, Anhaltung und Verurteilung des Bf. bestand, eine Grundlage im finnischen Recht hatte [...]. Der GH geht daher davon aus, dass der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war.

Diente der Eingriff einem legitimen Ziel?

(86) Es wurde nicht bestritten, dass der Eingriff mehrere legitime Ziele iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK verfolgte, nämlich den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Verhütung von Straftaten.

War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

Allgemeine Grundsätze

(88) Der GH betont die wesentliche Rolle der Medien in einer demokratischen Gesellschaft. Obwohl sie gewisse Grenzen nicht überschreiten dürfen, ist es doch ihre Pflicht – in einer ihren Pflichten und Verantwortungen entsprechenden Weise – Informationen und Ideen über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verbreiten. Nicht nur haben die Medien die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu verbreiten, die Öffentlichkeit hat auch ein Recht, sie zu empfangen.

(89) In diesem Zusammenhang [...] muss die entscheidende Rolle der Medien bei der Verbreitung von Informationen über den Umgang der Behörden mit öffentlichen Demonstrationen und der Eindämmung von Ordnungsstörungen unterstrichen werden. Die Rolle der Medien als »Wachhund« erhält in einem solchen Kontext besondere Wichtigkeit, weil ihre Anwesenheit eine Garantie dafür darstellt, dass die Behörden für ihr Verhalten gegenüber Demonstranten und der Öffentlichkeit beim polizeilichen Umgang mit großen Zusammenkünften, einschließlich der Methoden zur Zerstreuung von Protestierenden oder zur Wahrung der öffentlichen Ordnung, zur Rechenschaft gezogen werden können. Jeder Versuch, Journalisten vom Ort einer Demonstration zu entfernen, muss daher einer strengen Prüfung unterzogen werden.

(90) Der GH erinnert auch daran, dass der Journalisten durch Art. 10 EMRK gewährte Schutz von der Voraussetzung abhängt, dass sie in gutem Glauben handeln, um richtige und verlässliche Informationen entsprechend den Grundsätzen des verantwortlichen Journalismus zur Verfügung zu stellen. Das Konzept des verantwortlichen Journalismus bezog sich in der Rechtsprechung des GH bislang hauptsächlich auf Fragen betreffend den Inhalt einer Veröffentlichung oder einer mündlichen Stellungnahme und weniger auf das öffentliche Verhalten eines Journalisten.

Das Konzept des verantwortlichen Journalismus, als eine den Schutz von Art. 10 EMRK genießende berufliche Aktivität, ist allerdings nicht auf den Inhalt von Information beschränkt, die mit journalistischen Mitteln gesammelt und/oder verbreitet wird. Dieses Konzept umfasst auch unter anderem die Rechtmäßigkeit des Verhaltens eines Journalisten, einschließlich seiner öffentlichen Interaktion mit den Behörden bei der Ausübung seiner journalistischen Funktionen – was für den vorliegenden Fall relevant ist. Die Tatsache, dass ein Journalist in diesem Zusammenhang das Recht verletzt hat, ist eine höchst relevante, wenn auch nicht entscheidende Überlegung bei der Entscheidung, ob er verantwortlich gehandelt hat.

(91) [...] Art. 10 Abs. 2 EMRK garantiert selbst hinsichtlich medialer Berichterstattung über Angelegenheiten von großem öffentlichem Interesse keine völlig unbeschränkte Meinungsäußerungsfreiheit. Insbesondere können Journalisten ungeachtet der zentralen Rolle der Medien in einer demokratischen Gesellschaft nicht grundsätzlich von ihrer Verpflichtung befreit werden, das gewöhnliche Strafrecht zu befolgen, weil ihnen als Journalisten Art. 10 EMRK eine unumstößliche Verteidigung bieten würde. Mit anderen Worten kann ein Journalist keine exklusive Immunität von strafrechtlicher Haftung bloß aus dem Grund beanspruchen [...], dass die fragliche Straftat während der Ausübung seiner journalistischen Funktionen begangen wurde.

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(92) [...] Die Festnahme des Bf. erfolgte im Zusammenhang mit der »Smash ASEM« Demonstration, an der er sich als Fotograf und Journalist des Wochenmagazins Suomen Kuvalehti beteiligt hatte. Es ist unumstritten, dass die Demonstration erhebliche mediale Aufmerksamkeit erregte.

(93) [...] Der vorliegende Fall betrifft nicht das Verbot einer Veröffentlichung [...] oder andere in Hinblick auf eine Publikation verhängte Sanktionen. Worum es im vorliegenden Fall geht, sind Maßnahmen, die gegen einen Journalisten ergriffen wurden, der es verabsäumte, polizeilichen Anordnungen Folge zu leisten, während er Fotos machte, um über eine Demonstration zu berichten, die einen gewaltsamen Verlauf genommen hatte.

(94) Bei der Beurteilung, ob die von den finnischen Behörden gegen den Bf. ergriffenen Maßnahmen notwendig waren, wird der GH bedenken, dass die abzuwägenden Interessen im vorliegenden Fall beide öffentlicher Natur waren, nämlich das Interesse der Polizei an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Zusammenhang mit einer gewaltsamen Demonstration und das Interesse der Öffentlichkeit am Erhalt von Informationen über eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse. [...]

Festnahme des Bf.

(96) [...] Die Polizei hatte angesichts der Risikoeinschätzung des finnischen Geheimdienstes und ihrer früheren Erfahrungen mit Unruhen, die sich im selben Jahr ereignet hatten, sowie der Plakate, auf denen zu der Demonstration aufgerufen wurde, und der Anonymität der Organisatoren gute Gründe für die Annahme, dass diese gewaltsam werden könnte. Das BG stellte später fest, dass die Handlungen der Polizei rechtmäßig gewesen waren und die Anordnung der Auflösung der Demonstration gerechtfertigt gewesen war. Der GH sieht daher keinen Grund zu bezweifeln, dass die polizeilichen Anordnungen auf einer vernünftigen Einschätzung der Sachlage beruhten. Überdies waren angesichts der Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Entwicklung der Ereignisse die präventiven Maßnahmen, einschließlich der polizeilichen Aufforderungen, den Ort der Demonstration zu verlassen, gerechtfertigt. Die Maßnahmen zielten nicht nur auf den »abstrakten« Schutz der öffentlichen Ordnung [...], sondern auch auf die Sicherheit von Individuen bei oder in der Nähe der Demonstration, einschließlich Mitgliedern der Medien und damit dem Bf. selbst.

(97) [...] Die Parteien sind uneinig darüber, ob eine sichere Pressezone bestand. Es scheint jedoch, dass die meisten Journalisten – rund 50 zu Beginn der Demonstration – in der Demonstrationszone blieben. Sie wurden – wie auch der Bf. – zu keinem Zeitpunkt von den Behörden aufgefordert, eine abgesonderte, der Presse vorbehaltene Zone zu verwenden. Außerdem konnten die gewaltsamen Ereignisse aufgrund der Art der Demonstration – ursprünglich war ein Marsch entlang einer Route vorgesehen – in einem nicht vorhersehbaren Bereich stattfinden, was schließlich auch geschah. In einer solchen Situation gab es für die Behörden keine Möglichkeit, im Vorhinein eine Zone in der Nähe dieser Ereignisse sicherzustellen. Für den GH ist folglich nicht entscheidend, ob eine solche sichere Zone existierte, weil offenbar alle Journalisten in der Zone der Demonstration waren und dort frei arbeiten konnten. Es kann daher nicht gesagt werden, dass der Bf. daran gehindert worden wäre, über das Ereignis zu berichten. Im Gegenteil konnte er während der gesamten Demonstration bis zum Zeitpunkt seiner Festnahme Fotos machen. [...]

(98) Was das Verhalten des Bf. betrifft, stellt der GH fest, dass er in einer abgeriegelten Zone festgenommen wurde, in der er sich gemeinsam mit dem harten Kern der Demonstranten befand, die sich an den Armen hielten. Anhand der DVD-Aufnahmen ist ersichtlich, dass der Bf. dunkel gekleidet war, was dem »Dress-Code« der Demonstranten entsprach. Er trug keine markante Kleidung oder andere Zeichen, die ihn als Journalisten erkennbar gemacht hätten. So trug er etwa nicht wie einige seiner Kollegen eine gelbe Weste. Auch gab es offenbar keinen Hinweis dafür, dass er für Suomen Kuvalehti arbeitete – etwa auf der vom Bf. verwendeten Kamera. Auch sein Presseausweis ist weder auf den Videoaufnahmen noch auf einem der Fotos, die den Bf. zeigen, zu sehen. Die Erscheinung des Bf. scheint daher nicht erlaubt zu haben, ihn eindeutig von den Demonstranten zu unterscheiden. Es ist daher aufgrund seiner Anwesenheit in der abgeriegelten Zone und seiner Erscheinung wahrscheinlich, dass er vor seiner Festnahme nicht ohne Weiteres als Journalist erkennbar war.

(99) Aus dem Urteil des BG und dem sonstigen Aktenmaterial geht nicht klar hervor, gegenüber welchen Polizisten sich der Bf. als Journalist zu erkennen gab. [...] Die Polizei muss jedoch spätestens auf der Polizeistation von seinem Status als Journalist erfahren haben, als ihm der ihn empfangende Polizist seinen Presseausweis abnahm, den der Bf. seinen Angaben zufolge erst seit einiger Zeit sichtbar auf der Brust trug. Anhand dieser Informationen ist der GH der Ansicht, dass der Bf., wenn er von der Polizei als Journalist anerkannt werden wollte, ausreichend klare Bemühungen unternehmen hätte sollen um sich zu erkennen zu geben, wie etwa durch das Tragen markanter Kleidung oder des ständigen sichtbaren Zeigens seines Presseausweises oder durch andere angemessene Mittel. Er verabsäumte es, dies zu tun. [...]

(100) Der Bf. behauptete, dass ihm die polizeiliche Anordnung, sich zu zerstreuen, nicht bekannt war. Wie der GH feststellt, erachtete es das BG als erwiesen, dass dem Bf. die Anordnungen der Polizei, das Gebiet zu verlassen, bekannt waren, er sich aber entschieden hatte, sie zu ignorieren. Der Bf. räumte selbst [...] ein, dass er gegen 20:30 Uhr die Anordnungen gehört hätte. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass er daraufhin seinen Arbeitgeber anrief um zu besprechen, ob er den Ort verlassen sollte oder nicht. Diese Tatsache zeigt für den GH, dass der Bf. verstand oder zumindest in Betracht zog, dass die Anordnung auch für ihn galt. Zusätzlich räumte der Bf. in seiner Stellungnahme an den GH ein, dass er rund eine halbe Stunde später persönlich von einem Polizisten aufgefordert worden war, sich zu entfernen, er aber entgegnet hatte, sich entschieden zu haben zu bleiben. Dieses Eingeständnis widerspricht seiner Behauptung, ihm wären die polizeilichen Anordnungen nicht bekannt gewesen. Der Bf. wusste somit eindeutig, was er tat und es kann nicht angenommen werden, dass ihm die polizeilichen Anordnungen nicht bekannt waren. Der GH muss daher zu dem Schluss gelangen, dass der Bf. durch die Missachtung der polizeilichen Anordnungen wissentlich das Risiko einging, wegen Ungehorsams gegenüber der Polizei festgenommen zu werden.

(101) Der GH erachtet es auch als relevant, dass alle anderen Journalisten außer dem Bf. die Anordnungen der Polizei befolgten. [...] Der Bf. hätte ebenfalls jederzeit den Ort verlassen und sich ohne irgendwelche Konsequenzen außerhalb des polizeilich abgesperrten Bereichs begeben können, solange die Abriegelung andauerte. Außerdem deutet nichts darauf hin, dass der Bf., hätte er den polizeilichen Anordnungen entsprechend die abgeriegelte Zone verlassen, seine berufliche Aktivität nicht selbst in der unmittelbaren Nähe der abgeriegelten Zone fortsetzen hätte können [...].

Freiheitsentziehung des Bf.

(102) [...] Der Bf. bringt vor, er hätte rasch befragt und freigelassen werden sollen.

(103) Die Regierung behauptete, die Dauer der Anhaltung des Bf. würde hauptsächlich durch die Tatsache erklärt, dass er spätnachts festgenommen wurde und das innerstaatliche Recht Befragungen zwischen 22:00 und 7:00 Uhr untersage. [...] Es gibt keine Informationen darüber, ob der Bf. darum ersuchte, in der Nacht sofort befragt zu werden. Der Bf. behauptet nicht einmal, dies getan zu haben. Zudem wurden insgesamt 128 Personen wegen der Demonstration festgenommen und angehalten, was die Freilassung des Bf. ebenfalls verzögert haben kann. Am nächsten Tag war der Bf. jedoch wegen seines Status als Journalist einer der ersten, der befragt und freigelassen wurde: er war der siebte Gefangene, der befragt wurde, und der sechste, der nach den Minderjährigen entlassen wurde. Diese Tatsache zeigt klar, dass die Polizeibehörden gegenüber dem Bf. als Vertreter der Medien eher ein wohlwollendes Verhalten an den Tag legten.

(104) Es ist ungewiss, ob das Mobiltelefon des Bf., seine Kameraausrüstung und seine Speicherkarten von der Polizei untersucht wurden. Der Bf. behauptet, das dies der Fall war. [...] Die Regierung behauptete, dass seine Kamera, Speicherkarten und sonstige Ausrüstung nicht konfisziert, sondern als journalistische Quellen behandelt wurden, sobald die Polizei herausgefunden hatte, dass er ein Pressevertreter war. Der Bf. widersprach dieser Behauptung der Regierung nicht.

(105) Obwohl nicht ganz klar ist, wie die Kamera des Bf. und seine Speicherkarten nach seiner Festnahme behandelt wurden, bemerkt der GH, dass vom Bf. nicht behauptet wurde, seine Kameraausrüstung und das von ihm erlangte Fotomaterial wären nicht vollständig und unverändert zurückgegeben worden. Der GH hat nicht den Eindruck, dass die Ausrüstung des Bf. zu irgendeinem Zeitpunkt beschlagnahmt wurde. Sie wurde eher der gewöhnlichen Praxis entsprechend für die Dauer seiner Anhaltung zur Seite gelegt. Außerdem wurde ihm gestattet, alle von ihm gemachten Fotos zu behalten. In keinem Stadium wurde ihm von irgendeiner Behörde eine Einschränkung der Verwendung der Fotos auferlegt.

Verurteilung des Bf.

(107) Die Demonstration war nach Ansicht des GH eine Angelegenheit von legitimem öffentlichem Interesse, insbesondere angesichts ihres Charakters. Die Medien hatten daher die Aufgabe, Informationen über dieses Ereignis zu verbreiten und die Öffentlichkeit hatte das Recht, solche Informationen zu empfangen. [...] Der GH bemerkt allerdings, dass der Bf. der einzige der rund 50 am Ort der Demonstration anwesenden Journalisten war, der eine Verletzung seiner Meinungsäußerungsfreiheit im Zusammenhang mit der Demonstration behauptete.

(108) Überdies war jeder Eingriff in seine journalistische Freiheit angesichts der ihm eingeräumten Gelegenheiten zur Berichterstattung von beschränktem Umfang. Der GH betont einmal mehr, dass das mit der strafrechtlichen Verurteilung sanktionierte Verhalten nicht die journalistische Tätigkeit des Bf. als solche war, also irgendeine Veröffentlichung durch ihn. Während die Phase vor einer Veröffentlichung ebenfalls in den Bereich der Überprüfung des GH unter Art. 10 EMRK fällt, betrifft der vorliegende Fall keine wegen der Durchführung journalistischer Recherchen oder für die Erlangung von Informationen als solcher verhängte Sanktion gegen den Bf. Die Verurteilung des Bf. betrifft nur seine Weigerung, ganz am Ende der Demonstration, die sich nach dem Urteil der Polizei zu Ausschreitungen entwickelt hatte, einer polizeilichen Anordnung zu entsprechen.

(109) Wie das BG später feststellte, hatte die Polizei gerechtfertigte Gründe für diese Anordnungen. [...] Da diese rechtmäßigen Anordnungen nicht befolgt wurden, war die Polizei befugt, die widerspenstigen Demonstranten festzunehmen und anzuhalten. Wie die Regierung aufzeigt, berechtigte die Tatsache, dass der Bf. Journalist war, ihn nicht zu einer bevorzugten oder anderen Behandlung im Vergleich zu den übrigen am Ort des Geschehens verbliebenen Personen. Dieser Zugang wird auch durch die vorliegenden Informationen unterstützt, wonach die Gesetzgebung der Mehrheit der Europaratsstaaten Journalisten keinen besonderen Status einräumt, wenn sie es verabsäumen, einer polizeilichen Anordnung entsprechend den Ort einer Kundgebung zu verlassen.

(110) [...] Der GH wiederholt, dass Journalisten nicht bloß aufgrund des ihnen durch Art. 10 EMRK gewährten Schutzes von der Pflicht befreit werden können, das gewöhnliche Strafrecht zu befolgen. Allerdings akzeptiert der GH, dass Journalisten manchmal in einen Konflikt geraten können zwischen der allgemeinen Verpflichtung, das gewöhnlichen Strafrecht zu befolgen [...], und ihrer beruflichen Verpflichtung, Informationen zu erlangen und zu verbreiten und damit den Medien zu ermöglichen, ihre wesentliche Rolle als »öffentlicher Wachhund« zu spielen. Vor dem Hintergrund dieses Interessenskonflikts muss betont werden, dass das Konzept des verantwortlichen Journalismus verlangt, dass sich ein Journalist – wie auch sein Arbeitgeber –, wann immer er eine Wahl zwischen den beiden Pflichten treffen muss und diese Wahl zum Nachteil der Pflicht zur Befolgung des gewöhnlichen Strafrechts ausgeht, bewusst sein muss, dass er das Risiko rechtlicher Sanktionen einschließlich solcher strafrechtlicher Natur eingeht, wenn er die rechtmäßigen Anordnungen unter anderem der Polizei nicht befolgt.

(111) Das BG warf die Frage auf, ob der Bf. als Journalist das Recht hatte, den Anweisungen der Polizei keine Folge zu leisten. Es stellte fest, dass die Voraussetzungen für eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. erfüllt waren. [...] Die Begründung des BG für die Verurteilung des Bf. wegen Missachtung polizeilicher Anordnungen ist knapp. Angesichts des besonderen Charakters des Eingriffs in das Recht des Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit im vorliegenden Fall erachtet sie der GH aber als relevant und ausreichend. [...]

(112) In diesem Zusammenhang erinnert der GH daran, dass die Natur und Schwere der verhängten Strafe weitere bei der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu berücksichtigende Faktoren sind. Im vorliegenden Fall nahm das BG davon Abstand, eine Strafe über den Bf. zu verhängen, da es seine Handlung als »entschuldbar« erachtete. Dabei berücksichtigte es, dass der Bf. als Journalist mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert war, die einerseits aus den ihm von der Polizei auferlegten Verpflichtungen und andererseits aus seinen Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erwuchsen.

(113) In machen Fällen kann die Tatsache der Verurteilung einer Person wichtiger sein als die geringe Art der verhängten Strafe. Im vorliegenden Fall misst der GH jedoch der Tatsache Gewicht bei, dass die Verurteilung des Bf. keine materiellen Konsequenzen für ihn hatte: da keine Strafe verhängt wurde, wurde seine Verurteilung [...] nicht einmal in das Strafregister eingetragen. Die Verurteilung des Bf. bestand lediglich in einer förmlichen Feststellung des von ihm begangenen Delikts und konnte als solche kaum einen »abschreckenden Effekt« auf Personen, die an Protestaktionen teilnehmen, oder auf die Arbeit von Journalisten haben. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Verurteilung des Bf. zu den verfolgten Zielen verhältnismäßig war.

Schlussfolgerung

(114) Mit Bezug auf alle vorgenannten Faktoren und unter Berücksichtigung des dem Staat eingeräumten Ermessensspielraums gelangt der GH zu dem Schluss, dass die innerstaatlichen Behörden im vorliegenden Fall ihre Entscheidungen auf ausreichende Gründe gestützt und einen fairen Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen geschaffen haben. Aus der Akte ergibt sich klar, dass die Behörden die Medien nicht in einem Versuch, die Handlungen der Polizei [...] vor der Öffentlichkeit zu verbergen, absichtlich daran hinderten, über die Demonstration zu berichten. Tatsächlich wurde der Bf. nicht daran gehindert, seine Arbeit als Journalist [...] auszuüben. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK war. Der GH möchte betonen, dass diese Schlussfolgerung vor den besonderen Umständen des vorliegenden Falls gesehen werden muss, in dem die Notwendigkeit, jede Beeinträchtigung der Rolle der Medien als öffentlicher Wachhund zu vermeiden, angemessen berücksichtigt wurde.

(115) Dementsprechend hat keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (13:4 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Motoc; abweichendes Sondervotum von Richter Spano, gefolgt von den Richtern Spielmann, Lemmens und Dedov).

Vom GH zitierte Judikatur:

Jersild/DK v. 23.9.1994 (GK) = NL 1994, 294 = ÖJZ 1995, 227

Bladet Tromsø und Stensaas/N v. 20.5.1999 (GK) = NL 1999, 96 = EuGRZ 1999, 453 = ÖJZ 2000, 232

Stoll/CH v. 10.12.2007 (GK) = NL 2007, 321

Gsell/CH v. 8.10.2009 = NL 2009, 291

Animal Defenders International/GB v. 22.4.2013 (GK) = NL 2013, 128

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.10.2015, Bsw. 11882/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 442) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_5/Pentikäinen.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise