JudikaturAUSL EGMR

Bsw58842/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
06. Oktober 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache ATV Privatfernseh-GmbH gg. Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 6.10.2015, Bsw. 58842/09.

Spruch

Art. 35 EMRK, § 363a StPO, § 7 MedienG - Erneuerungsantrag nach § 363a StPO ist effektiver Rechtsbehelf.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die bf. Gesellschaft wurde am 26.3.2008 vom LG Wien nach § 7 MedienG zur Zahlung einer Entschädigung von € 500,– verurteilt, weil sie durch einen Fernsehbericht über den Lebensgefährten der damaligen Gesundheitsministerin dessen höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt hatte. Sowohl die bf. Gesellschaft als auch der Antragsteller, der mit seinem Antrag nur teilweise erfolgreich gewesen war, erhoben Berufung.

Das OLG Wien gab der Berufung des Antragstellers am 15.4.2009 teilweise statt und erhöhte die zu zahlende Entschädigung um € 100,–. Das Urteil wurde dem Anwalt der bf. Gesellschaft am 4.5.2009 zugestellt.

Die bf. Gesellschaft stellte keinen Antrag an den OGH auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die bf. Gesellschaft behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur Erschöpfung des Instanzenzugs

(23) Die bf. Gesellschaft rügte, dass die Urteile der österreichischen Gerichte, mit denen die Zahlung einer Entschädigung [...] sowie die Urteilsveröffentlichung angeordnet wurde, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK verletzt hätten.

(26) Die Regierung brachte vor, die bf. Gesellschaft habe es verabsäumt, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, weil sie in Hinblick auf das Urteil vom 15.4.2009 keinen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO gestellt hatte. [...]

(28) Dies wurde von der bf. Gesellschaft bestritten, die vorbrachte, der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO habe nur Ausnahmecharakter. [...]Zudem würde die Erhebung eines solchen Antrags nicht die in Art. 35 EMRK vorgesehene Frist von sechs Monaten für die Einbringung einer Beschwerde an den EGMR unterbrechen. Ein Antrag nach § 363a StPO könne daher nicht als effektiver und angemessener Rechtsbehelf iSv. Art. 35 EMRK angesehen werden.

(30) [...] Der GH erinnert daran, dass die Regel über die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe darauf abzielt, den innerstaatlichen Stellen (in erster Linie den Gerichten) zu erlauben, sich mit Behauptungen einer Konventionsverletzung auseinanderzusetzen und wenn dies angemessen ist, Abhilfe zu schaffen, bevor die Behauptungen an den GH herangetragen werden.

(31) Nach Art. 35 EMRK sollte sich ein Bf. in der Regel jener Rechtsmittel bedienen, die verfügbar und ausreichend sind, um in Hinblick auf die behaupteten Verletzungen Abhilfe zu schaffen. Im Bereich der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe besteht eine Verteilung der Beweislast. Es ist Sache der Regierung, die eine Nichterschöpfung behauptet, den GH davon zu überzeugen, dass der Rechtsbehelf zur gegenständlichen Zeit theoretisch und praktisch verfügbar und effektiv war, dass er mit anderen Worten zugänglich und geeignet war, in Hinblick auf die Rügen des Bf. Abhilfe zu schaffen, und ausreichende Erfolgsaussichten bot. Sobald diese Beweislast erfüllt wurde, ist es Sache des Bf. nachzuweisen, dass der von der Regierung ins Treffen geführte Rechtsbehelf tatsächlich erschöpft wurde oder aus irgendeinem Grund unter den speziellen Umständen des Falles unangemessen oder ineffektiv war oder dass besondere Umstände bestanden, die ihn von diesem Erfordernis befreiten.

(32) Der GH stellt fest, dass der OGH in einer Leitentscheidung vom 1.8.2007 entschieden hat, dass Personen, die von einem Strafgericht verurteilt wurden oder von einer Anordnung eines solchen Gerichts betroffen waren, beim OGH beantragen können zu überprüfen, ob dieses Strafgericht gegen ihre Konventionsrechte verstoßen hat. Gemäß § 363a Abs. 2 StPO muss der OGH über einen solchen Antrag entscheiden. In den folgenden Jahren entschied der OGH in mehreren Fällen über Anträge nach dieser Bestimmung. [...]

(33) [...] Die bf. Gesellschaft wurde von einem Strafgericht gemäß § 7 MedienG zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt. Die Berufung wurde vom OLG abgewiesen und der OGH war an dem innerstaatlichen gerichtlichen Verfahren nicht beteiligt, da das Gesetz in solchen Fällen keine Möglichkeit einer Nichtigkeitsbeschwerde an den OGH vorsieht. Aus dem verfügbaren Material geht hervor, dass diese Bestimmung vom OGH in seiner Rechtsprechung zu § 363a StPO in mehreren diese Thematik betreffenden Fällen angewendet wurde.

(34) Der Rechtsbehelf eines Antrags nach § 363a StPO war für die bf. Gesellschaft verfügbar. Als sie die vorliegende Beschwerde am 4.11.2009 erhob, musste der von einem Anwalt unterstützten bf. Gesellschaft diese Möglichkeit bekannt gewesen sein.

(35) Die bf. Gesellschaft stellte keinen Antrag an den OGH und hat nicht gezeigt, dass dieser Rechtsbehelf unter den besonderen Umständen des Falls unangemessen oder ineffektiv war oder dass besondere Umstände bestanden, die sie von diesem Erfordernis befreit hätten.

(36) Daher hat es die bf. Gesellschaft verabsäumt, alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen [...].

(37) Daraus folgt, dass die Beschwerde [als unzulässig] zurückgewiesen werden muss [...] (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kudla/PL v. 26.10.2000 (GK) = NL 2000, 219 = EuGRZ 2004, 484 = ÖJZ 2001, 908

Azinas/CY v. 28.4.2004 (GK) = NL 2004, 89

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 6.10.2015, Bsw. 58842/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2015, 554) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_6/ATV.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise