Bsw7997/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Kuttner gg. Österreich, Urteil vom 16.7.2015, Bsw. 7997/08.
Spruch
Art. 5 Abs. 4 EMRK - Verspätete Prüfung einer Unterbringung nach § 21 StGB.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der mehrfach vorbestrafte Bf. wurde am 21.1.2005 vom LG Linz wegen schwerer absichtlicher Körperverletzung zu sechs Jahren Haft verurteilt. Aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens stellte das Gericht fest, dass der Bf. für seine Handlungen verantwortlich war, er aber an einer schweren geistigen Störung litt, eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellte und wahrscheinlich rückfällig werden würde. Aus diesen Gründen ordnete das Gericht neben der Freiheitsstrafe auch seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 StGB an. Am 7.6.2005 wies das OLG Linz die Berufung des Bf. gegen dieses Urteil ab. Am selben Tag wurde er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher in Garsten überstellt.
Am 31.3.2006 wies das LG Steyr einen ersten Antrag des Bf. auf Entlassung aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ab. Das dagegen erhobene Rechtsmittel wurde am 9.5.2006 vom OLG Linz abgewiesen.
Am 10.1.2007 beantragte der Bf. erneut die Aufhebung seiner Unterbringung nach § 21 Abs. 2 StGB, um seine restliche Freiheitsstrafe in einer gewöhnlichen Haftanstalt verbüßen zu können. Das LG Steyr ordnete im März 2007 eine neuerliche psychiatrische Untersuchung an. Am 23.6.2007 stellte der Bf. einen Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG. Am 10.7.2007 übermittelte die Psychiaterin ihr Gutachten, wonach der Bf. weiterhin an einer schweren geistigen Störung litt und nach wie vor die Gefahr der Begehung schwerer Straftaten bestand. Das OLG Linz trug dem LG Steyr am 30.7.2007 in Stattgebung des Fristsetzungsantrags auf, bis spätestens 3.8. eine Entscheidung zu fällen. Am folgenden Tag ordnete das LG Steyr die weitere Unterbringung des Bf. in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an.
Die dagegen erhobene Berufung wurde am 10.9.2007 abgewiesen. Zur Rüge der überlangen Verfahrensdauer stellte das OLG Linz fest, dass dem Erfordernis der alljährlichen Überprüfung (§ 25 Abs. 3 StGB) nach ständiger Rechtsprechung des OGH entsprochen sei, wenn die Überprüfung vor Ablauf eines Jahres vom zuständigen Gericht eingeleitet werde.
Am 10.9.2009 wurde schließlich die Aufhebung der Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet, der noch nicht verbüßte Teil der Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen und der Bf. unter einer Reihe von Auflagen aus der Haft entlassen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Haftprüfung) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK
(24) Der Bf. brachte vor, die Dauer des Verfahrens über seinen zweiten Antrag auf Entlassung aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher habe eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK begründet. [...]
Zulässigkeit
(26) Die Regierung [...] betonte die Natur der Anhaltung des Bf.: § 21 Abs. 2 StGB ermögliche es dem Gericht, zusätzlich zur Verhängung einer Freiheitsstrafe die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher anzuordnen. [...] Wenn eine Freiheitsstrafe vom verurteilenden Gericht verhängt werde, wäre die von Art. 5 Abs. 4 EMRK geforderte Überprüfung der Rechtmäßigkeit in der ursprünglichen Verurteilung enthalten. Daher sei – weil der Bf. nicht seine Entlassung beantragt hätte, sondern nur eine Verlegung von einem Gefängnistyp in einen anderen – diese Bestimmung im vorliegenden Fall nicht anwendbar.
(29) [...] Art. 5 Abs. 4 EMRK garantiert eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft. Diese Überprüfung ist in der Entscheidung enthalten, mit der einer Person die Freiheit entzogen wird, wenn sie von einem Gericht zum Abschluss eines gerichtlichen Verfahrens getroffen wird. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Freiheitsstrafe nach einer Verurteilung durch ein zuständiges Gericht iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK ausgesprochen wird. Art. 5 Abs. 4 EMRK kann jedoch die Möglichkeit einer nachfolgenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung durch ein Gericht erfordern. Dies trifft üblicherweise auf die Anhaltung psychisch kranker Personen iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK zu, wo die ursprünglich eine psychiatrische Unterbringung erfordernden Gründe wegfallen können. [...]
(30) Im vorliegenden Fall traf das LG Linz, als es den Bf. am 21.1.2005 verurteilte, zwei wesentliche Anordnungen. Erstens verhängte es eine sechsjährige Freiheitsstrafe über den Bf. und zweitens ordnete es seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 StGB an. Diese vom OLG Linz am 7.6.2005 bestätigte Anordnung stellte eine ursprüngliche Entscheidung dar, wonach der Bf. in einer solchen Einrichtung untergebracht werden konnte. Der zweite Teil der Anordnung, der parallel zur Freiheitsstrafe lief, erforderte die Unterbringung des Bf. in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, solange diese Maßnahme notwendig war.
(31) Im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK war die Freiheitsentziehung des Bf. damit ursprünglich sowohl von lit. a als auch von lit. e dieser Bestimmung gedeckt. Sein Antrag vom 10.1.2007 an das LG auf Aufhebung der Anordnung nach § 21 Abs. 2 StGB war jedoch kein allgemeiner Antrag auf Überprüfung seiner Freiheitsentziehung. Der Bf. behauptete vielmehr, dass die Gründe für seine Anhaltung nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK weggefallen waren. Er begehrte die Aufhebung der Maßnahme der Unterbringung nach § 21 Abs. 2 StGB, die parallel zu seiner Freiheitsstrafe lief, aber nach dem innerstaatlichen Recht gesondert angefochten werden konnte, selbst wenn dies zur damaligen Zeit nicht zu seiner Entlassung führen hätte können, sondern nur zu einer Verlegung in ein gewöhnliches Gefängnis. In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass es in Fällen der Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen, in denen die ursprünglich die Anhaltung erfordernden Gründe wegfallen können, dem Ziel und Zweck von Art. 5 EMRK widersprechen würde, Abs. 4 so auszulegen, als würde er diese Kategorie der Anhaltung von einer späteren Überprüfung der Rechtmäßigkeit ausnehmen, nur weil die ursprüngliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK von einem Gericht getroffen wurde. Dies muss sogar dann der Fall sein, wenn die Überprüfung nach Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht zur Entlassung, sondern zu einer Überstellung in ein gewöhnliches Gefängnis führen würde. Der Grund dafür, eine Überprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK zu garantieren, ist für in einer psychiatrischen Anstalt angehaltene Personen gleich wichtig, egal ob sie Freiheitsstrafen wegen strafbarer Handlungen verbüßen oder nicht. Der GH wiederholt außerdem, dass nach dem österreichischen Recht eine gesonderte Anfechtung einer solchen Unterbringung vorgesehen ist.
(32) Angesichts dessen erachtet der GH Art. 5 Abs. 4 EMRK als anwendbar auf das fragliche Verfahren.
(33) Der GH hält die Beschwerde nicht für offensichtlich unbegründet [...] oder aus einem anderen Grund für unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Entscheidung in der Sache
(39) Wie der GH zunächst feststellt, verlangt § 25 Abs. 3 StGB, dass ein Gericht zumindest einmal jährlich »prüft«, ob die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher noch notwendig ist. Diese Bestimmung wurde vom OGH dahingehend ausgelegt, dass ihr entsprochen wird, wenn die Prüfung innerhalb eines Jahres seit der letzten Entscheidung eingeleitet wurde (Anm: OGH 30.9.1980, 10 Os 79/80). Der GH nimmt zur Kenntnis, dass dieser Anforderung des innerstaatliches Rechts und der Rechtsprechung offensichtlich entsprochen wurde.
(40) Allerdings muss nach der Rechtsprechung des GH eine solche Entscheidung auch zügig getroffen werden. Der GH bemerkt, dass das OLG in seiner Entscheidung vom 30.7.2007 feststellte, dass das LG seiner Verpflichtung nicht entsprochen hatte, innerhalb angemessener Frist eine Entscheidung zu treffen.
(41) Der GH stellt insbesondere fest, dass kein Hinweis darauf besteht, der Bf. habe irgendwelche Verzögerungen bei der Prüfung seines Antrags verursacht. Im Gegenteil machte er Gebrauch von jenem Rechtsbehelf, der ihm zur Verfügung stand, um das Verfahren zu beschleunigen, nämlich einem Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG.
(42) Was das Verhalten der Gerichte betrifft, ist der GH der Ansicht, dass es im Verfahren vor dem LG zu erheblichen Verzögerungen gekommen ist, worauf das OLG in seiner Entscheidung vom 30.7.2007 hingewiesen hat. Der GH ist weiters der Ansicht, dass die Verzögerung bei der Vorlage des psychiatrischen Gutachtens dem LG zuzurechnen ist. Diese Verzögerungen, welche sich vor dem erstinstanzlichen Gericht ereigneten, können nicht durch die Tatsache aufgewogen werden, dass das OLG seine Rechtsmittelentscheidung nur vier Wochen nach Einlangen des Rechtsmittels des Bf. erließ.
(43) Unter Berücksichtigung des Verhaltens der Gerichte findet der GH, dass unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls die Zeitspanne von 16 Monaten zwischen den endgültigen Entscheidungen im ersten und im zweiten Verfahren (9.5.2006 bis 10.9.2007) über die weitere Unterbringung des Bf. in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nicht dem Erfordernis der »Raschheit« nach Art. 5 Abs. 4 EMRK entsprach. Daher hat eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK
(44) Der Bf. behauptete weiters, dass das oben genannte Verfahren unverhältnismäßig lange gedauert und daher Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hätte. [...]
(47) Auch wenn dieser Teil der Beschwerde zulässig ist, erachtet der GH eine weitere Prüfung angesichts seiner Feststellungen unter Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht für notwendig (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Zu den sonstigen behaupteten Verletzungen
(48) Schließlich rügte der Bf. [...], dass er sich nicht beim OGH über die Dauer des Verfahrens beschweren konnte. Außerdem wäre ein Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG kein wirksamer Rechtsbehelf [...].
(49) Dieser Teil der Beschwerde ist als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 3.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Herczegfalvy/A v. 24.9.1992 = NL 1992, 25 = EuGRZ 1992, 535 = ÖJZ 1993, 96
Iribarne Pérez/F v. 24.10.1995
Erkalo/NL v. 2.9.1998 = NL 1998, 184
Reinprecht/A v. 15.11.2005 = NL 2005, 291 = ÖJZ 2006, 511
Lebedev/RUS v. 25.10.2007 = NL 2007, 264
Mooren/D v. 9.7.2009 (GK) = NL 2009, 205 = EuGRZ 2009, 566
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.7.2015, Bsw. 7997/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 316) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_4/Kuttner.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.