JudikaturAUSL EGMR

Bsw20378/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
09. Juli 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Martzaklis u.a. gg. Griechenland, Urteil vom 9.7.2015, Bsw. 20378/13.

Spruch

Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK, Art. 3 EMRK iVm. Art. 13 EMRK - Erniedrigende und diskriminierende Haftbedingungen für HIV-positive Personen in einem Gefängnishospital.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 iVm. Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 iVm. Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um dreizehn griechische Staatsangehörige, von denen jeder HIV-positiv ist und einen Invaliditätsgrad von mindestens 67 % aufweist. Sie alle verbüß(t)en Freiheitsstrafen und sind bzw. waren in der psychiatrischen Abteilung des Hospitals Aghios Pavlos der Strafvollzugsanstalt Korydallos untergebracht.

Mit auf § 572 StPO fußender Petition vom 5.10.2012 wandten sich 45 HIV-positive Häftlinge, darunter die Bf., an den für obiges Gefängnis als Überwachungsorgan zuständigen Staatsanwalt und beklagten sich über die Anhaltebedingungen im Gefängnishospital. Obwohl dieses überbelegt sei, würden ständig neue Patienten aufgenommen. Zudem müssten sie mit Häftlingen mit ansteckenden Krankheiten wie Hepatitis und Tuberkulose eine Zelle teilen. An Krätze leidenden Häftlingen sei nur eine kleine Menge von Cremes verabreicht worden. Obwohl die Unterwäsche der kranken Häftlinge täglich heiß gewaschen werden sollte, sei die Waschmaschine außer Betrieb. Bei der Medikamentenausteilung würden sie von den Krankenschwestern angewiesen, wegen der Infektionsgefahr nicht die Gitterstäbe zu berühren, durch die man ihnen die Medikamente aushändige. Darüber hinaus habe ihnen das Krankenhauspersonal niemals offiziell mitgeteilt, wie man die negativen Auswirkungen einer Epidemie minimieren könne.

Am 12.10.12 informierte der Staatsanwalt die betroffenen Häftlinge darüber, dass von der Krätze lediglich 15 Personen betroffen seien.

Die HIV-positiven Häftlinge einschließlich der Bf. erhoben gemäß § 6 StVG auch Beschwerde beim Beirat des Spitals, ohne darauf jedoch eine Antwort zu erhalten.

In der Folge suchte eine Delegation von betroffenen Häftlingen den zuständigen Staatsanwalt auf und machte ihn erfolglos auf die mittlerweile untragbare Situation im Hospital aufmerksam.

Vor dem GH legen die Bf. dar, ihre Zellen seien dermaßen überbelegt, dass ihnen nicht einmal 2 m2 Platz zum Leben (einschließlich Bett und Toilette) verbleibe. Die Waschräume würden minimalen Hygieneanforderungen nicht entsprechen, die Nahrung sei arm an Nährwerten (was den Ausbruch von Krankheiten begünstige) und die Unterkünfte wären unzureichend beheizt. Eine Raucherregelung existiere nicht, sodass Häftlinge mit Atemwegserkrankungen dem Passivrauch schutzlos ausgeliefert wären. Einen medizinischen Spezialisten für Infektionskrankheiten gäbe es nicht. Diagnosen würden automatisch erstellt und stets dieselben Medikamente ohne persönliche Untersuchung der Patienten verschrieben. Ferner sei es bei der Zuteilung von gewissen Bf. verschriebenen Medikamenten zu zeitlichen Verzögerungen – von einer Woche bis zu einem Monat – gekommen. Bei anderen Bf. sei mit einer Behandlung noch gar nicht begonnen worden, da die Ärzte gemeint hätten, für eine Behandlung sei es noch zu früh.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) alleine und iVm. Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK

Die Bf. rügen die Anhaltebedingungen im Hospital Aghios Pavlos und ihre »Ghettoisierung« in einem speziellen Flügel dort. Sie beklagen sich ferner über das Versäumnis der Behörden zu untersuchen, ob diese Bedingungen mit ihrem Gesundheitszustand vereinbar waren.

Zur Zulässigkeit

(48) Laut der Regierung sei die Beschwerde wegen fehlender Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges zurückzuweisen. [...] Den Bf. wäre es nämlich offen gestanden, gemäß § 110A Abs. 2 StGB (Anm: § 110A Abs. 1 StGB sieht unter bestimmten Voraussetzungen die bedingte Freilassung von strafrechtlich verurteilten Personen vor, die an AIDS erkrankt sind. Laut Abs. 2 dieser Bestimmung hat sich der Verurteilte, wenn er glaubt, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, an die Anklagekammer des Strafgerichts zu wenden, welche vor ihrer Entscheidung ein Expertengutachten über diese Frage einzuholen hat.) einen Antrag [auf bedingte Entlassung] zu stellen. Außerdem hätten jene Bf., welche in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden waren und die dagegen ein Rechtsmittel mit nicht aufschiebender Wirkung eingelegt hatten, zudem unter Berufung auf § 497 Abs. 7 StPO die Aussetzung der Urteilsvollstreckung beantragen können [...].

(53) Der GH merkt an, dass dem einschlägigen nationalen Recht zufolge strafrechtlich verurteilte Personen, bei denen AIDS bereits ausgebrochen ist, ihre sofortige Freilassung [...] gemäß § 110A StGB beantragen können. In erster Instanz verurteilte HIV-positive Personen können auf der Grundlage von § 497 StPO ebenfalls um Entlassung ansuchen, wenn sie überzeugend darzulegen vermögen, dass sie im Fall des Verbleibs in Haft irreparablen Schaden erleiden würden. Beschuldigte können diese Regelung daher nicht in Anspruch nehmen.

(54) Im vorliegenden Fall waren die Bf. zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung [...] lediglich HIV-positiv, sodass sie nicht in den Genuss von § 110A StGB kommen konnten.

(55) Der GH hält fest, dass die Gerichte den Rechtsmitteln der in erster Instanz strafrechtlich verurteilten Bf. keine aufschiebende Wirkung gemäß § 497 Abs. 4 StPO zuerkannt haben. Diese Bestimmung sieht vor, dass das Strafgericht bei seiner Entscheidung über die Zuerkennung aufschiebender Wirkung die Kriterien des Abs. 8 leg. cit. (Anm: Demnach ist aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn ein Weiterverbleib in der Haft für den Verurteilten einen übermäßigen und irreparablen Schaden zur Folge hätte.) zu beachten hat. Indem sie den Rechtsmitteln der Bf. keine aufschiebende Wirkung zuerkannten, gingen die Gerichte offensichtlich von der Annahme aus, deren Gesundheitszustand würde einer Anhaltung nicht entgegenstehen. Ein auf § 497 Abs. 7 StPO gestellter Antrag der Bf., wie er von der Regierung in Aussicht gestellt wird, hätte daher nach Ansicht des GH nicht zu einer anderen Entscheidung wie nach § 497 Abs. 4 StPO geführt, hätte sich der Gesundheitszustand der Bf. nicht plötzlich und rasant verschlechtert.

(56) Der GH weist auch darauf hin, dass sich die Bf. erfolglos gemäß § 6 StVG beim Beirat des Spitals und nach § 572 StPO beim für das Gefängnis Korydallos zuständigen Staatsanwalt beschwert haben. Er hält in diesem Zusammenhang fest, dass er bereits im Fall Papakonstantinou/GR festgehalten hat, dass – wenn ein Bf. behauptet, von Haftbedingungen im Gefängnis persönlich betroffen zu sein – die in den obigen Bestimmungen garantierten Rechtsbehelfe »brauchbar« sein müssen.

(57) Die Einführung von § 19 Gesetz Nr. 4.242/2014 betreffend die Freilassung aus gesundheitlichen Gründen (Anm: Diese Bestimmung sieht vor, dass zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe von höchstens zehn Jahren verurteilte Straftäter, die unter anderem Träger des HI-Virus sind, nach Verbüßung von zwei Fünfteln ihrer Haft bedingt freizulassen sind.) hat zwar dazu geführt, dass drei Bf. mittlerweile bedingt auf freien Fuß gesetzt wurden, jedoch ist die entsprechende Regelung erst am 28.2.2014 in Kraft getreten.

(58) Daraus folgt, dass die Bf. zum Zeitpunkt der Einbringung ihrer Beschwerde (9.3.2013) und mit Rücksicht auf ihren damaligen Gesundheitszustand [...] nicht über einen Rechtsbehelf verfügten, mit dem sie sich über ihre Anhaltebedingungen im Gefängnisspital wirksam beschweren bzw. ihre bedingte Freilassung beantragen konnten. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.

(59) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(64) Der GH erinnert daran, dass Art. 3 EMRK nicht derart interpretiert werden kann, dass er eine generelle Verpflichtung enthält, einen Häftling aus gesundheitlichen Gründen freizulassen oder ihn in ein ziviles Krankenhaus zu verbringen, damit er in den Genuss einer bestimmten medizinischen Behandlung kommt. Allerdings hat der Staat sicherzustellen, dass jeder Häftling unter die Menschenwürde achtenden Bedingungen angehalten wird und dass die Modalitäten des Strafvollzugs ihn keinem Stress [...] aussetzen, der das unvermeidliche Ausmaß an Leiden überschreitet, das mit einer Freiheitsentziehung einhergeht. Ferner hat er dafür zu sorgen, dass der Gesundheit und dem Wohlbefinden des Häftlings – insbesondere durch die Bereitstellung der erforderlichen medizinischen Betreuung – in angemessener Weise Rechnung getragen wird.

(65) Die Behörden müssen sich auch vergewissern, dass die Diagnose und die medizinische Behandlung von Häftlingen im Gefängnis einschließlich des angeschlossenen Spitals zügig und angemessen erstellt bzw. durchgeführt werden. [...]

(69) Der GH vermerkt [zunächst], dass die Regierung, abgesehen von allgemein gehaltenen Ausführungen zum Hospital Aghios Pavlos, das spezielle Vorbringen der Bf. nicht wirklich abstreitet.

(70) Er will auch keineswegs das ursprünglich von den Strafvollzugsbehörden verfolgte Ziel in Frage stellen, nämlich HIV-positive Personen wie die Bf. in das Gefängnishospital zu überstellen, weil sie dort von einer besseren Pflege und einer regelmäßigen medizinischen Beaufsichtigung profitieren konnten. Der GH nimmt auch Notiz von den Argumenten der Regierung, wonach man die Situation der Bf. keineswegs als »Ghettoisierung« bezeichnen könne, vielmehr ihre Verbringung dorthin durch die Notwendigkeit gerechtfertigt gewesen wäre, eine bessere medizinische Betreuung zu gewährleisten, sie vor Infektionskrankheiten zu schützen, ihnen Erholung zu bieten, längere Spaziergänge sicherzustellen und ihnen Zugang zu für sie eigens reservierter Nahrung und Waschgelegenheit zu verschaffen.

(71) Wenn man also von einer unterschiedlichen Behandlung der Bf. ausgehen will, verfolgte diese dennoch ein legitimes Ziel, nämlich ihnen im Verhältnis zu den übrigen Mithäftlingen vorteilhaftere Anhaltebedingungen zu verschaffen. Einer unterschiedlichen Behandlung fehlt es jedoch an einer objektiven und angemessenen Rechtfertigung, wenn kein vernünftiges Verhältnis zwischen den verwendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht. Gesetzt den Fall, es wäre angebracht, einen HIV-positiven Häftling von den übrigen Häftlingen abzusondern, muss er an einen Ort gebracht werden, der seinen medizinischen Bedürfnissen bzw. seinem Wohlbefinden angemessen Rechnung trägt.

(72) Der GH hält einerseits fest, dass die Bf. lediglich HIV-positiv waren und bei ihnen die Krankheit noch nicht ausgebrochen war. Sie hätten daher nicht isoliert untergebracht werden müssen, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern und eine Ansteckung von anderen Häftlingen zu vermeiden. Besonderes Gewicht ist andererseits auf die Feststellungen des griechischen Ombudsmanns und auf die Interventionen des Justizministers und des Generalprokurators sowie die Aufrufe der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und des Anti-Folter-Komitees (CPT) zu legen. Diese zeigen, dass die guten Absichten der griechischen Behörden sich nicht verwirklicht hatten, was die Situation in der psychiatrischen Abteilung des Hospitals [der Strafvollzugsanstalt Korydallos] betrifft. In seinem Bericht vom 26.10.2012 monierte der griechische Ombudsmann, dass Personen wie die Bf. keine regelmäßige medizinische Behandlung bekommen würden, ferner berichtete er von der Schwierigkeit, sie in einer Umgebung zu behandeln, wo das Risiko der Übertragung von Infektionskrankheiten besonders hoch sei. Ferner bemängelte er in einer Presseerklärung vom 6.3.2014, dass die Infrastruktur überaltert und völlig ungeeignet sei, dass zu wenig medizinisches Personal vorhanden sei und die Konzentration von HIV-positiven Personen in einem Gefängnisflügel eine Situation der »Ghettoisierung und Stigmatisierung« geschaffen habe. Das CPT seinerseits unterstrich, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit es nicht zu rechtfertigen vermöge, Häftlinge nur wegen ihrer Einstufung als HIV-positiv zu isolieren.

(73) Die Parlamentarische Versammlung des Europarats ihrerseits hat im März 2014 besorgt festgehalten, dass das für 60 Personen konzipierte Spital derzeit 200 Häftlinge beherberge, von denen der Großteil HIV-positiv sei und an ansteckenden Krankheiten wie Tuberkulose und Hepatitis leide. Unter derartigen Umständen sei es unmöglich, den Insassen eine adäquate medizinische Behandlung zu garantieren.

(74) Laut den auf [...] Presseartikel gestützten und von der Regierung nicht in Abrede gestellten Angaben der Bf. befanden sich mit Stand Jänner 2014 209 Häftlinge im Hospital Aghios Pavlos, von denen 128 Träger des HI-Virus waren. Auch hier ist wiederum die Rede von Unterbrechungen und Verspätungen, was die Medikamentenzuteilung angeht.

(75) Unter diesen Umständen sieht der GH die [behaupteten] schlechten materiellen und sanitären Anhaltebedingungen im genannten Spital sowie die Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der adäquaten Behandlung als erwiesen an. Die Bf. wurden bzw. einige von ihnen werden einem physischen und mentalen Leiden unterworfen, welches das einer Anhaltung gewöhnlich innewohnende Maß übersteigt. Sie wurden daher einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt. Ferner mangelte es ihrer Absonderung [von den übrigen Häftlingen] an einer objektiven und angemessenen Rechtfertigung, da diese unter den gegebenen Umständen nicht notwendig war. Es liegt folglich eine Verletzung von Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 iVm. Art. 13 EMRK

(76) Die Bf. beklagen sich darüber, dass sie kein effektives Rechtsmittel iSv. Art. 13 EMRK zur Verfügung gehabt hätten, mit dem sie einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK hätten rügen können, was ihre Anhaltebedingungen und medizinische Behandlung im Gefängnishospital betreffe.

(79) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist [...] für zulässig zu erklären (einstimmig). Mit Rücksicht auf seine Schlussfolgerungen zur Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs kommt der GH zu dem Schluss, dass die von der Regierung angeführten Rechtsbehelfe den Anforderungen von Art. 13 EMRK nicht Genüge zu tun vermögen. Verletzung von Art. 3 iVm. Art. 13 EMRK (einstimmig).

Zu den anderen gerügten Verletzungen

(80) Die Bf. beklagen sich unter Art. 3 iVm. Art. 14 EMRK über eine diskriminierende Behandlung zwischen HIV-positiven Personen, die aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung ihre Haft verbüßen, und solchen, welche in Untersuchungshaft sitzen: Erstere könnten ihre Freilassung gemäß § 110A StGB und § 497 Abs. 7 StPO beantragen, während zweitere nicht in den Genuss dieser Bestimmungen kommen könnten.

(82) Dazu ist festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung alle Bf. mit Ausnahme des Bf. Chamitoglou als strafrechtlich Verurteilte – und nicht als Beschuldigte – einsaßen. Speziell zum Bf. Chatzikos hält der GH Folgendes fest: Dieser wurde am 13.7.2012 in Haft genommen und befand sich vom 16.8.2012 bis zum 5.4.2013 in Untersuchungshaft. An letztgenanntem Datum wurde er vom Athener Strafgericht zweiter Instanz zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. [...] Bereits zuvor war er mehrere Male strafrechtlich verurteilt worden [...], nämlich zu einer siebenmonatigen [...] und zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe.

(83) Was den Bf. Chamitoglou betrifft, befand er sich vom 1.10.2013 bis zum 10.2.2014 als Beschuldigter in Haft, am letztgenanntem Datum wurde er vom Strafgericht zweiter Instanz freigesprochen. Aus den Akten geht jedoch vor, dass der Bf. einfacher Träger des HI-Virus war und sich daher in dieser Eigenschaft nicht als Opfer einer diskriminierenden Behandlung gegenüber einem Verurteilten in derselben Situation erachten kann, setzt doch der auf verurteilte Straftäter anwendbare § 110A StGB voraus [...], dass es beim Betroffenen zum Ausbruch der Krankheit gekommen ist und er nicht bloß Träger des Virus ist. Im Übrigen betrifft § 497 StPO nur die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels, das eine in erster Instanz verurteilte Person einlegen kann, und hat nicht speziell Häftlinge mit einer Krankheit im Auge, außer die [weitere] Anhaltung könnte ihnen übermäßigen und irreparablen Schaden zufügen. Schließlich ist zu sagen, dass der Genannte am 17.3.2014 aus gesundheitlichen Gründen in Anwendung von Art. 19 des Gesetzes Nr. 4.242/2014 [...] bedingt entlassen wurde.

(84) Daraus folgt, dass keiner der Bf. sich über eine unterschiedliche Behandlung, gestützt auf eine Unterscheidung zwischen Beschuldigtem und Verurteilten, stützen kann. Dieser Beschwerdepunkt ist gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 10.000,– an jeden Bf. für immateriellen Schaden; insgesamt € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kudla/PL v. 26.10.2000 (GK) = NL 2000, 219 = ÖJZ 2001, 908 = EuGRZ 2004, 484

Aleksanyan/RUS v. 22.12.2008

Pitalev/RUS v. 30.7.2009

Papakonstantinou/GR v. 13.11.2014

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.7.2015, Bsw. 20378/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 312) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_4/Martzaklis.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise