Bsw40167/06 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Sargsyan gg. Aserbaidschan, Urteil vom 16.6.2015, Bsw. 40167/06.
Spruch
Art. 1 1. Prot. EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK - Eigentumsrechte Vertriebener im Bergkarabach-Konflikt.
Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (15:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 8 EMRK (15:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 13 EMRK (15:2 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist nicht entscheidungsreif (15:2 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Im September 1991 wurde die Republik Bergkarabach ausgerufen, die das Gebiet des Autonomen Oblast Bergkarabach und der in Aserbaidschan liegenden Region Schahumjan umfasste. Nach einem Referendum bekräftigte die Republik Bergkarabach im Jänner 1992 ihre Unabhängigkeit von Aserbaidschan. Daraufhin eskalierte der Konflikt zu einem Krieg zwischen Aserbaidschan und der Republik Bergkarabach. Bis Ende 1993 brachten armenische Truppen beinahe das gesamte Gebiet Bergkarabachs sowie der angrenzenden Bezirke Aserbaidschans unter ihre Kontrolle. Am 5.5.1994 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet, der bis heute gilt. Friedensverhandlungen fanden unter Vermittlung der OSZE statt, bis heute wurde jedoch keine politische Lösung des Konflikts gefunden. Die Republik Bergkarabach wurde von keinem einzigen Staat anerkannt.
Zwischen 1988 und 1994 wurden geschätzte 750.000 bis 800.000 Angehörige der Volksgruppe der Azeris aus Bergkarabach, Armenien und den sieben an Bergkarabach angrenzenden aserbaidschanischen Bezirken vertrieben.
Der Bf. lebte nach eigenen Angaben bis Juni 1992 mit seiner Familie in Gulistan, einem Dorf in der aserbaidschanischen Region Schahumjan, wo er ein Haus und ein Grundstück besaß. Er gehört zur Volksgruppe der Armenier. Schahumjan grenzt an die Republik Bergkarabach, die Ansprüche auf das Gebiet erhob. 1991 führten aserbaidschanische Spezialeinheiten Operationen in dem Gebiet durch, die angeblich der Entwaffnung militanter Armenier dienten. Nach verschiedenen Quellen war dies jedoch nur ein Vorwand, um die armenische Bevölkerung zu vertreiben. Als der Konflikt 1992 eskalierte, wurde die Region von aserbaidschanischen Truppen angegriffen. Als Gulistan im Juni 1992 bombardiert wurde, floh der Bf. mit seiner Familie nach Armenien, wo sie fortan als Flüchtlinge lebten. Der Bf. verstarb 2009.
Heute ist Gulistan verlassen und weitgehend verfallen. Es liegt am Nordufer des Flusses Indzachay im Territorium Aserbaidschans. Der Fluss bildet die Grenze zwischen Aserbaidschan und der Republik Bergkarabach. Das Dorf ist von militärischen Stellungen beider Konfliktparteien umgeben.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Einleitung
(101) Der Bf. verstarb 2009. In seiner Entscheidung über die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde stellte der GH fest, dass seine Witwe [...] und ihre Kinder [...] den Wunsch geäußert hatten, das Verfahren vor dem GH fortzuführen, und dass sie dazu berechtigt sind.
(102) [...] Die Witwe des Bf. [...] verstarb im Jänner 2014. [...] Der Sohn und die Tochter des Bf. wollen das Verfahren fortführen. Der GH hat bereits festgestellt, dass sie dazu befugt sind [...].
(104) Der GH erachtet es als angemessen, die Fragen der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs und der fehlenden Hoheitsgewalt und Verantwortlichkeit als separate Punkte zu prüfen, während er die Einrede der Regierung betreffend die Opfereigenschaft des Bf. hinsichtlich der Gräber seiner Verwandten bei der Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK behandeln wird.
Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
(117) Der GH stellt [...] fest, dass die Anwendung von Art. 35 Abs. 1 EMRK vor dem allgemeinen Hintergrund des Bergkarabach-Konflikts erfolgen muss. Während die militärische Phase des Konflikts mit dem Waffenstillstand von Mai 1994 endete, wurde bisher kein Friedensvertrag abgeschlossen. Es ist unstrittig, dass zwischen Armenien und Aserbaidschan keine diplomatischen Beziehungen bestehen und die Grenzen geschlossen sind. Dazu scheinen die Postdienste zwischen beiden Ländern nicht zu funktionieren. In einer solchen Situation ist anzuerkennen, dass dem ordentlichen Funktionieren des Gerichtssystems Hindernisse entgegenstehen können. Insbesondere können erhebliche praktische Schwierigkeiten bei der Einleitung und Verfolgung rechtlicher Verfahren im anderen Land bestehen.
(118) Der GH bemerkt, dass die Regierung das allgemeine Schema des Schutzes des Eigentums und der Entschädigung für unrechtmäßige Handlungen oder Unterlassungen in der Verfassung und im Zivilgesetzbuch beschrieben hat. Sie hat es allerdings verabsäumt zu erklären, wie diese Bestimmungen in dem spezifischen Kontext funktionieren, wo eine Person in der Situation des Bf., also eines armenischen Flüchtlings, der sein Eigentum und sein Heim im Kontext des Bergkarabach-Konflikts verlassen musste, eine Zurückgabe seines Eigentums oder eine Entschädigung für den Verlust desselben geltend machen möchte. [...]
(119) Somit [...] hat es die Regierung verabsäumt, die Verfügbarkeit eines Rechtsmittels für den Bf. nachzuweisen, das geeignet gewesen wäre, Wiedergutmachung in Hinblick auf seine Beschwerden nach der Konvention zu leisten und ausreichende Erfolgsaussichten geboten hätte. [...]
(120) Der GH verwirft daher die Einrede der Regierung betreffend die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).
Hoheitsgewalt und Verantwortlichkeit Aserbaidschans nach Art. 1 EMRK
(121) Der Bf. wies darauf hin, dass Gulistan im international anerkannten Territorium der Republik Aserbaidschan liegt. Daraus folge, dass es Sache der belangten Regierung sei, die Vermutung der Hoheitsgewalt hinsichtlich des Gebiets von Gulistan für die Zeit von 15.4.2002 bis heute zu widerlegen. Nach Ansicht des Bf. hat es die Regierung verabsäumt, diesen Beweis zu erbringen, da sie nicht nachgewiesen habe, dass sie keine Kontrolle über Gulistan ausübt. [...] Die Regierung sei daher dafür verantwortlich, die Konventionsrechte des Bf. sicherzustellen.
(122) Alternativ bringt der Bf. vor, dass selbst wenn festgestellt würde, dass Aserbaidschan keine effektive Kontrolle über das fragliche Gebiet ausübt, seine Verantwortlichkeit dennoch aufgrund seiner verbleibenden positiven Verpflichtungen unter Art. 1 EMRK begründet wäre, diplomatische, wirtschaftliche und andere Maßnahmen zu ergreifen, um die Konventionsrechte des Bf. zu gewährleisten. [...]
Grundsätze der Rechtsprechung hinsichtlich der Vermutung territorialer Hoheitsgewalt
(126) Die relevanten Grundsätze wurden vom GH in Assandize/GE und in Ilascu u.a./MD und RUS dargelegt.
(129) Wie aus dieser Rechtsprechung folgt, wird vermutet, dass Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK im gesamten Territorium eines Vertragsstaates ausgeübt wird.
(130) Selbst unter außergewöhnlichen Umständen, wenn ein Staat aufgrund einer militärischen Besetzung durch die Streitkräfte eines anderen Staates, Kriegshandlungen, Rebellion oder die Errichtung eines separatistischen Regimes auf seinem Gebiet daran gehindert wird, die Autorität über einen Teil seines Territoriums auszuüben, hört er nicht auf, Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK zu haben.
(131) Allerdings beschränkt sich in Fällen, in denen ein Staat an der Ausübung seiner Autorität in einem Teil seines Gebiets gehindert wird, seine Verantwortlichkeit nach der Konvention auf die Erfüllung seiner positiven Verpflichtungen. Diese beziehen sich sowohl auf als Ausdruck seiner Hoheitsgewalt anzusehende Maßnahmen, die notwendig sind, um die Kontrolle über das fragliche Gebiet wiederzuerlangen, als auch auf Maßnahmen, um die Achtung der individuellen Rechte des Bf. zu gewährleisten. Unter dem ersten Aspekt hat der Staat eine Pflicht, seine Souveränität über das Gebiet (wieder) durchzusetzen und sich jeglicher Handlungen zur Unterstützung des separatistischen Regimes zu enthalten. Unter dem zweiten Aspekt muss der Staat gerichtliche, politische oder administrative Maßnahmen ergreifen, um die individuellen Rechte des Bf. zu gewährleisten.
Anwendung im vorliegenden Fall
Tatsachenfestellungen des GH
(132) Im vorliegenden Fall ist die in Gulistan herrschende Situation zwischen den Parteien umstritten. Die relevante Zeitspanne, die betrachtet werden muss, läuft vom 15.4.2002, dem Datum des Inkrafttretens der Konvention für Aserbaidschan, bis zum heutigen Tag.
(134) [...] Es ist unbestritten, dass Gulistan im international anerkannten Gebiet Aserbaidschans liegt. [...]
(136) Aus dem verfügbaren Material und insbesondere den [...] Karten geht hervor, dass sich das gesamte Dorf und die aserbaidschanischen Stellungen nördlich des Flusses Indzachay befinden, der eine natürliche Trennlinie darstellt. Die Stellungen der Republik Bergkarabach sind am Südufer des Flusses, wobei sich die näheste auf einem Hang gegenüber dem Dorf befindet.
(137) Was die umstrittene Frage betrifft, ob die aserbaidschanische Armee im Dorf selbst präsent ist, stellt der GH fest, dass einige Elemente auf aserbaidschanische Stellungen und damit auf die Anwesenheit von Soldaten hindeuten. [...] Zudem [...] ist das Territorium nördlich des Dorfes und sind damit die Zugangsrouten unter der Kontrolle der aserbaidschanischen Armee. [...]
(138) Während gewisse Hinweise auf eine aserbaidschanische Militärpräsenz im Dorf selbst bestehen, verfügt der GH nicht über ausreichende Elemente um festzustellen, ob während der gesamten in seine Zuständigkeit ratione temporis fallenden Zeitspanne aserbaidschanische Truppen in Gulistan waren, nämlich von 15.4.2002 bis heute. Es ist jedoch wichtig festzustellen, dass nicht behauptet wurde und nichts darauf hindeutet, dass die Republik Bergkarabach in der fraglichen Zeit nördlich des Flussufers Stellungen hat oder hatte, geschweige denn in Gulistan selbst.
Beurteilung der rechtlichen Relevanz dieser Fakten
(139) Da Gulistan im international anerkannten Territorium Aserbaidschans liegt, gilt die Vermutung der Hoheitsgewalt. Nach Ansicht des GH ist es daher Sache der Regierung nachzuweisen, dass außergewöhnliche Umstände bestehen, die ihre Verantwortlichkeit nach Art. 1 EMRK beschränken würden.
(140) Der GH bemerkt, dass eine Einschränkung der Verantwortlichkeit eines Staates, auf seinem eigenen Territorium seinen positiven Verpflichtungen nachzukommen, nur in Hinblick auf Gebiete akzeptiert wurde, wo ein anderer Staat oder ein separatistisches Regime effektive Kontrolle ausübt. Im Fall Ilascu u.a./MD und RUS stellte der GH fest, dass die moldawische Regierung keine Autorität über einen Teil ihres Territoriums ausübte, nämlich jenen Teil, der unter der effektiven Kontrolle der Moldawischen Republik Transnistrien (MRT) steht. Auf dieselbe Feststellung stützte sich der GH in Ivantoc u.a./MD und RUS. In Catan u.a./MD und RUS stellte der GH fest, dass Moldawien keine Autorität über den östlich des Dnister liegenden Teil seines Gebiets hatte, der von der MRT kontrolliert wird. Im Gegensatz dazu erachtete es der GH in Assanidze/GE als relevant, dass die Autonome Republik Adscharien keine separatistischen Ansprüche hatte und kein anderer Staat dort effektive Kontrolle ausübte.
(141) In den oben genannten moldawischen Fällen war unumstritten, dass das fragliche Gebiet, nämlich Transnistrien, unter der effektiven Kontrolle der MRT stand. Es wurde festgestellt, dass Russland im Sinn der Konvention Hoheitsgewalt über die von der MRT kontrollierten Gebiete ausübte, da es effektive Autorität oder zumindest entscheidenden Einfluss auf die MRT hatte und deren Überleben durch militärische, wirtschaftliche, finanzielle und politische Unterstützung sicherte, und damit für die festgestellten Verletzungen verantwortlich war.
(142) Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den oben genannten Fällen: Gulistan liegt an der Frontlinie zwischen Aserbaidschan und den Truppen der Republik Bergkarabach und es ist umstritten, ob Aserbaidschan effektive Kontrolle über das Dorf ausübt. Wie der GH feststellt, müsste die belangte Regierung nachweisen, dass ein anderer Staat oder ein separatistisches Regime effektive Kontrolle über Gulistan ausübt, wo die behaupteten Konventionsverletzungen stattfinden.
(143) [...] Aserbaidschan hat mit seiner Ratifikation [der Konvention] eine Erklärung abgegeben, wonach es »unfähig sei, die Anwendung der Bestimmungen der Konvention in den von der Republik Armenien besetzten Gebieten zu garantieren«. In seiner Zulässigkeitsentscheidung im vorliegenden Fall stellte der GH fest, dass diese Erklärung weder die territoriale Anwendbarkeit der Konvention auf bestimmte Teile des international anerkannten Territoriums Aserbaidschans beschränken könne noch die Anforderungen an einen gültigen Vorbehalt erfülle.
(144) Der GH stellt fest, dass nach Völkerrecht (insb. Art. 42 der Haager Landkriegsordnung [Anm: Übereinkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, RGBl. 180/1913.]) ein Gebiet als besetzt gilt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt eines feindlichen Heeres befindet. »Tatsächliche Gewalt« wird weitgehend als effektive Kontrolle verstanden und erfordert Elemente wie die Präsenz fremder Truppen, die in der Lage sind, ohne Zustimmung des Souveräns effektive Kontrolle auszuüben. Anhand des gesamten ihm vorliegenden Materials und angesichts der obigen Tatsachenfeststellungen findet der GH, dass Gulistan weder besetzt ist noch sich unter der effektiven Kontrolle fremder Truppen befindet, da dies die Anwesenheit fremder Truppen in Gulistan erfordern würde.
(145) Tatsächlich scheint die belangte Regierung ihre anfängliche Haltung nicht beibehalten zu haben, sie habe keine effektive Kontrolle über Gulistan. Sie argumentiert vielmehr, dass es sich um ein umstrittenes Gebiet handle, wobei sie betont, dass es von Minen umgeben und von gegnerischen militärischen Stellungen auf beiden Seiten des Flusses eingekreist sei und in Schussweite der armenischen Truppen liege.
(146) Im Kern argumentiert die belangte Regierung, dass die in Ilascu u.a./MD und RUS und späteren Fällen entwickelte Rechtsprechung des GH, die die eingeschränkte Verantwortlichkeit eines Staates nach der Konvention anerkennt, der die effektive Kontrolle über einen Teil seines Territoriums an einen anderen Staat oder ein separatistisches Regime verloren hat, gleichermaßen auf umstrittene Zonen – oder wie sie es in der Verhandlung am 5.2.2014 ausdrückte, auf »Gebiete, die durch die Umstände unzugänglich gemacht werden« – angewendet werden sollte.
(148) In den oben genannten, Moldawien betreffenden Fällen wurde die Anerkennung, dass der Territorialstaat nur eingeschränkte Verantwortlichkeit nach der Konvention habe, durch die Feststellung aufgewogen, dass ein anderer Konventionsstaat ausnahmsweise Hoheitsgewalt außerhalb seines Territoriums ausübte und daher nach der Konvention voll verantwortlich war. Im Gegensatz dazu wurde im vorliegenden Fall nicht festgestellt, dass Gulistan von den bewaffneten Truppen eines anderen Staates besetzt ist oder unter der effektiven Kontrolle eines separatistischen Regimes steht. Unter solchen Umständen ist der GH angesichts der Notwendigkeit der Vermeidung eines Vakuums im Schutz der Konvention nicht der Ansicht, dass die belangte Regierung das Bestehen außergewöhnlicher Umstände nachgewiesen hätte, die ihre Verantwortlichkeit nach der Konvention einschränken könnten.
(149) Der GH ist daher von den Argumenten der Regierung nicht überzeugt. Die in Ilascu u.a./MD und RUS entwickelte Ausnahme, nämlich die Einschränkung der Verantwortlichkeit des Territorialstaats in Hinblick auf Teile seines international anerkannten Territoriums, die besetzt sind oder unter der effektiven Kontrolle einer anderen Entität stehen, kann deshalb nicht [...] auf umstrittene Gebiete ausgedehnt werden.
(150) Tatsächlich ähnelt die im vorliegenden Fall zu beurteilende Situation insofern eher der Situation in Assanidze/GE, als die Regierung Aserbaidschans aus rechtlicher Sicht als der Territorialstaat Hoheitsgewalt und volle Verantwortlichkeit unter der Konvention hat, während sie auf der praktischen Ebene Schwierigkeiten bei der Ausübung ihrer Autorität im Gebiet von Gulistan haben mag. Nach Ansicht des GH werden solche Schwierigkeiten bei der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit der vom Bf. gerügten Handlungen und Unterlassungen zu berücksichtigen sein.
(151) Der GH gelangt zu dem Schluss, dass die Tatsachen, aus denen sich die behaupteten Verletzungen ergeben, innerhalb der »Hoheitsgewalt« Aserbaidschans iSv. Art. 1 EMRK liegen und geeignet sind, die Verantwortlichkeit der belangten Regierung zu begründen. Daher weist er die Einrede der belangten Regierung betreffend die fehlende Hoheitsgewalt und Verantwortlichkeit zurück [...] (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten der Richterinnen Ziemele und Yudkivska).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK
(152) Der Bf. behauptete, die Verweigerung seines Rechts, in das Dorf Gulistan zurückzukehren und Zugang zu seinem Eigentum zu haben, dieses zu kontrollieren, zu benützen und zu genießen, oder für seinen Verlust entschädigt zu werden, stelle eine fortgesetzte Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK dar [...].
Hatte der Bf. »Eigentum« in Gulistan?
Beweis des Besitzes
(184) Die Rechtsprechung des GH hat einen flexiblen Ansatz hinsichtlich der Beweise entwickelt, die Bf. vorlegen müssen, die behaupten, ihr Eigentum und ihr Heim in Situationen internationaler oder interner bewaffneter Konflikte verloren zu haben. [...]
(192) Der GH akzeptiert, dass der vom Bf. vorgelegte »technische Pass« einen prima facie Beweis für sein Eigentum an dem Haus und Grundstück darstellt, der [...] nicht überzeugend widerlegt wurde.
(193) Zudem berücksichtigt der GH, dass der Bf. von Anfang an kohärente Vorbringen erstattet hat, in denen er geltend machte, bis zu seiner Flucht 1992 in Gulistan gelebt und dort ein Haus und Grundstück besessen zu haben. [...]
[194] Schließlich nimmt der GH die Umstände zur Kenntnis, unter denen der Bf. fliehen musste, als das Dorf militärisch angegriffen wurde. Es ist kaum erstaunlich, dass er nicht in der Lage war, eine vollständige Dokumentation mitzunehmen. Angesichts der Gesamtheit der vorgelegten Beweise stellt der GH fest, dass der Bf. seine Behauptung, zur Zeit seiner Flucht 1992 in Gulistan ein Haus und ein Grundstück besessen zu haben, ausreichend belegt hat.
(195) Schließlich wendet sich der GH dem Argument der Regierung zu, das Haus scheine vor Inkrafttreten der Konvention am 15.4.2002 zerstört worden zu sein, weshalb die Beschwerde, so weit sie das Haus betreffe, ratione temporis nicht in die Zuständigkeit des GH fallen würde. [...]
(197) [...] Angesichts des Fehlens eindeutiger Beweise dafür, dass das Haus des Bf. vor dem Inkrafttreten der EMRK völlig zerstört war, geht der GH von der Annahme aus, dass es noch existiert [...]. Es gibt daher keine faktische Grundlage für die Einrede der Regierung.
(198) Der GH gelangt zu dem Schluss, dass der Bf. ein Haus und ein Grundstück in Gulistan hatte und noch immer hat. Er verwirft die Einrede der Regierung, er sei ratione temporis unzuständig, die Beschwerde hinsichtlich des Hauses zu prüfen (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).
Fallen die Rechte des Bf. unter Art. 1 1. Prot. EMRK?
(201) [...] Das Recht an dem Haus und an dem Grundstück, das der Bf. zur Zeit seiner Flucht besaß, muss anhand der Gesetze der Sowjetrepublik Aserbaidschan beurteilt werden.
(202) Nach diesen Gesetzen [...] konnten Bürger persönliches Eigentum an Wohnhäusern haben. Das persönliche Eigentum und das Recht, es zu erben, waren vom Staat geschützt. Im Gegensatz dazu gehörte das gesamte Land dem Staat. Grundstücke konnten Bürgern für bestimmte Zwecke zugeteilt werden, wie Landwirtschaft oder den Bau von Privathäusern. In einem solchen Fall hatte der Bürger ein »Verwendungsrecht« hinsichtlich des Grundstücks. [...] Dieses »Verwendungsrecht« war gesetzlich geschützt, auch wenn es den Begünstigten verpflichtete, das Land zu dem Zweck zu nutzen, zu dem es zugeteilt worden war. [...] Zudem war das Recht vererbbar.
(203) Es besteht daher kein Zweifel, dass die dem Bf. in Hinblick auf das Haus und das Grundstück eingeräumten Rechte geschützte Rechte waren, die ein materielles wirtschaftliches Interesse repräsentierten. Angesichts der autonomen Bedeutung des Art. 1 1. Prot. EMRK stellten das Recht des Bf. auf persönlichen Besitz an dem Haus und sein »Verwendungsrecht« hinsichtlich des Grundstücks »Eigentum« im Sinne dieser Bestimmung dar.
(205) Somit hatte der Bf. zur Zeit seiner Vertreibung aus Gulistan im Juni 1992 Rechte an einem Haus und einem Grundstück, die Eigentum iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK darstellten. Es gibt keine Hinweise, dass diese Rechte danach entweder vor oder nach der Ratifikation der Konvention durch Aserbaidschan erloschen wären. Die Eigentumsrechte des Bf. sind daher nach wie vor gültig. [...]
Hat eine fortgesetzte Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK stattgefunden?
(215) Der GH erachtet einige einleitende Bemerkungen für sinnvoll. Wie in der Zulässigkeitsentscheidung [...] dargelegt, beruht die Bejahung der Zuständigkeit des GH ratione temporis auf der Feststellung, dass der Bf. nach wie vor gültige Eigentumsrechte hinsichtlich des Hauses und Grundstücks in Gulistan hat. Im Gegensatz dazu fällt die Vertreibung des Bf. aus Gulistan im Juni 1992 nicht in die zeitliche Zuständigkeit des GH. Was im vorliegenden Fall zu prüfen ist, ist daher, ob die belangte Regierung die Rechte des Bf. in der nachfolgenden Situation verletzt hat, die eine direkte Folge des ungelösten Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan über Bergkarabach ist.
(216) In diesem Zusammenhang stellt der GH fest, dass der Bf. einer von hunderttausenden Armeniern ist, die Aserbaidschan während des Konflikts verlassen und ihr Eigentum und Heim zurückgelassen haben. Derzeit sind mehr als 1.000 Beschwerden vor dem GH anhängig, die von während des Konflikts vertriebenen Personen erhoben wurden. Etwas mehr als die Hälfte davon richtet sich gegen Armenien, die übrigen richten sich gegen Aserbaidschan. Während die aufgeworfenen Angelegenheiten in die [...] Zuständigkeit des GH fallen, ist es Sache der beiden an dem Konflikt beteiligten Staaten, eine politische Lösung zu finden. [...]
Anwendbare Regel des Art. 1 1. Prot. EMRK
(218) [...] Die Situation, über die sich der Bf. beschwert, ist nach Art. 1 Abs. 1 1. Satz 1. Prot. EMRK zu prüfen, da sie eine Einschränkung des Rechts des Bf. auf Achtung des Eigentums betrifft.
Art der behaupteten Verletzung
(221) Wie der GH feststellt, rügt der Bf., dass er am Zugang zu seinen Besitztümern in Gulistan gehindert wird und es die belangte Regierung verabsäumt hat, ihm eine Entschädigung für diesen Eingriff zu gewähren. Der Bf. formulierte seine Rügen somit in Hinblick auf einen Eingriff. [...]
(222) In einer Reihe vergleichbarer Fälle hat der GH Beschwerden von Flüchtlingen oder Vertriebenen über den mangelnden Zugang zu ihrem Eigentum als Eingriff in ihre durch Art. 1 1. Prot. EMRK geschützten Rechte geprüft. Im vorliegenden Fall ist es [...] aus den folgenden Gründen nicht angemessen, diesem Ansatz zu folgen.
(223) Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den Nordzypern betreffenden Fällen, in denen die türkische Regierung für die Verwehrung des Zugangs griechisch-zypriotischer Eigentümer zu ihrem in der »Türkischen Republik Nordzypern« gelegenen Eigentum, das in Folge der Okkupation und Etablierung einer untergeordneten lokalen Verwaltung unter der effektiven Kontrolle der türkischen Regierung stand, verantwortlich gemacht wurde. In diesen Fällen stand der Eingriff in die Eigentumsrechte der griechisch-zypriotischen Eigentümer in engem Zusammenhang mit der Tatsache der Besetzung und der Errichtung der »Türkischen Republik Nordzypern«. Im Gegensatz dazu geht es im vorliegenden Fall um Handlungen und Unterlassungen der belangten Regierung innerhalb ihres eigenen international anerkannten Territoriums.
(224) Der vorliegende Fall ist der erste Fall, in dem der GH in der Sache über eine Beschwerde gegen einen Staat entscheiden muss, der in Folge von Krieg oder Besetzung die Kontrolle über einen Teil seines Territoriums verloren hat, dessen Verantwortlichkeit für die Verwehrung des Zugangs einer vertriebenen Person zu ihrem Eigentum aber in Hinblick auf das unter seiner Kontrolle verbleibende Territorium geltend gemacht wird. [...]
(226) Angesichts der Umstände des vorliegenden Falls hält es der GH für angemessen, die Beschwerde dahingehend zu prüfen, ob die belangte Regierung ihren positiven Verpflichtungen nach Art. 1 1. Prot. EMRK nachgekommen ist. Er wird seine Überlegungen daher auf die Frage konzentrieren, ob ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen des öffentlichen Interesses und dem Grundrecht des Bf. auf Eigentum getroffen wurde.
Wurde ein fairer Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Recht des Bf. getroffen?
(228) Die Beschwerde wirft zwei Fragen auf: erstens, ob die belangte Regierung verpflichtet ist, dem Bf. Zugang zu seinem Haus und Grundstück in Gulistan zu verschaffen, und zweitens, ob sie verpflichtet ist, irgendwelche anderen Maßnahmen zu ergreifen, um das Eigentumsrecht des Bf. zu schützen bzw. ihn für den Verlust seiner Verwendung zu entschädigen.
(230) Die Regierung argumentierte insbesondere, die Weigerung, Zivilisten Zugang nach Gulistan zu gewähren, sei durch die im Dorf und seiner Umgebung herrschende Sicherheitslage gerechtfertigt. [...]
(233) Anhand der vorliegenden Beweise hat der GH festgestellt, dass Gulistan in einem Gebiet militärischer Aktivitäten liegt. Zumindest die Gegend rund um das Dorf ist vermint und Verletzungen des Waffenstillstands sind häufig. Es [...] gibt keine Anzeichen dafür, dass sich diese Situation seit Inkrafttreten der Konvention wesentlich verändert hätte. [...] Der GH akzeptiert, dass die Weigerung, Zivilisten einschließlich des Bf. den Zugang zu Gulistan zu verwehren, durch Sicherheitsüberlegungen gerechtfertigt ist [...]. Es wäre derzeit unrealistisch, von der aserbaidschanischen Regierung zu erwarten, den Zugang des Bf. zu seinem Eigentum in Gulistan ungeachtet der Tatsache zu gewährleisten, dass es in einer militärisch sensiblen Zone liegt.
(234) Allerdings hat nach Ansicht des GH ein Staat, solange Zugang zum Eigentum nicht möglich ist, eine Pflicht, alternative Maßnahmen zu setzen, um die Eigentumsrechte zu schützen. [...]
(236) Soweit die Regierung versicherte, an Friedensverhandlungen teilzunehmen, bemerkt der GH, dass das Recht aller vertriebenen Personen und Flüchtlinge, an ihre früheren Wohnorte zurückzukehren, eines der im Rahmen der OSZE-Minsk-Gruppe festgelegten Elemente ist, die [...] die Grundlage der Friedensverhandlungen bilden. [...]
(237) Die bloße Tatsache, dass Friedensverhandlungen geführt werden, kann die Regierung nach Ansicht des GH nicht davon befreien, andere Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere wenn die Verhandlungen derart lange Zeit anhängig sind. In diesem Zusammenhang verweist der GH auf die Resolution 1708 (2010) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats über die »Lösung von Vermögensfragen von Flüchtlingen und vertriebenen Personen«, welche sich auf die relevanten internationalen Standards stützt und die Mitgliedstaaten aufruft, »rasche und effektive Wiedergutmachung für den Verlust des Zugangs zu und den Rechten an Häusern, Grundstücken und Eigentum, die von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zurückgelassen wurden, zu garantieren, ohne Rücksicht auf anhängige Verhandlungen betreffend die Lösung bewaffneter Konflikte oder den Status eines bestimmten Gebiets«.
(238) Empfehlungen, welche Maßnahmen die belangte Regierung ergreifen könnte und sollte, um die Eigentumsrechte des Bf. zu schützen, können aus den relevanten internationalen Standards abgeleitet werden [...]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und bis zu einem umfassenden Friedensabkommen scheint es besonders wichtig, einen Mechanismus zur Geltendmachung von Eigentumsrechten einzurichten, der einfach zugänglich sein und Verfahren bieten sollte, die mit flexiblen Beweisstandards arbeiten und dem Bf. und anderen in seiner Situation erlauben, ihre Eigentumsrechte wiederherstellen zu lassen und Entschädigung für den Verlust ihres Genusses zu erlangen.
(239) Dem GH ist sehr wohl bewusst, dass die belangte Regierung hunderttausende vertriebene Personen unterstützen musste, nämlich jene Azeris, die aus Armenien, aus Bergkarabach und aus den sieben besetzten umliegenden Bezirken fliehen mussten. [...]
(240) Während die Notwendigkeit, für eine große Gemeinschaft binnenvertriebener Personen zu sorgen, ein wichtiger Faktor bei der Abwägung ist, befreit der Schutz dieser Gruppe die Regierung nach Ansicht des GH nicht völlig von ihren Verpflichtungen gegenüber einer anderen Gruppe, nämlich den Armeniern, die wie der Bf. während des Konflikts fliehen mussten. [...] Zuletzt stellt der GH fest, dass die Situation seit langer Zeit fortbesteht.
(241) Der GH kommt zu dem Schluss, dass dem Bf. durch die Unmöglichkeit, Zugang zu seinem Eigentum in Gulistan zu haben, ohne dass die Regierung alternative Maßnahmen ergriffen hätte, um seine Eigentumsrechte wiederherzustellen oder ihm eine Entschädigung [...] zukommen zu lassen, eine exzessive Last aufgebürdet wurde und weiterhin aufgebürdet wird.
(242) Folglich hat eine fortdauernde Verletzung der Rechte des Bf. nach Art. 1 1. Prot. EMRK stattgefunden (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
(243) Der Bf. behauptet, die Verweigerung seines Rechts, in das Dorf Gulistan zurückzukehren und Zugang zu seiner Wohnung und zu den Gräbern seiner Verwandten zu haben, begründe eine fortdauernde Verletzung von Art. 8 EMRK [...].
(257) Der GH anerkennt, dass der Bf. eine »Wohnung« in Gulistan hatte, die er im Juni 1992 unfreiwillig verließ. Der Kern seiner Beschwerde ist gerade, dass er seither nicht dorthin zurückkehren kann. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die lange Abwesenheit die fortgesetzte Verbindung zu seiner Wohnung unterbrochen hat. Zudem hält es der GH für erwiesen, dass der Bf. den größten Teil seines Lebens in Gulistan verbracht hat [...]. Die Unfähigkeit, in sein Dorf zurückzukehren, betrifft folglich auch sein »Privatleben«. Schließlich findet der GH auch, dass die kulturelle und religiöse Bindung des Bf. zu den Gräbern seiner Verwandten in Gulistan ebenfalls unter den Begriff des »Privat- und Familienlebens« fallen kann. [...]
(258) Der GH weist daher die Einrede der Regierung betreffend die Opfereigenschaft hinsichtlich der Gräber seiner Angehörigen zurück und stellt fest, dass der Sachverhalt unter die Begriffe des »Privat- und Familienlebens« und der »Wohnung« fällt. Art. 8 EMRK ist daher anwendbar.
(259) Der GH verweist auf seine obigen Überlegungen, die zur Feststellung einer fortgesetzten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK führten. [...]
(260) Dieselben Überlegungen gelten in Hinblick auf die Beschwerde unter Art. 8 EMRK. Durch die Unmöglichkeit für den Bf., Zugang zu seiner Wohnung und zu den Gräbern seiner Angehörigen in Gulistan zu haben, ohne dass die Regierung alternative Maßnahmen ergriffen hätte, um seine Rechte anzusprechen oder ihm zumindest eine Entschädigung für den Verlust ihres Genusses zu gewähren, wurde und wird ihm eine unverhältnismäßige Bürde auferlegt.
(261) Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass eine fortgesetzte Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden hat (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK
(262) Der Bf. brachte vor, es wäre kein effektiver Rechtsbehelf in Hinblick auf die obigen Beschwerdepunkte verfügbar. [...]
(269) Der GH hat bereits fortgesetzte Verletzungen von Art. 1 1. Prot. EMRK und Art. 8 EMRK festgestellt. Die Beschwerden des Bf. sind daher zumindest vertretbar iSv. Art. 13 EMRK.
(270) Die Beschwerde [...] spiegelt weitgehend dieselben Elemente wider wie jene, die bereits im Kontext der Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe behandelt wurden. [...]
(271) Der GH wiederholt seine obige Feststellung, wonach die belangte Regierung den Beweis für die Verfügbarkeit eines Rechtsmittels, das geeignet gewesen wäre, dem Bf. Wiedergutmachung [...] zu gewähren, nicht erbracht hat.
(272) Zudem bemerkt der GH, dass sich seine Feststellungen unter Art. 1 1. Prot. EMRK und Art. 8 EMRK auf das Versäumnis des belangten Staates beziehen, einen Mechanismus zu schaffen, der es dem Bf. und anderen in vergleichbarer Situation erlauben würde, seine Rechte hinsichtlich seines Eigentums und seiner Wohnung wiederherstellen zu lassen und Entschädigung für den erlittenen Verlust zu erhalten. Der GH sieht daher im vorliegenden Fall eine enge Verbindung zwischen den festgestellten Verletzungen von Art. 1 1. Prot. EMRK und Art. 8 EMRK auf der einen Seite und den Anforderungen von Art. 13 EMRK auf der anderen.
(273) Der GH kommt zu dem Schluss, dass in Hinblick auf die Verletzung der Rechte des Bf. unter Art. 1 1. Prot. EMRK und Art. 8 EMRK kein effektiver Rechtsbehelf verfügbar war und verfügbar ist.
(274) Dementsprechend hat eine fortgesetzte Verletzung von Art. 13 EMRK stattgefunden (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK
Angesichts der Feststellungen unter Art. 1 1. Prot. EMRK, Art. 8 und Art. 13 EMRK erachtet der GH eine gesonderte Behandlung der unter Art. 14 EMRK vorgebrachten Beschwerdepunkte nicht für erforderlich (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Gyulumyan).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
(283) Angesichts der außergewöhnlichen Art des vorliegenden Falls ist der GH der Ansicht, dass die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK nicht entscheidungsreif ist (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten der Richter Hajiyev und Pinto de Albuquerque).
Vom GH zitierte Judikatur:
Akdivar u.a./TR v. 16.9.1996 (GK)
Assanidze/GE v. 8.4.2004 (GK) = EuGRZ 2004, 268
Ilascu u.a./MD und RUS v. 8.7.2004 (GK) = NL 2004, 174
Ivantoc u.a./MD und RUS v. 15.11.2011
Catan u.a./MD und RUS v. 19.10.2012 (GK) = NL 2012, 335
Sargsyan/AZ v. 14.12.2012 (ZE der GK)
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.6.2015, Bsw. 40167/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 256) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_3/Sargsyan.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.