JudikaturAUSL EGMR

Bsw51637/12 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. Juni 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Chitos gg. Griechenland, Urteil vom 4.6.2015, Bsw. 51637/12.

Spruch

Art. 4 Abs. 2 EMRK, Art. 4 Abs. 3 EMRK - Verpflichtung eines Soldaten zu Bezahlung einer Entschädigung für vorzeitigen Austritt aus der Armee.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde am 15.9.1986 in die Militärschule aufgenommen. Er erhielt einen Lohn und kam in den Genuss von sozialen Vergünstigungen. An der Universität Thessaloniki absolvierte er kostenlos eine sechsjährige medizinische Ausbildung. Am 3.6.1993, am Ende seines Studiums, wurde er zum Unterleutnantarzt der Landstreitkräfte ernannt.

Nach Art. 64 Abs. 1 des in Kraft stehenden Gesetzesdekrets Nr. 1400/1973 über das Offiziersstatut der Streitkräfte hatte sich der Bf. verpflichtet, die dreifache Zeit der Dauer seines Studiums an der Militärschule in der Armee zu dienen, also 18 Jahre. Diese Periode wurde durch Art. 1 des Gesetzes Nr. 3257/2004 auf die doppelte Ausbildungszeit reduziert, also zwölf Jahre.

Im Jahr 1996 begann der Bf. auf Einladung der Armee eine etwa fünfjährige Ausbildung zum Spezialisten für Anästhesiologie an Krankenhäusern in Thessaloniki, während der er sein Offiziersgehalt bezahlt bekam. Danach verpflichtete sich der Bf. entsprechend Art. 67 Abs. 7 des Gesetzesdekrets Nr. 1400/1973 dazu, fünf weitere Jahre in der Armee zu dienen. Der Bf. trat am 22.1.2006 aus der Armee aus, im Alter von 37 Jahren und im Rang eines Oberstarztes (Anästhesist).

Am 12.9.2006 wurde dem Bf. vom Hauptquartier mitgeteilt, dass er gemäß Art. 64 des Dekrets Nr. 1400/1973 entweder noch für eine weitere Periode von neun Jahren, vier Monaten und zwölf Tagen in der Armee dienen oder dem Staat unter Zugrundelegung der noch ausständigen Dienstzeit eine Entschädigung zahlen müsse. Diese Entschädigung wurde mit Entscheidung vom 26.5.2007 auf € 106.960,– festgesetzt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass der Bf. dagegen an den Rechnungshof berufen könne, eine solche Berufung allerdings im Hinblick auf die Zahlung keine aufschiebende Wirkung habe.

Der Bf. erhob am 25.6.2007 vor der fünften Kammer des Rechnungshofes Berufung gegen die Entscheidung und ersuchte auch um Vollstreckungsaufschub, der ihm gewährt wurde. Mit Urteil vom 13.2.2009 wies die fünfte Kammer die Berufung als unbegründet ab. Sie befand insbesondere, dass die Entschädigung nicht unverhältnismäßig wäre und dazu diene, dem Staat die Ausbildungskosten zu erstatten, die dieser investiert hatte.

Am 3.3.2009 erhob der Bf. gegen dieses Urteil eine Beschwerde an das Plenum des Rechnungshofes. Dieses gab dem Rechtsmittel am 7.12.2011 teilweise statt. Es befand, dass die Nichteinbeziehung der fünfjährigen Spezialisierungsphase des Bf. in die Gesamtdauer der Dienstjahre unverhältnismäßig sei und verwies den Fall an die Kammer zurück. Das Plenum wies das Rechtsmittel allerdings als unbegründet ab, was einen Verstoß von Art. 64 Abs. 7 des Dekrets gegen die Verfassung, die Europäische Sozialcharta oder die Konvention betraf.

Mit Urteil vom 12.12.2013 änderte die Kammer die Entscheidung vom 26.5.2007 ab und reduzierte die vom Bf. zu bezahlende Summe auf € 49.978,33.

Das Finanzamt von Thessaloniki hatte den Bf. bereits am 18.3. und am 9.4.2009 trotz der verfügten Vollstreckungsaussetzung zur Zahlung einer Summe von € 109.527,– aufgefordert. Der Bf. wurde von der Steuerdirektion des Finanzministeriums am 10.5.2010 zudem informiert, dass die geschuldete Summe mit Verzugszinsen in Höhe von € 13.143,24 belastet wäre. Ihm wurde auch mitgeteilt, dass er bei Begleichung bis spätestens 31.5.2010 von einem Nachlass von 80?% auf die Zinsen profitieren könne. Am 26.5.2010 hinterlegte der Bf. die Summe von € 112.155,69 beim Finanzamt Thessaloniki.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt insbesondere, dass die Verpflichtung, die ihm von der nationalen Gesetzgebung als Gegenleistung für die Beendigung seiner Beschäftigung auferlegt wurde, für eine in seinen Augen lange Zeit im Dienst der Armee zu bleiben oder dem Staat eine seiner Meinung nach exzessive Summe zu bezahlen, eine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK (Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit) begründe, da sie die Freiheit der Arbeit unverhältnismäßig beeinträchtige.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK

Zur Zulässigkeit

Zur Opfereigenschaft des Bf.

(55) Unter Stützung auf das Urteil des Plenums des Rechnungshofes bestreitet die Regierung die Opfereigenschaft des Bf. [...] [D]ie Auslegung der Bestimmungen durch dieses Urteil habe zu einer Reduktion der Dienstverpflichtung des Bf. und damit einer Reduktion des von diesem an den Staat zu zahlenden Entschädigungsbetrags geführt.

(58) Der GH bemerkt, dass sich die Rüge des Bf. im vorliegenden Fall auf die Dauer seiner Verpflichtung zum Dienst in der Armee sowie auf den von ihm für den Fall der Beendigung seiner Beschäftigung vor dem Ende der vorgeschriebenen Periode zu bezahlenden Entschädigungsbetrag stützt. Er beobachtet, dass das Plenum des Rechnungshofes die Rügen betreffend die Verletzung der Konvention rechtskräftig abwies und diese Entscheidung die fünfte Kammer band. Zudem beschränkte sich die fünfte Kammer in ihrem Urteil nach der Zurückverweisung darauf festzuhalten, dass der Bf. lediglich für eine zusätzliche Periode von vier Jahren, vier Monaten und zehn Tagen in der Armee dienen müsse, und folglich den von diesem zu bezahlenden Entschädigungsbetrag von € 106.960,– auf € 49.978,33 zu reduzieren. Der Rechnungshof stellte weder explizit noch inhaltlich eine Verletzung von Art. 4 EMRK fest. Die bedeutende Reduktion der Dienstzeit und des vom Bf. zu zahlenden Betrags stellt einen Aspekt der Begründetheit dar und kann die Opfereigenschaft nicht beeinträchtigen.

Zur Verfrühtheit der Beschwerde

(59) Laut Regierung sei die Beschwerde verfrüht, da der Bf. vor Anrufung des GH warten hätte müssen, bis die fünfte Kammer am 12.12.2013 nach der Zurückverweisung im Hinblick auf die exakte Dauer seiner Dienstverpflichtung in den Streitkräften und auf den Entschädigungsbetrag entschieden hatte.

(62) Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass der Bf. seine Beschwerde am 31.7.2012 einbrachte, also nachdem das Plenum des Rechnungshofes sein Urteil erlassen hatte. Die Zuständigkeit der fünften Kammer des Rechnungshofes in der Entscheidung über die Zurückverweisung am 12.12.2013 beschränkte sich auf die Revision der vom Bf. bestrittenen Verwaltungsakte entsprechend der rechtlichen Schlussfolgerungen des Plenums. Die fünfte Kammer konnte nicht mehr auf die unter der Konvention erhobene Rüge zurückgreifen, sondern lediglich die fünfjährige Periode der Spezialisierung in die Gesamtdauer des Dienstes des Bf. in der Armee einbeziehen und daraus den von diesem zu zahlenden angepassten Entschädigungsbetrag berechnen. Die endgültige innerstaatliche Entscheidung iSd. Art. 35 Abs. 1 EMRK war daher das Urteil [...] des Plenums des Rechnungshofes.

Zum missbräuchlichen Charakter der Beschwerde

(63) Die Regierung bringt vor, dass der Bf. seine Beschwerde missbräuchlich erhoben habe, und zwar umso mehr, als der Betroffene bestreiten würde, dass er eine zusätzliche Stelle im allgemeinen Regionalkrankenhaus von Papanikolaou als Anästhesie-Assistent erhalten hatte. [...]

(66) Im vorliegenden Fall erkennt der GH in der Beschwerde des Bf. kein Element, das es ihm erlauben würde, diese als missbräuchlich zu qualifizieren. Die Frage, ob der Betroffene zusätzlich in einem Krankenhaus eingesetzt wurde oder nicht, um eine Spezialisierung zu erwerben, ist eine Tatsachenfrage, deren Bedeutung im Rahmen der Beurteilung, die der GH im Hinblick auf die Begründetheit der Beschwerde über eine Verletzung von Art. 4 EMRK vorzunehmen hat, sehr begrenzt erscheint.

Schlussfolgerung

(67) Der GH weist die Einreden der Regierung zurück. Darüber hinaus stellt er fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist und erklärt sie daher für zulässig (einstimmig).

Zur Sache

Zur Tragweite des Falls

(79) Der GH erinnert daran, dass von den Wortteilen »Zwangs- oder Pflicht«arbeit Ersterer an einen physischen oder seelischen Zwang denken lässt. Was den zweiten anbelangt, kann dieser keine irgendwie geartete rechtliche Verpflichtung bezwecken. Z.B. kann eine Arbeit, die aufgrund eines freiwillig geschlossenen Vertrags durchzuführen ist, nicht allein dadurch unter Art. 4 EMRK fallen, dass eine der beiden Vertragsparteien sich gegenüber der anderen verpflichtet hat, sie zu verrichten, und sich Sanktionen aussetzt, wenn sie sich nicht an den Vertrag hält. Es muss sich um eine Arbeit handeln, die »unter der Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird« und die zudem dem Willen des Betroffenen entgegenläuft und für die dieser »sich nicht aus freiem Willen angeboten hat« (Van der Mussele/B).

(80) Was Art. 4 Abs. 3 EMRK anbelangt, hat der GH in Van der Mussele/B bereits geurteilt, dass er nicht dazu dienen soll, die Ausübung des von Abs. 2 garantierten Rechts einzuschränken, sondern den Inhalt dieses Rechts zu begrenzen: er bildet eine Einheit mit Abs. 2 und führt aus, was nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit angesehen wird. Nach Abs. 3 lit. b wird nun aber »eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist« nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit gesehen.

(81) In ihrer Entscheidung W., X., Y. und Z./GB [...] hatte die EKMR festgestellt, dass Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK nicht nur den verpflichtenden Militärdienst anvisierte, sondern jede militärische Dienstleistung, inklusive der von Berufssoldaten freiwillig übernommenen. Diese extensive Auslegung der fraglichen Ausnahme, die Soldaten betraf, die sich vor der Volljährigkeit verpflichtet hatten, scheint sich allein auf das erste Glied des Satzes von lit. b gegründet zu haben, das auf »jede Dienstleistung militärischer Art« Bezug nimmt.

(82) Dennoch betont der GH, dass die Regierung im vorliegenden Fall die Ausnahme des Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK nicht angeführt hat, da sie offensichtlich der Ansicht war, dass diese Bestimmung im Fall des Bf., eines Berufsmilitärarztes, nicht in Betracht kam.

(83) Wie dem auch sei, der GH ist der Ansicht, dass Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK in seiner Gesamtheit gelesen werden muss. So geht aus der Lektüre der lit. b in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenhang hervor, dass diese – in den Staaten, in denen ein solcher vorgesehen ist – den verpflichtenden Militärdienst anvisiert, und dies aus zwei Gründen: einerseits durch die Bezugnahme auf Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, bei denen es sich offenkundig um Wehrpflichtige handelt und nicht um Berufssoldaten; andererseits durch expliziten Verweis auf den verpflichtenden Wehrdienst [...]. Der GH erinnert diesbezüglich an den allgemeinen Auslegungsgrundsatz, wonach die Ausnahmen zu einer Regel eng auszulegen sind. Dies gilt umso mehr, als die Verbote des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK zum Kern der Konvention gehören.

(84) Der GH bemerkt daneben, dass Art. 2 Abs. 2 lit. a des Übereinkommens Nr. 29 (Anm: Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit vom 28.6.1930.) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) festlegt, dass die Zwangs- oder Pflichtarbeit nicht »jede Arbeit oder Dienstleistung auf Grund der Gesetze über die Militärdienstpflicht, soweit diese Arbeit oder Dienstleistung rein militärischen Zwecken dient« umfasst, was impliziert, dass diese Bestimmung allein die Wehrpflicht betrifft.

(85) Im gleichen Sinn unterscheidet der Ausschuss für Soziale Rechte des Europarats im Hinblick auf Zwangsarbeit ebenfalls zwischen der Situation von Berufssoldaten und jener von Wehrpflichtigen. Aus seinen Schlussfolgerungen zu verschiedenen Ländern, darunter auch Griechenland, geht hervor, dass der Ausschuss als Grund für den fehlenden Einklang mit Art. 1 Abs. 2 der Europäischen Sozialcharta (ESC), der die Zwangsarbeit untersagt, die übermäßige Dauer ansah, für die ein Berufsoffizier verpflichtet war, im Dienst zu bleiben.

(86) Weiters verknüpft die Empfehlung CM/Rec(2010)4 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Menschenrechte von Mitgliedern der Streitkräfte mit dem Begriff der Zwangsarbeit die unangemessene Dauer des Dienstes, die die Behörden den Mitgliedern der Streitkräfte auferlegen können.

(87) Auf Basis der Gesamtheit dieser Elemente befindet der GH im Einklang mit dem Gegenstand und Ziel der Konvention, dass Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK sich nicht auf die von Berufssoldaten übernommene Arbeit bezieht. Der GH muss daher im gegenständlichen Fall die Frage der Einhaltung von Art. 4 Abs. 2 EMRK untersuchen.

Zur Beachtung von Art. 4 Abs. 2 EMRK

(88) In diesem Zusammenhang muss im vorliegenden Fall geprüft werden, ob der Bf. sich zu der fraglichen Arbeit »aus seinem freien Willen heraus angeboten« hatte, indem er vorherige Kenntnis von allen Folgen hatte, die dies mit sich bringen konnte, und ob seine Entscheidung, nicht bis zur gesetzlich vorgesehenen Zeit weiterzumachen, durch die »Drohung einer Strafe« beeinträchtigt werden konnte.

(92) Der GH befindet zunächst, dass der Bf. nicht berechtigterweise behaupten kann, dass er das Prinzip und das Ausmaß der Verpflichtungen nicht kannte, die er einging, als er die Karriere als Offizier und Militärarzt einschlug. Einer der Hauptvorteile der Anwerbung in der Armee ist die Unentgeltlichkeit des Studiums. Tatsächlich übernehmen die Streitkräfte die Studienkosten des Betroffenen, bezahlen ihm ein Gehalt und verhelfen ihm zu den Berufssoldaten zuerkannten sozialen Vorteilen. Als Gegenleistung verlangen sie, dass der Offizier sich dazu verpflichtet, nach dem Erhalt seines Diploms für eine bestimmte Anzahl von Jahren in ihren Reihen zu dienen.

(93) Der GH bemerkt, dass die Verpflichtung der Offiziere nach der ursprünglichen Version des Art. 64 des Gesetzesdekrets Nr. 1400/1973, für eine Periode entsprechend der dreifachen Dauer ihres Studiums zu dienen, ohne ihre Verpflichtung beenden zu können, vom Staatsrat [...] als Art. 1 Abs. 2 ESC zuwiderlaufend angesehen wurde. Diese Verpflichtung wurde mit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 3257/2004 am 29.7.2004 abgeschwächt. Auf Basis dieses Gesetzes wurde die vom Bf. zu zahlende Entschädigung berechnet.

(94) Der GH befindet, dass die Verpflichtung der Armeeoffiziere, nach Ende ihrer Ausbildung für eine gewisse Zeit zu dienen, für den ihnen obliegenden Auftrag substanziell ist. Die Kalkulation der Dauer der Verpflichtung von unter Regie der Armee ausgebildeten Offizieren und die Modalitäten der Beendigung dieser Verpflichtung fallen in den Ermessensspielraum des Staates. Die Sorge des Staates, seine Investition in die Ausbildung der Offiziere und Ärzte der Armee rentabel zu gestalten und während einer angemessenen Periode einen im Verhältnis zu seinen Bedürfnissen ausreichenden Rahmen sicherzustellen rechtfertigt es, ihnen während einer bestimmten Zeit den Austritt zu untersagen und diesen von der Zahlung einer Entschädigung abhängig zu machen, um die Kosten des Unterhalts und der Ausbildung abzudecken, die er [...] übernommen hat, während sie in den Genuss eines Gehalts und sozialer Rechte gekommen sind.

(95) Diesbezüglich erachtet der GH die Erwägungsgründe der Urteile Nr. 2763/2013 und Nr. 3822/2013 des Rechnungshofes für einschlägig, wonach die strittige Regelung insbesondere zum Ziel hätte, plötzliche, vorzeitige und kollektive Austritte von Offizieren und eine Gefahr für die Verteidigungsfähigkeit zu vermeiden.

(96) Es bleibt daher zu prüfen, ob dem Bf. eine unverhältnismäßige Bürde auferlegt wurde – das einzige Element, das geeignet ist, den GH im vorliegenden Fall zur Feststellung einer Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK zu führen.

(97) In seinem Urteil Van der Mussele/B hat der GH festgestellt, dass eine für den Zugang zu einem bestimmten Beruf zu erbringende Dienstleistung unter das Verbot der Pflichtarbeit fallen würde, wenn sie eine derart exzessive oder außer Verhältnis zu den mit der künftigen Ausübung des Berufs verbundenen Vorteilen stehende Bürde auferlegt, dass man nicht davon ausgehen kann, dass der Betroffene sich »aus seinem freien Willen heraus angeboten« hat, sie auszuführen. Um zu entscheiden, ob die auf dem Bf. lastenden Auflagen die mit dem Beruf, den dieser eingeschlagen hatte, verbundenen Vorteile übertrafen, nimmt der GH nicht auf jene Zeit Bezug, zu der der Bf. in die Militärschule aufgenommen wurde und sich für eine Spezialisierung entschieden hat, sondern auf 2004, als das Änderungsgesetz zum Gesetzesdekret Nr. 1400/1973 in Kraft getreten ist. Tatsächlich entschied der Bf. unter der Regelung dieses geänderten Gesetzesdekrets, seine Verpflichtung zu beenden, und er hatte sich an die daraus erfließenden Erfordernisse zu halten.

(98) Der GH kann den Umstand nicht außer Acht lassen, dass der Bf. über Vermittlung der Armee Medizin studiert und seine Spezialisierung als Anästhesist erhalten hat, indem er zwischen 1996 und 2001 zuerst im allgemeinen Krankenhaus des Militärs 424 in Thessaloniki und dann im allgemeinen Regionalkrankenhaus Papanikolaou arbeitete. Er beobachtet diesbezüglich, dass Art. 38 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 1397/1983 es untersagte, Ärzte für ihre Spezialisierung zusätzlich zu den im Krankenhaus verfügbaren Plätzen einzusetzen, aber einen solchen Einsatz [...] für die ständigen Ärzte der Streitkräfte vorsah. Der Bf. profitierte von dieser Möglichkeit. Darüber hinaus bietet die griechische Gesetzgebung Offizieren wie dem Bf. die Wahl, während einer bestimmten Zeit für die Armee zu arbeiten oder diese vor Ende der festgelegten Periode gegen Bezahlung einer Entschädigung zu verlassen.

(99) Der GH bemerkt auch, dass es nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 3257/2004 Offizieren des Gesundheitsdienstes wie dem Bf. erlaubt war, außerhalb ihrer Arbeitszeit privat ärztlich tätig zu werden.

(100) Diese Elemente zeigen, dass die Militärärzte im Rahmen ihres Studiums und ihrer Spezialisierung von Privilegien profitierten, welche die zivilen Medizinstudenten nicht haben, darunter auch die Arbeitsplatzsicherheit. Wenn man darüber hinaus den Umstand bedenkt, dass die Militärärzte während der Dauer ihres Studiums ein Gehalt erhalten, ist die Verpflichtung, dem Staat bestimmte Summen als Erstattung der Kosten zu zahlen, die Letzterer für ihre Ausbildung ausgegeben hat, für jene, welche die Armee vor der verpflichtenden Dienstzeit verlassen wollen, völlig gerechtfertigt. Der GH befindet aus diesem Grund, dass das Prinzip der Ablöse der verbleibenden Dienstjahre für sich im Hinblick auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit kein Problem aufwirft.

(101) Dennoch befindet der GH, dass die Modalitäten dieser Ablöse in gewissen besonderen Fällen geeignet sind, zum Verlust des Gleichgewichts beizutragen, das zwischen dem Schutz des individuellen Rechts des betroffenen Soldaten und jenem der Interessen der Gemeinschaft bestehen muss.

(104) Der GH befindet, dass die Summe von € 49.978,33, die der Bf. letztlich gemäß dem Urteil des Rechnungshofes vom 12.12.2013 aufgefordert wurde zu bezahlen, sich auf weniger als zwei Drittel jener Summe (zwischen € 86.976,– und € 91.476,–) belief, welche er während der strittigen Periode erhalten hatte, weshalb sie nicht als unangemessen betrachtet werden kann.

(105) Der GH betont zudem, dass der Präsident des Plenums des Rechnungshofes nach einem entsprechenden Antrag des Bf. am 17.3.2009 eine vorläufige Anordnung erließ, mit der er die Vollstreckung der Entscheidung vom 26.5.2007 aussetzte. Diese Aussetzung wurde am 21.10.2009 vom Plenum des Rechnungshofes bekräftigt.

(106) Die Vollstreckungsaussetzung hat das Finanzamt von Thessaloniki nicht daran gehindert, den Bf. am 18.3. und dann am 9.4.2009 zur Zahlung einer Summe von € 109.527,– aufzufordern [...]. Am 10.5.2010 informierte die Steuerdirektion des Finanzministeriums den Bf., dass die geschuldete Summe aufgrund deren Nichtbezahlung durch ihn während des vergangenen Jahres mit Verzugszinsen in Höhe von € 13.143,24 belastet wäre. Sie teilte ihm auch mit, dass er bei Begleichung bis spätestens 31.5.2010 von einem Nachlass von 80?% auf die Zinsen profitieren könne. Am 26.5.2010 hinterlegte der Bf. die Summe von € 112.155,69 beim Finanzamt Thessaloniki.

(107) Trotz der dem Bf. gewährten Aussetzung der Vollstreckung der strittigen Entscheidung [...], und obwohl das Verfahren vor dem Plenum des Rechnungshofes beinahe begonnen hatte, fand sich der Bf. durch die Intervention der Steuerdirektion des Finanzministeriums am 10.5.2010 mit der Verpflichtung konfrontiert, die geschuldete und bereits um Zinsen in Höhe von 12 bis 13?% erhöhte Summe zu bezahlen. Wenn er nicht eingewilligt hätte, die gesamte Summe zu bezahlen, wäre diese aufgrund der für die Entscheidung des Rechnungshofes notwendigen Zeitspanne weiter gestiegen.

(108) Daneben bemerkt der GH, dass – auch wenn Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Erhebung der Einnahmen des Staates und Art. 96 des Gesetzesdekrets Nr. 721/1970, so wie sie vom Staatsrat [...] ausgelegt wurden, zum Ausdruck bringen, dass die Schulden der Offiziere gegenüber der Armee in Raten beglichen werden können – eine solche Möglichkeit im Akt der Festsetzung der Entschädigung erwähnt sein muss. Im gegenständlichen Fall schien eine solche allerdings in der Entscheidung vom 16.5.2007 nicht auf.

(109) In Anbetracht dieser Umstände hat der GH keinen Zweifel, dass der Bf. somit verpflichtet war, unter Zwang zu handeln. Er hält fest, dass sich die Behörden über zwei gerichtliche Entscheidungen hinwegsetzten, die für sie bindend waren, und darauf bestanden, ihre ursprüngliche Entscheidung vom 26.5.2007 vollstrecken zu lassen, die präzisierte, dass das Verfahren zur Zahlung durch ein mögliches Rechtsmittel des Bf. nicht ausgesetzt werden könne. Durch die Verpflichtung des Bf., sofort die Summe von [...] € 112.155,69 zu zahlen, erlegten die Finanzbehörden dem Betroffenen eine unverhältnismäßige Last auf. [...] Verletzung von Art. 4 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 Abs. 2 iVm. Art. 14 EMRK

(110) Der Bf. behauptet, dass lediglich die Offiziersärzte der Landstreitkräfte wie er gezwungen wären, nach Art. 14 des Gesetzes Nr. 1394/1983 eine Spezialisierung zu erwerben und sich so zu verpflichten, in der Armee für eine zusätzliche Periode von fünf Jahren zu dienen, während eine solche Spezialisierung weder von Offiziersärzten der nationalen Marine noch von solchen der Luftstreitkräfte verlangt würde. [...]

(112) Der GH betont wie die Regierung, dass aus Art. 64 Abs. 7 und 15 des [...] Gesetzesdekrets [Nr. 1400/1973] iVm. Art. 14 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1394/1983 hervorgeht, dass die Verpflichtung zu einem zusätzlichen fünfjährigen Dienst im Falle einer Spezialisierung den Ärzten aller drei Armeekorps obliegt. Konkret hält er fest, dass Art. 14 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1394/1983 die Spezialisierung der Ärzte der Landstreitkräfte nicht verpflichtend vorsieht, indem er lediglich ausführt, dass jene, die eine Spezialisierung erwerben möchten, dies nur über die Armee tun können [...].

(113) Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde [...] offensichtlich unbegründet und für unzulässig zu erklären ist (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 2.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

W., X., Y. und Z./GB v. 19.7.1968 (ZE der EKMR)

Deweer/B v. 27.2.1980 = EuGRZ 1980, 667

Van der Mussele/B v. 23.11.1983 = EuGRZ 1985, 477

Georgoulis u.a./GR v. 21.6.2007

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.6.2015, Bsw. 51637/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 204) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_3/Chitos.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise