Bsw29369/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Morice gg. Frankreich, Urteil vom 23.4.2015, Bsw. 29369/10.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 10 EMRK - Harsche öffentliche Kritik eines Anwalts an Richterin.
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.270,– für materiellen Schaden; € 15.000,– für immateriellen Schaden; € 14.400,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. vertrat als Anwalt die Witwe von Bernard Borrel, der 1995 in Dschibuti ums Leben gekommen war. Herr Borrel war Richter und von Frankreich dem Justizminister von Dschibuti als Berater zur Verfügung gestellt worden. Sein Körper war in teilweise verbranntem Zustand an einer entlegenen Straße aufgefunden worden. Die örtlichen Behörden kamen zum Ergebnis, dass es sich um einen Selbstmord gehandelt hätte.
Die Witwe von Bernard Borrel bestritt diese Selbstmordthese und erstattete Anzeige gegen unbekannt wegen Mordes. Daraufhin wurden vom Tribunal de grande instance Paris Ermittlungen eingeleitet, für die Richterin M., unterstützt von Richter L. L., zuständig war. Im Juni 2000 gab das Berufungsgericht Paris einem vom Bf. im Namen von Frau Borrel eingebrachten Rechtsmittel gegen einen Beschluss von Richterin M. statt, mit dem ein weiterer Lokalaugenschein in Dschibuti in Anwesenheit der Privatbeteiligten abgelehnt worden war. Das Berufungsgericht entzog Richterin M. und Richter L. L. den Fall und übertrug ihn Untersuchungsrichter P.
Im Oktober 2000 stellte der Disziplinarausschuss für Richter gewisse Versäumnisse in der Führung des Verfahrens im Fall »Scientology« fest, für die Richterin M. verantwortlich war. Die Ergebnisse des Disziplinarverfahrens wurden vom Büro des Justizministers an die Presse weitergeben, bevor M. oder der Präsident ihres Gerichts informiert worden waren. Diese Angelegenheit kam bei einer Versammlung der Richter des Tribunal de grande instance Paris im Juli 2000 zur Sprache. Dabei erklärte ein Richter namens J. M., es sei ihnen als Richter nicht verboten zu sagen, dass sie hinter Richterin M. stünden und dass diese ihre Unterstützung und ihr Vertrauen genieße. Das Tribunal de grande instance Paris sprach im Jänner 2000 zwei Privatbeteiligten, die vom Bf. vertreten wurden, Schadenersatz wegen grober Versäumnisse im »Scientology«-Fall zu.
Der inzwischen für das Borrel-Verfahren zuständige Untersuchungsrichter P. verfasste am 1.8.2000 einen Bericht, wonach eine in den Akten erwähnte Videokassette mit Aufzeichnungen eines Lokalaugenscheins am Fundort des Leichnams nicht in diesen enthalten gewesen wäre. Auf Nachfrage habe ihm Richterin M. die Kassette in einem nicht versiegelten, an sie adressierten Umschlag übergeben. Darin fand sich auch eine Karte des Leiters der Staatsanwaltschaft Dschibuti, in der dieser die Richterin M. mit »Hallo Marie-Paule« begrüßte und die mit dem Vornamen unterschrieben war. Der Staatsanwalt erwähnte auf der Karte, dass er eine Fernsehsendung über den Fall gesehen und »einmal mehr festgestellt habe, wie entschlossen Frau Borrel und ihre Anwälte wären, die Inszenierung ihrer Manipulationen fortzusetzen.«
Am 6.9.2000 schrieben der Bf. und ein weiterer Anwalt einen Brief an den Justizminister, um sich über das in dem Bericht von P. dokumentierte Verhalten von Richterin M. und Richter L. L. zu beschweren, das »völlig unvereinbar mit den Grundsätzen der Unparteilichkeit und Fairness« wäre. Sie ersuchten um Einleitung einer Untersuchung der Versäumnisse. Sie behaupteten, die an M. adressierte Karte des Leiters der Staatsanwaltschaft Dschibuti würde eine intime Komplizenschaft offenbaren, die überraschend und bedauerlich wäre, insbesondere weil der leitende Staatsanwalt direkt dem Regierungschef unterstellt sei, der im Verdacht stehe, den Mord an Bernard Borrel in Auftrag gegeben zu haben. Auszüge aus diesem Brief wurden zusammen mit Stellungnahmen des Bf. gegenüber einem Journalisten am 7.9. und 8.9.2000 in Le Monde veröffentlicht.
Daraufhin brachten Richterin M. und Richter L. L. als Privatbeteiligte eine Strafanzeige gegen den Herausgeber von Le Monde, den Verfasser der Artikel und gegen den Bf. wegen öffentlicher Diffamierung eines Beamten ein. Der Bf. und die beiden anderen Beschuldigten wurden insbesondere wegen des Vorwurfs unter Anklage gestellt, das Verhalten von Richterin M. wäre völlig unvereinbar mit den Grundsätzen der Unparteilichkeit und Fairness, und wegen der Behauptung, die handschriftliche Karte des Leiters der Staatsanwaltschaft Dschibuti zeige ein Ausmaß des Einverständnisses zwischen diesem und den französischen Richtern, das man nur als ungeheuerlich bezeichnen könne.
Das Strafgericht Nanterre verurteilte den Bf. am 4.6.2002 zu einer Geldstrafe von € 4.000,– und gemeinsam mit den Mitangeklagten zur Zahlung einer Entschädigung von je € 7.500,– an M. und L. L. sowie zum Ersatz der Verfahrenskosten. Außerdem wurde die Veröffentlichung einer Mitteilung in Le Monde angeordnet. Die Angebote des Bf., die Wahrheit seiner Behauptungen zu beweisen, wurden abgelehnt.
Das Berufungsgericht Rouen bestätigte am 16.7.2007 die Verurteilungen. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hatte der Bf. mit seinen aggressiven Angriffen auf die berufliche und moralische Integrität der Richter die Grenzen der zulässigen Kritik überschritten. Die dagegen erhobenen Revisionen wurden am 10.11.2009 vom Cour de cassation abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
(65) Der Bf. bringt vor, sein Fall sei nicht fair von einem unparteilichen Gericht geprüft worden, weil am Cour de cassation ein Richter Mitglied des Senats gewesen sei, der zuvor öffentlich seine Unterstützung für Richterin M. bekundet hatte [...].
(79) Im vorliegenden Fall beruhte die Furcht hinsichtlich einer fehlenden Unparteilichkeit auf der Tatsache, dass Richter J. M., der Mitglied des Senats des Cour de cassation war, der das Urteil vom 10.11.2009 erließ, neun Jahre zuvor im Zusammenhang mit einem gegen Richterin M. [...] eingeleiteten Disziplinarverfahren seine Unterstützung für sie ausgedrückt hatte. [...]
(80) [...] Der Bf. anerkannte, dass nicht erwiesen war, dass Richter J. M. persönlich gegen ihn voreingenommen gewesen wäre. Er behauptete nur, dass seine bloße Mitgliedschaft in dem Senat ungeachtet von seinem persönlichen Verhalten eine Situation geschaffen hätte, die seine Befürchtungen objektiv rechtfertigen würde.
(81) Nach Ansicht des GH ist der Fall daher in Hinblick auf den Test der objektiven Unparteilichkeit zu prüfen. [...]
(82) Dementsprechend stellt der GH zunächst fest, dass die von Richter J. M. zur Unterstützung einer Kollegin, Richterin M., die für die Einleitung des Strafverfahrens gegen den Bf. im nunmehr vorliegenden Fall verantwortlich war, verwendete Sprache geeignet war, beim Bf. Zweifel an der Unparteilichkeit des seine Sache verhandelnden »Tribunals« zu erregen.
(83) Wie die Regierung vorbrachte [...], hatte J. M. seine Äußerungen vor langer Zeit gemacht und damit seinen persönlichen Standpunkt ausgedrückt, der nur die Bedingungen betraf, unter denen die Informationen über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen eine Kollegin [...] veröffentlicht worden waren.
(84) Der GH ist allerdings der Ansicht, dass der sehr außergewöhnliche Kontext des Falls nicht außer Acht gelassen werden darf. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass er eine Richterin und einen Anwalt betraf, die in dieser Eigenschaft an gerichtlichen Untersuchungen in zwei besonders prominenten Verfahren beteiligt waren [...]. Zudem stellt er fest, dass Richterin M. die Ermittlungen im Fall Borrel mit seinem beträchtlichen Medieninteresse und seinen politischen Nachwirkungen bereits leitete, als Richter J. M. im Zusammenhang mit dem »Scientology«-Fall seine Unterstützung äußerte. [...]
(85) Der Bf., der in beiden Fällen als Anwalt privatbeteiligter Parteien tätig war, die das Verhalten von Richterin M. kritisierten, wurde in weiterer Folge aufgrund einer von dieser erhobenen Beschwerde verurteilt. Dementsprechend gewann der berufliche Konflikt den Anschein eines persönlichen Konflikts [...].
(86) Der GH betont weiters, dass das Urteil des Berufungsgerichts [...] selbst ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen den Äußerungen des Bf. im fraglichen Verfahren und dem »Scientology«-Fall feststellte und zum Schluss gelangte, dies deute auf ein Begleichen alter Rechnungen durch den Bf. und eine persönliche Abneigung gegen Richterin M. hin. [...]
(87) Es war genau dieses Urteil des Berufungsgerichts, das der Bf. mit Revision bekämpfte und das von jenem Senat [...] des Cour de cassation überprüft wurde, dessen Mitglied Richter J. M. war. Der GH stimmt dem Argument der Regierung nicht zu, wonach diese Situation keine Schwierigkeiten mit sich bringe, weil eine Revision ein außerordentliches Rechtsmittel und die Überprüfung durch den Cour de cassation auf die Einhaltung des Rechts beschränkt sei.
(89) Das Argument der Regierung, Richter J. M. wäre Mitglied eines verstärkten Senats gewesen, der aus zehn Richtern bestand, ist nicht entscheidend für die Frage der objektiven Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Angesichts der Vertraulichkeit der Beratungen ist es unmöglich, den tatsächlichen Einfluss von Richter J. M. zu beurteilen. Daher konnte im oben beschriebenen Kontext die Unparteilichkeit dieses Gerichts aufrichtigen Zweifeln unterliegen.
(90) Überdies war der Bf. nicht darüber informiert worden, dass Richter J. M. Mitglied des Senats sein würde und er hatte keinen Grund, dies anzunehmen. [...] Er hatte daher keine Gelegenheit, die Mitwirkung von J. M. anzufechten oder in diesem Zusammenhang irgendetwas in Hinblick auf die Unparteilichkeit vorzubringen.
(91) Daraus folgt, dass die Befürchtungen des Bf. im vorliegenden Fall als objektiv gerechtfertigt angesehen werden können.
(92) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden hat (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Nicolaou und von Richter Kuris).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
(93) Der Bf. brachte vor, seine strafrechtliche Verurteilung habe eine Verletzung seines Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit begründet [...].
Allgemeine Grundsätze
Wahrung des Ansehens der Gerichtsbarkeit
(128) Fragen betreffend das Funktionieren des Gerichtssystems, einer für jede demokratische Gesellschaft wesentlichen Institution, fallen in das öffentliche Interesse. In diesem Zusammenhang muss die spezielle Rolle der Gerichtsbarkeit in der Gesellschaft berücksichtigt werden. Als Garant der Gerechtigkeit, eines fundamentalen Werts in einem Rechtsstaat, muss sie das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen, wenn sie ihre Aufgaben erfolgreich erfüllen soll. Es kann sich daher als notwendig erweisen, dieses Vertrauen gegen grob schädigende Angriffe zu verteidigen, die im Wesentlichen unbegründet sind, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Richter, die kritisiert wurden, einer Verschwiegenheitspflicht unterliegen, die sie an einer Entgegnung hindert.
(131) Angesichts der Tatsache, dass Richter Teil einer wesentlichen Institution des Staates sind, können sie dennoch – abgesehen von grob schädigenden Angriffen, die im Wesentlichen unbegründet sind – innerhalb der erlaubten Grenzen persönlich kritisiert werden und nicht nur in einer theoretischen und generellen Weise. Wenn sie in ihrer amtlichen Funktion handeln, können sie daher weiteren Grenzen akzeptabler Kritik unterworfen sein als gewöhnliche Bürger.
Status und Meinungsäußerungsfreiheit von Anwälten
(132) Der besondere Status von Anwälten verleiht ihnen eine zentrale Rolle in der Gerichtsbarkeit als Vermittler zwischen der Öffentlichkeit und den Gerichten. Sie spielen daher eine Schlüsselrolle bei der Sicherstellung, dass die Gerichte [...] das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen. [...]
(133) Diese spezielle Rolle von Anwälten [...] bringt eine Reihe von Verpflichtungen mit sich, insbesondere hinsichtlich ihres Verhaltens. Während sie Einschränkungen in Hinblick auf ihr berufliches Verhalten unterliegen, das taktvoll, ehrlich und würdevoll sein muss, genießen sie auch exklusive Rechte und Privilegien [...], darunter üblicherweise auch einen gewissen Spielraum betreffend die vor Gericht verwendeten Argumente.
(134) Die Meinungsäußerungsfreiheit ist folglich auch auf Anwälte anwendbar. Sie umfasst nicht nur den Inhalt der geäußerten Ideen und Informationen, sondern auch die Form, in der sie vermittelt werden. Anwälte sind insbesondere berechtigt, die Arbeit der Gerichtsbarkeit öffentlich zu kommentieren, vorausgesetzt, ihre Kritik überschreitet nicht gewisse Grenzen. [...]
(136) Es ist jedoch danach zu unterscheiden, ob sich der Anwalt im Gerichtssaal oder anderswo geäußert hat.
(137) Was erstens das Verhalten im Gerichtssaal betrifft, kann die Meinungsäußerungsfreiheit des Anwalts auch eine Frage des Rechts seines Mandanten auf ein faires Verfahren aufwerfen. Auch der Grundsatz der Fairness spricht daher für einen freien und starken Austausch der Argumente zwischen den Parteien. [...]
(138) Der GH wendet sich nun außerhalb des Gerichtssaals gemachten Äußerungen zu und erinnert daran, das die Verteidigung eines Mandanten auch mittels Äußerungen in der Presse oder in den Fernsehnachrichten verfolgt werden kann [...]. Ein Anwalt kann nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was in Form eines »Interviews« veröffentlicht wird, insbesondere wenn die Presse die Äußerungen bearbeitet und er oder sie bestimmte Aussagen bestritten hat. [...]
Anwendung im vorliegenden Fall
(141) Wie der GH zunächst feststellt, ist unbestritten, dass die strafrechtliche Verurteilung des Bf. einen Eingriff in die Ausübung seines durch Art. 10 EMRK garantierten Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit darstellte. Dies ist auch die Ansicht des GH.
(142) Der GH bemerkt weiters, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war [...].
(143) Die Parteien sind sich auch darin einig, dass das Ziel des Eingriffs der Schutz des Ansehens und der Rechte anderer war. Der GH sieht keinen Grund, eine andere Ansicht zu vertreten. [...]
(144) Es bleibt daher zu prüfen, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war [...].
(145) Wie der GH feststellt, vertrat das Berufungsgericht bei der Verurteilung des Bf. die Ansicht, die Behauptung, ein Untersuchungsrichter habe ein Verhalten an den Tag gelegt, »das völlig unvereinbar mit den Grundsätzen der Unparteilichkeit und Fairness« war, wäre für sich ein besonders diffamierender Vorwurf. [...]
Der Status des Bf. als Anwalt
(146) [...] Die Äußerungen wurden vom Bf. in seiner Eigenschaft als Anwalt gemacht, der für die privatbeteiligte Partei tätig war, und sie betrafen Angelegenheiten, die sich auf das Verfahren im Borrel-Fall bezogen.
(148) Der GH [...] betont die Notwendigkeit, zwischen Äußerungen eines Anwalts im Gerichtssaal und außerhalb desselben zu unterscheiden. [...] Angesichts ihres speziellen Status und ihrer Stellung in der Gerichtsbarkeit ist er der Ansicht [...], dass Anwälte nicht gleich behandelt werden können wie Journalisten. Ihre jeweilige Stellung und Rolle in Gerichtsverfahren unterscheidet sich wesentlich voneinander. [...]
(149) Der Bf. brachte vor, seine in Le Monde veröffentlichen Äußerungen hätten der Erfüllung seiner Aufgabe gedient, seinen Mandanten zu verteidigen [...]. Allerdings [...] zielten die umstrittenen Äußerungen auf Untersuchungsrichter ab, die zu diesem Zeitpunkt bereits endgültig von dem Verfahren abgezogen worden waren. Der GH kann daher nicht erkennen, wie diese Stellungnahmen unmittelbar der Aufgabe der Verteidigung des Mandanten dienen hätten können [...].
Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse
(151) [...] Die Äußerungen fielen im Kontext der gerichtlichen Untersuchung nach dem Tod des französischen Richters Bernard Borrel [...]. Der GH hatte bereits Gelegenheit, das von Anfang an bestehende erhebliche Medieninteresse an dem Fall zu bemerken (July und SARL Libération/F), das seine Prominenz in der öffentlichen Meinung widerspiegelt. [...]
(152) [...] Der GH war bereits zweimal aufgefordert, Beschwerden hinsichtlich des Borrel-Falls und des Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit in Hinblick auf Kommentare über den Umgang mit dem Fall zu prüfen (Floquet und Esménard/F und July und SARL Libération/F) und stellte in beiden Fällen fest, dass es eine Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse gab.
(153) Dementsprechend ist der GH der Ansicht, dass die umstrittenen Äußerungen des Bf., [...] die das Funktionieren der Gerichtsbarkeit und den Umgang mit dem Borrel-Fall betrafen, in den Kontext einer Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse fielen und daher ein höheres Maß des Schutzes der Meinungsäußerungsfreiheit erfordern [...].
Die Natur der umstrittenen Äußerungen
(156) Die umstrittenen Äußerungen waren nach Ansicht des GH [...] angesichts ihres Tonfalls und des Kontexts, in dem sie gemacht wurden, mehr Werturteile als reine Tatsachenbehauptungen, da sie hauptsächlich eine Gesamteinschätzung des Verhaltens der Untersuchungsrichter im Zuge der Ermittlungen widerspiegelten.
(157) Es bleibt daher zu prüfen, ob die »Tatsachengrundlage« für diese Werturteile ausreichend war.
(158) Der GH ist der Meinung, dass diese Bedingung im vorliegenden Fall erfüllt war. Nachdem der Fall Richterin M. und Richter L. L. [...] entzogen worden war, wurde offenkundig, dass ein wichtiges Beweisstück, nämlich die während eines Lokalaugenscheins der Richter im Beisein von Experten am Ort des Todes angefertigte Videokassette, nicht mit der Ermittlungsakte an den neu bestellten Richter weitergegeben worden war. Diese Tatsache war nicht nur bewiesen, sondern sie war auch ausreichend schwerwiegend, um das Anfertigen eines Berichts durch Richter P. zu rechtfertigen [...].
(159) Überdies zeigte die Karte nicht nur eine gewisse Freundlichkeit seitens des Staatsanwalts aus Dschibuti gegenüber Richterin M., sondern sie beschuldigte die Anwälte der privatbeteiligten Parteien auch »ihre Manipulationen zu inszenieren«. Der GH betont in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die Behörden in Dschibuti von Anfang an die Selbstmordthese unterstützten, sondern auch, dass eine Reihe von Vertretern dieses Staates persönlich in die gerichtlichen Ermittlungen in Frankreich verwickelt waren [...].
(160) Wie bereits festgestellt wurde, handelte der Bf. in seiner Eigenschaft als Anwalt in zwei Fällen von großem öffentlichen Interesse, in denen Richterin M. als Untersuchungsrichterin tätig war. In beiden gelang es dem Bf., von den Berufungsgerichten die Feststellung von Versäumnissen in den Verfahren zu erlangen, die zu einer Abberufung von Richterin M. führten. [...]
(161) Die vom Bf. verwendeten Ausdrücke hatten einen ausreichend engen Zusammenhang zu den Tatsachen des Falls, neben der Tatsache, dass seine Bemerkungen nicht als irreführender oder unbegründeter Angriff angesehen werden konnten. [...] Die Verwendung eines scharfen Tons in einem an einen Richter gerichteten Kommentar ist nicht mit Art. 10 EMRK unvereinbar.
Die besonderen Umstände des Falls
Berücksichtigung des Gesamthintergrunds
(162) [...] Im vorliegenden Fall kann der Hintergrund nicht nur durch das Verhalten der Untersuchungsrichter und die Verbindungen zwischen dem Bf. und einer von ihnen erklärt werden, sondern auch durch die sehr spezielle Geschichte des Falls, seine zwischenstaatliche Dimension und die erhebliche Medienberichterstattung. Wie der GH bemerkt, räumte das Berufungsgericht allerdings der umstrittenen Äußerung des Bf. erhebliche Tragweite ein, mit der er eine Untersuchungsrichterin für ein »Verhalten, das völlig unvereinbar mit den Grundsätzen der Unparteilichkeit und Fairness« ist, kritisierte [...]. Dieses Zitat hätte jedoch im Licht der speziellen Umstände des Falls beurteilt werden müssen, insbesondere weil es tatsächlich keine gegenüber dem Verfasser des Artikels abgegebene Stellungnahme war, sondern ein Auszug aus dem Brief, den der Bf. und sein Kollege [...] am 6.9.2000 an den Justizminister schickten. Zudem war der Journalist zu dem Zeitpunkt, als der Bf. seine Fragen beantwortete, bereits von seinen eigenen Quellen über den Brief informiert worden [...].
(163) Das Berufungsgericht hätte daher die umstrittenen Äußerungen unter voller Berücksichtigung sowohl des Hintergrunds des Falls als auch des gesamten Inhalts des Briefes beurteilen müssen.
(165) Was die Frage der persönlichen Abneigung seitens des Bf. gegenüber Richterin M. [...] betrifft, ist der GH der Ansicht, dass dieser Aspekt nicht ausreichend relevant und schwerwiegend war, um die Verurteilung des Bf. zu rechtfertigen. In jedem Fall [...] hätte ein solcher Vorwurf der persönlichen Abneigung auch gegen Richterin M. erhoben werden können [...]. Zudem bestehen weitere Faktoren, welche die Betonung der persönlichen Abneigung des Bf. durch das Berufungsgericht in Frage stellen, wenn sie ihr nicht gar widersprechen. Erstens war die Äußerung betreffend das »Verhalten, das völlig unvereinbar mit den Grundsätzen der Unparteilichkeit und Fairness ist« nicht nur gegen Richterin M. gerichtet, sondern auch gegen Richter L. L., in Hinblick auf den dem Bf. keine persönliche Abneigung vorgeworfen wurde. Zudem [...] war der Brief an den Justizminister in Wirklichkeit von zwei Anwälten, dem Bf. und seinem Kollegen [...] unterzeichnet und abgeschickt worden. Was Letzteren betrifft, wurde er nicht nur nicht für die ihm ebenso wie dem Bf. zuzurechnenden Äußerungen verfolgt, es wurde ihm auch keine Abneigung gegen Richterin M. oder Richter L. L. vorgeworfen.
(166) Somit können die Stellungnahmen des Bf. nicht auf einen bloßen Ausdruck persönlicher Abneigung, also einer feindseligen Beziehung zwischen ihm und Richterin M., reduziert werden. Die umstrittenen Bemerkungen fielen in Wirklichkeit in einem breiteren Kontext, der auch einen weiteren Anwalt und einen weiteren Richter betraf. Nach Ansicht des GH spricht diese Tatsache für den Gedanken, dass die Äußerungen nicht Teil einer persönlichen, von Rache getriebenen Vorgehensweise des Bf. waren, sondern vielmehr Teil einer gemeinsamen beruflichen Initiative zweier Anwälte aufgrund neuer Tatsachen, die erwiesen und geeignet waren, schwerwiegende Mängel im Gerichtssystem aufzuzeigen und in die die beiden Richter verwickelt waren, die zuvor die Ermittlungen in einem Fall leiteten, in dem die Mandanten der beiden Anwälte Privatbeteiligte waren.
(167) Zudem betraf die Kernaussage der Äußerungen des Bf. [...] das Funktionieren einer gerichtlichen Untersuchung, das eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse war und damit wenig Spielraum für Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit ließ. Außerdem sollte ein Anwalt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf mögliche Mängel im Gerichtssystem lenken können; die Justiz könnte von konstruktiver Kritik profitieren.
Wahrung der Autorität der Justiz
(168) [...] Auch wenn es sich angesichts der Tatsache, dass Richter durch ihre Verschwiegenheitspflicht an einer Entgegnung gehindert werden, als notwendig erweisen kann, die Gerichtsbarkeit vor grob schädigenden Angriffen zu schützen, die im Wesentlichen unbegründet sind, kann dies nicht dazu führen, dass es Personen verboten ist, ihre Ansichten über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse hinsichtlich des Funktionierens des Gerichtssystems in Form von Werturteilen mit ausreichender Tatsachengrundlage auszudrücken, oder dass jede Kritik an der Justiz untersagt wird. Im vorliegenden Fall waren Richterin M. und Richter L. L. Mitglieder der Gerichtsbarkeit und damit Teil einer wesentlichen staatlichen Institution. Sie unterlagen daher weiteren Grenzen akzeptabler Kritik als gewöhnliche Bürger und die umstrittenen Äußerungen konnten daher gegen sie in dieser Eigenschaft gerichtet werden.
(169) [...] Die Äußerungen des Bf. waren auch nicht geeignet, die ordentliche Führung des Gerichtsverfahrens zu untergraben, da das übergeordnete Gericht den beiden von der Kritik betroffenen Untersuchungsrichtern den Fall bereits entzogen hatte. [...]
(170) Auch kann aus denselben Gründen und angesichts der obigen Feststellungen nicht davon ausgegangen werden, dass die Verurteilung des Bf. der Wahrung der Autorität der Gerichtsbarkeit dienen könnte. [...]
Schlussfolgerung
(174) Nach Ansicht des GH stellten die umstrittenen Äußerungen des Bf. keine grob schädigenden und im Wesentlichen unbegründeten Angriffe gegen die Handlungen der Gerichte dar, sondern gegen Richterin M. und Richter L. L. gerichtete Kritik als Teil einer Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betreffend das Funktionieren des Gerichtssystems und im Zusammenhang mit einem Fall, welcher von Anfang an auf großes mediales Interesse gestoßen war. Während diese Äußerungen zugegebenermaßen als harsch angesehen werden können, stellten sie dennoch Werturteile mit einer ausreichenden »Tatsachengrundlage« dar.
Die verhängten Sanktionen
(175) [...] Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs sind auch die Art und Schwere der verhängten Strafen zu berücksichtigende Faktoren. [...]
(176) [...] Es ist auch anzumerken, dass die Verhängung einer Sanktion gegen einen Anwalt direkte (Disziplinarverfahren) oder indirekte Auswirkungen (beispielsweise hinsichtlich ihres Ansehens oder des Vertrauens der Öffentlichkeit oder ihrer Mandanten) haben kann. [...] Im vorliegenden Fall beschränkte sich die Bestrafung des Bf. nicht auf eine strafrechtliche Verurteilung: die verhängte Sanktion war nicht die mildest mögliche, sondern ganz im Gegenteil von einiger Schwere und seine Stellung als Anwalt wurde sogar herangezogen, um eine größere Strenge zu rechtfertigen.
Schlussfolgerung
(177) Angesichts der obigen Feststellungen findet der GH, dass das Urteil gegen den Bf. [...] als unverhältnismäßiger Eingriff in sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit angesehen werden kann und somit nicht iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.
(178) Dementsprechend hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Kuris).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 4.270,– für materiellen Schaden; € 15.000,– für immateriellen Schaden; € 14.400,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anmerkung
Die V. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 11.7.2013 (NL 2013, 254) einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt und eine Verletzung von Art. 10 EMRK mit 6:1 Stimmen verneint.
Vom GH zitierte Judikatur:
Prager und Oberschlick/A v. 26.4.1995 = NL 1995, 121 = ÖJZ 1995, 675
Floquet und Esménard/F v. 10.1.2002
Nikula/FIN v. 21.3.2002 = NL 2002, 60 = ÖJZ 2003, 430
Kyprianou/CYP v. 15.12.2005 (GK)
Lindon, Otchakovsky-Laurens und July/F v. 22.10.2007 (GK) = NL 2007, 261
July und SARL Libération/F v. 14.2.2008
Micallef/M v. 15.10.2009 (GK) = NL 2009, 294
Roland Dumas/F v. 15.7.2010 = NL 2010, 232
Mor/F v. 15.12.201
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.4.2015, Bsw. 29369/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 153) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_2/Morice.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.