Bsw30587/13 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Karaahmed gg. Bulgarien, Urteil vom 24.2.2015, Bsw. 30587/13.
Spruch
Art. 3 EMRK, Art. 9 EMRK - Störung des Freitagsgebets von Muslimen durch Demonstranten.
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 9 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.000,– für immateriellen Schaden, € 4.668,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 20.5.2011 gegen 12:00 Uhr versammelten sich muslimische Gläubige, darunter auch der Bf., in und vor der Banja-Baschi-Moschee im Zentrum von Sofia für ihr reguläres Freitagsgebet. Gleichzeitig trafen sich zwischen 100 und 150 Führer, Mitglieder und Unterstützer der bulgarischen (stark rechts gerichteten) politischen Partei Ataka vor der Moschee um gegen das – wie sie es nannten – »Geheule« aus den Lautsprechern der Moschee zu protestieren.
Nach den Angaben der Regierung hatte Ataka die Stadtverwaltung am 19.5.2011 um 9:54 Uhr informiert, dass sie beabsichtigte, am 20.5. zwischen 13:00 Uhr und 17:00 Uhr im Park hinter der Moschee eine Versammlung abzuhalten. Ein Brief der Stadtverwaltung gibt an, dass sie die Direktion Sofia des Innenministeriums davon am 19.5.2011 um 10:50 Uhr informierte. Ein Brief des Innenministeriums hält hingegen fest, dass diese von der Demonstration erst am 20.5.2011 um 11:40 Uhr erfuhr, als sie Informationen bekam, dass Unterstützer von Ataka begonnen hatten, sich vor der Moschee zu versammeln. Daraufhin wurden Polizeibeamte an den Ort entsandt.
Die Ereignisse vom 20.5.2011 können auf der Basis von Videoaufzeichnungen nachvollzogen werden. Viele Demonstranten trugen T-Shirts, auf denen z.B. »Nein zur Türkei in der EU« zu lesen war, oder Flaggen mit der Aufschrift »Lasst uns Bulgarien zurückholen« und es wurden aus Lautsprechern auf den Wagen bulgarische patriotische Lieder abgespielt. Die Aufzeichnungen zeigen auch, wie die Demonstranten die Gläubigen beschimpfen, etwa mit »dreckige Terroristen«, »Abschaum«, »Verunreinigt unser Land nicht« oder »Eure Füße stinken, darum wascht ihr sie«. Einer der Teilnehmer zerschnitt einen türkischen Fez mit einem Taschenmesser und sagte dazu »Wir müssen euch nun zeigen, was mit jedem von euch passieren wird«.
Der Imam der Moschee rief die Gläubigen wiederholt auf, nicht auf die Provokationen zu reagieren. Als das Freitagsgebet begann, stieg ein Demonstrant auf den einstöckigen Anbau der Moschee und spielte dort zwei Lautsprecher ab, um das Gebet zu übertönen. Nachdem einige Gläubige und weitere Demonstranten hinauf geklettert waren, kam es zu einem Handgemenge. Etwa zehn Polizisten stiegen in der Folge ebenfalls aufs Dach. Zwei oder drei Polizisten versuchten, etwa 100 Demonstranten im Park und von dem Anbau fernzuhalten, einige wenige weitere Polizisten versuchten einen Kordon zwischen den übrigen circa 50 Demonstranten aufrechtzuerhalten. Die Demonstranten bewarfen die Gläubigen währenddessen mit Eiern und Steinen. Bei den Vorfällen wurden fünf Polizisten, fünf Gläubige und eine Abgeordnete von Ataka verletzt. Als die Demonstranten auf Geheiß des Parteivorsitzenden (Herr Siderov) abzogen, steckten einige von ihnen noch Gebetsteppiche in Brand.
In einer polizeilichen Untersuchung des Vorfalls kam es zu Ermittlungen wegen der Verletzung von Polizisten und der Abgeordneten, Sachbeschädigungen an der Moschee und an einem Polizeiauto sowie insbesondere auch wegen der gegen die Gläubigen gerichteten Gewalt. Nach der Aufnahme von Beweisen im Zusammenhang mit Letzterer wurden sieben Personen wegen schwerem Rowdytum angeklagt, wobei es keine Informationen über den weiteren Verlauf des Verfahrens gibt.
Daneben kam es zu einer Untersuchung durch den Nationalen Ermittlungsdienst. Die Staatsanwaltschaft Sofia eröffnete am 25.5.2011 Ermittlungen, deren Fokus darauf gerichtet war, ob es irgendwelche Delikte nach Art. 164 Abs. 1 StGB (Verbot der religiös motivierten Hassrede) gegeben hatte. Die Untersuchung läuft noch. Bislang wurde allerdings noch niemand angeklagt. Aus der Fallakte geht hervor, dass ein Herr M. gestanden hat, derjenige gewesen zu sein, der während der Demonstration den Fez zerschnitt. Er sei dazu von Herrn Siderov angewiesen worden. Er gab zudem an, dass eine Kollision zwischen den Demonstranten und den Gläubigen vermieden werden hätte können, wenn Herr Siderov es gewollt hätte, etwa durch einen Rückzug. Aus der Akte geht hervor, dass verschiedene Bemühungen unternommen wurden, um die Anführer von Ataka zu vernehmen, doch bis auf eine Ausnahme (Herr Chukolov, der stellvertretende Parteivorsitzende) erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), da das Verhalten der Demonstranten eine Misshandlung dargestellt hätte. Angesichts der Passivität der Behörden während des Vorfalls und ihres Versäumnisses, den Vorfall ordnungsgemäß zu untersuchen, wäre es zu einer Verletzung der positiven Verpflichtungen des Staates unter dieser Bestimmung gekommen. Unter Hinweis auf seine Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit rügt der Bf., dass die Handlungen der nationalen Behörden auch eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) begründet hätten. Weiters beschwert er sich über eine Verletzung von Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit) durch das Versäumnis der nationalen Behörden, ihn angemessen vor den Demonstranten zu schützen und den Vorfall ordnungsgemäß zu untersuchen.
Rahmen des Falls
(59) Der Bf. hat gerügt, dass die Ereignisse bei der Banja-Baschi-Moschee am 20.5.2011 und die Antwort der innerstaatlichen Behörden darauf Art. 3 EMRK und Art. 9 EMRK verletzten, und zwar jeweils alleine und iVm. Art. 14 EMRK. Er hat auch gerügt, dass dieselben Ereignisse eine Verletzung von Art. 8 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK begründet hätten. Die Regierung hat dieses Vorbringen bestritten. Sie erhob auch zwei Einreden zur Zulässigkeit der Beschwerde, die sich auf alle diese Rügen beziehen.
Zu den Einreden
(60) Die Regierung erhob als erstes die Einrede, dass der Bf. nicht Opfer einer Verletzung der von ihm bezeichneten Konventionsrechte gewesen sei, da nicht festgestellt worden wäre, wie und in welchem Umfang er in die Ereignisse bei der Moschee am 20.5.2011 verwickelt gewesen sei. [...]
(61) Die zweite Einrede der Regierung ging dahin, dass der Bf. es verabsäumt hätte, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen. Er hätte [insbesondere] keine Beschwerde an die Kommission zum Schutz vor Diskriminierung gerichtet [...].
(64) Was die erste der beiden [...] Einreden betrifft, geht aus der Akte und den darin enthaltenen Videoaufzeichnungen klar hervor, dass der Bf. sich vor, während und nach den Demonstrationen bei der Moschee befand. Tatsächlich wurde von den nationalen Behörden im Zuge der Ermittlungen akzeptiert, dass er dort gewesen war. Das Ausmaß, zu dem er von den Handlungen der Demonstranten beeinträchtigt wurde, spielt nur dafür eine Rolle, ob diese Handlungen die Schwelle für eine Misshandlung iSd. Art. 3 EMRK erreichten oder für das Ausmaß des Eingriffs in seine anderen Konventionsrechte [...] und weniger für das Fehlen der Opfereigenschaft. Dementsprechend muss diese Einrede zurückgewiesen werden (einstimmig).
(65) Was die zweite der beiden Einreden angeht, macht der Brief der Kommission, welchen die Regierung dem GH vorgelegt hat, klar, dass die Kommission nicht in der Lage gewesen wäre, eine etwaige Beschwerde zu prüfen, während ein Strafverfahren anhängig war; aus diesem Grund hätte eine Beschwerde an die Kommission in diesem Fall keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Diese Einrede muss daher ebenfalls zurückgewiesen werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
(73) Es muss insbesondere im Kontext von Handlungen von Dritten, die durch religiöse Intoleranz motiviert sind, [...] betont werden, dass Art. 3 EMRK nicht auf körperliche Misshandlungen beschränkt werden kann; er umfasst auch die Zufügung von psychischem Leid. Zudem kann eine diskriminierende Behandlung als solche grundsätzlich auf eine erniedrigende Behandlung iSd. Art. 3 EMRK hinauslaufen, wenn sie eine solche Schwere erreicht, dass sie einen Angriff auf die Menschenwürde darstellt.
(74) Im vorliegenden Fall akzeptiert der Bf., dass er durch die Demonstranten am 20.5.2011 keine körperliche Verletzung erlitt; seine Beschwerde ist stattdessen auf die psychischen Wirkungen der Handlungen der Demonstranten auf ihn und die anderen Gläubigen gerichtet. [...]
(75) Im Lichte der ihm vorliegenden Beweise akzeptiert der GH, dass die Absichten der Demonstranten darüber hinausgingen, gegen die Lautstärke der Lautsprecher zu protestieren, sondern diese vielmehr darauf gerichtet waren, die Gläubigen und ihre Religion öffentlich zu verspotten und zu erniedrigen. Wie vorsätzlich und öffentlich diese Handlungen auch gewesen sein mögen und wie sehr sie auch eine Störung der Gebete des Bf. und der anderen Gläubigen erreichten, so waren sie nicht so schwerwiegend, dass sie jene Art von Angst, Pein oder Gefühlen von Minderwertigkeit verursachten, die für Art. 3 EMRK nötig sind. Wie die Regierung vorgebracht hat, handelte es sich dabei um eine einmalige Demonstration, die eineinhalb Stunden dauerte. Es handelte sich damit nicht um einen Fall, wo gesagt werden könnte, dass die anhaltenden Handlungen der Demonstranten zu einem erheblichen psychischen Leid des Bf. führten. Diesbezüglich steht die Situation des Bf. im Gegensatz zu P. F. und E. F./GB, wo im Hinblick auf junge Schülerinnen und deren Eltern ein beträchtliches psychisches Leid festgestellt wurde, als sie zwei Monate lang täglichen Beschimpfungen – darunter Drohungen und Werfen von Gegenständen und Fäkalien – durch Protestierende ausgesetzt waren und wo als Folge dieses Leidens die Schwelle von Art. 3 EMRK als erreicht angesehen wurde. Die Ereignisse bei der Moschee an diesem Tag müssen auch von der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch den GH in Mitglieder der Zeugen Jehovahs von Gldani u.a./GE und Begheluri/GE unterschieden werden, wo die Schwelle nach Art. 3 EMRK durch schwere Züchtigungen, erzwungene Durchsuchungen und eine Reihe anderer erniedrigender Handlungen erreicht wurde, die dazu gedacht waren, die Bf. zu zwingen, gegen ihren Willen und ihr Gewissen zu handeln und die in einem allgemeinen nationalen Klima religiöser Intoleranz stattfanden.
(77) Der GH kommt daher zum Schluss, dass die Schwelle des Art. 3 EMRK in diesem Fall nicht erreicht wurde. [...] Deswegen erübrigt es sich zu prüfen, ob die Regierung ihren positiven Verpflichtungen unter dieser Bestimmung nachkam. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und [...] [als unzulässig] zurückzuweisen ist (einstimmig). [...] Die Rüge des Bf. unter Art. 14 iVm. Art. 3 EMRK ist daher ebenfalls offensichtlich unbegründet und [...] [als unzulässig] zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK
(80) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
Allgemeine Grundsätze
(91) Der Kern des Falls betrifft die Ausübung von zwei konkurrierenden Grundrechten: die Rechte von Ataka und ihren Anhängern auf Meinungsäußerungsfreiheit und friedliche Versammlung und die Rechte des Bf. und anderer Gläübiger an der Banja-Baschi-Moschee, ohne unangemessene Eingriffe friedlich und in Gemeinschaft zu beten.
(92) All diese Rechte werden von der Konvention geschützt: die Rechte auf Meinungsäußerungsfreiheit und Freiheit der friedlichen Versammlung in Art. 10 und 11 EMRK und das Recht auf Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK. Sie sind nicht absolut: alle drei Artikel sehen vor, dass die Ausübung der Rechte Beschränkungen unterworfen werden kann, unter anderem zum Schutz der Rechte anderer. Die Konvention legt keine a priori-Hierarchie zwischen diesen Rechten fest: grundsätzlich verdienen sie gleiche Achtung. Sie müssen daher auf eine Weise gegeneinander abgewogen werden, welche die Bedeutung dieser Rechte in einer Gesellschaft anerkennt, die sich auf Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit gründet. Daraus erfließen drei weitere Grundsätze.
(93) Zum ersten obliegt es dem Staat sicherzustellen, dass – soweit dies auf vernünftige Weise möglich ist – beide Gruppen von Rechten geschützt werden. Diese Pflicht kommt gleichermaßen zum Tragen, wenn Handlungen, welche eines der beiden Rechte verletzen, durch Privatpersonen gesetzt werden [...].
(94) Zweitens muss der Staat sicherstellen, dass ein rechtlicher Rahmen etabliert wird, um diese Rechte vor Dritten zu schützen und wirksame Maßnahmen zu setzen um zu gewährleisten, dass sie in der Praxis geachtet werden.
(95) Drittens ist es – wie immer, wenn ein Vertragsstaat zwei von der Konvention garantierte Werte zu schützen sucht, die miteinander in Konflikt treten können – Aufgabe des GH, in Ausübung seiner [...] Überwachungspflicht zu prüfen, ob die Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen diesen Werten geschaffen haben. Dabei darf der GH nicht rückblickend handeln. [...]
(96) Dies trifft besonders zu, wenn es bei der Polizei liegt, diesen Ausgleich im Konkreten zu schaffen. Wie der GH oft betont hat, müssen die Schwierigkeiten bei der Überwachung moderner Gesellschaften gebührend berücksichtigt werden. Daher muss bei der Beurteilung der Reaktion der Polizei auf die Ereignisse vom 20.5.2011 die für sie bestehende positive Verpflichtung, sowohl die Rechte der Demonstranten als auch des Bf. und der anderen Gläubigen zu wahren, auf eine Weise interpretiert werden, die ihr keine unmögliche oder unverhältnismäßige Last auferlegt.
Anwendung auf den vorliegenden Fall
(100) Es wird nicht bestritten, dass die Ansichten von Ataka zum Islam eine Sache von öffentlichem Interesse sind. [...] Folglich war es für die nationalen Behörden klar, welche Art von Demonstration es sein würde, als ihnen von Ataka mitgeteilt wurde, dass außerhalb der Banja-Baschi-Moschee eine Demonstration erfolgen sollte, die zudem mit den dortigen Freitagsgebeten zusammenfallen würde. Jede Demonstration von Unterstützern von Ataka bei der Banja-Baschi-Moschee – auch eine vorgeblich gegen die Lautstärke des freitäglichen Aufrufs zum Gebet gerichtete – beinhaltete eine immanente Gefahr der Spannung zwischen den Demonstranten und den Gläubigen bei der Moschee. Tatsächlich zeigt die Entscheidung des Innenministeriums nach der Information, dass sich Demonstranten außerhalb der Moschee versammelt hatten, sofort Polizeibeamte zu entsenden, dass die nationalen Behörden sich dieser Gefahr bewusst waren. Nachdem sie zur Einschätzung gelangt waren, dass ein Risiko von Unruhen und Gewalt bestand, [...] hätten die nationalen Behörden soweit wie möglich darauf vorbereitet sein müssen, Schritte zu setzen, um erstens die Gefahr zu minimieren, dass diese Spannung in Gewalt überschwappte, und zweitens sowohl die Rechte der Demonstranten zur friedlichen Versammlung als auch jene der Gläubigen zum friedlichen Gebet sicherzustellen. Die unterschiedlichsten Schritte hätten gesetzt werden können, wie z.B. die Festlegung von Bereichen, in denen die Demonstranten in sicherer Entfernung von den Gläubigen demonstrieren konnten und die Sicherstellung, dass eine ausreichende Zahl von Polizeibeamten verfügbar gemacht wurde, um eine Demonstration von dieser Größe und Natur ordnungsgemäß zu überwachen.
(101) Die nationalen Behörden hatten Zeit, um diese Schritte zu setzen. Ataka informierte die Stadtverwaltung am Morgen des 19.5. von ihren Absichten. Es herrscht Uneinigkeit zwischen der Stadtverwaltung und der Direktion Sofia des Innenministeriums darüber, ob Letztere von der geplanten Demonstration am 19. oder 20.5. informiert wurde. Es ist jedoch klar, dass – ob wegen mangelnder Koordination zwischen den betreffenden Behörden oder aus anderen Gründen – keine konkreten Schritte gesetzt wurden, um die Situation zu regeln, bis die Demonstration begann. Wie der Brief des Innenministeriums festhält, wurden die ersten Polizeibeamten erst zur Moschee entsandt, nachdem die Information erhalten worden war, dass Anhänger von Ataka begonnen hatten, sich im danebenliegenden Park zu versammeln. Aus diesem Versäumnis, vor dem Beginn der Demonstration irgendwelche Schritte zu setzen, geht implizit hervor, dass die nationalen Behörden es verabsäumten, es auf irgendeine Weise vorab in Betracht zu ziehen, wie die konkurrierenden Rechte der Demonstranten und Gläubigen gerecht ausgeglichen werden konnten, um sicherzustellen, dass beide gleichermaßen geachtet wurden.
(102) Wenn er nicht schon vor Beginn der Demonstration offenkundig war, musste der Bedarf, solche Schritte zu setzen, klar sein, als die Demonstration einmal begann. Die Natur dieser Demonstration wird unterschätzt, wenn behauptet wird, dass sie lediglich die Lautstärke des freitäglichen Gebetsaufrufs betraf. Die Demonstranten, die mehrheitlich schwarz trugen, stellten Slogans zur Schau, die ihre Ansicht über die Türkei und ethnische Türken, die in Bulgarien lebten, sowie dass die Gläubigen an der Moschee ethnische Türken waren, verdeutlichte. Sie riefen antitürkische und antiislamische Parolen, von denen einige boshaft und vulgär waren. Der Demonstrant, der den Fez mit einem Taschenmesser zerschnitt und rief »Wir müssen euch nun zeigen, was mit jedem von euch passieren wird« tat dies mit der eindeutigen Zustimmung derjenigen um ihn herum. Die Versuche von bestimmten Demonstranten, am Dach des eingeschossigen Anbaus Lautsprecher zu platzieren, fanden ebenfalls die Billigung der anderen Demonstranten. Dabei handelte es sich um Akte, die nicht dazu bestimmt waren, eine Unzufriedenheit mit dem Geräuschpegel oder auch eine Gegnerschaft zum Islam auszudrücken, vielmehr waren diese klar darauf ausgerichtet, eine maximale Störung der Gebete der Gläubigen zu verursachen und Gewalt zu provozieren.
(103) Die Gläubigen hingegen hatten sich für ihre wöchentlichen Gebete versammelt. Ihr Ziel an diesem Tag war es nicht, sich auf die Demonstranten einzulassen, sondern im Einklang mit ihrer regulären Praxis zu beten wie bei früheren Freitagsgebeten. Selbst nachdem die Demonstranten begonnen hatten, sie mit Eiern und Steinen zu bewerfen, versuchten die Gläubigen weiter zu beten und achteten so den Aufruf des Imams, auf Provokationen nicht zu reagieren.
(104) Die an diesem Tag bei der Moschee anwesende Polizei war bei ihren Handlungen dazu angehalten, die Ausübung der Rechte jeder der beiden Gruppen zu achten und ferner sicherzustellen, dass jede Gruppe die Rechte und Freiheiten der anderen achtete. Diesbezüglich musste es der Polizei klar geworden sein, dass ihre Untätigkeit es den Demonstranten erlaubte, ihre Rechte in einer Weise auszuüben, die die Rechte der Gläubigen völlig unterdrückte.
(105) Auch unter Berücksichtigung des weiten Beurteilungsspielraums, den sie in solchen operativen Angelegenheiten genoss, ist aus den Videoaufzeichnungen ohne weiteres ersichtlich, dass die Polizei es verabsäumte sicherzustellen, dass diesen Rechten gebührende Achtung gezollt wurde, oder auch nur ernsthaft in Betracht zu ziehen, wie eine solche Achtung erreicht werden konnte. Wie der GH festgehalten hat, hätten die Behörden das Risiko bemerken müssen, dass der Erlaubnis immanent war, die Demonstration auf die betreffende Art und Weise vorangehen zu lassen. Dies umso mehr, als ihnen mitgeteilt wurde, dass 300 Demonstranten beteiligt sein könnten. Es war schon an sich riskant, eine derartige Zahl von Demonstranten der Moschee so nahe kommen zu lassen. Sie hatten ursprünglich ihre Absicht angekündigt, [...] auf der anderen Seite der Moschee zu demonstrieren, nämlich im Park dahinter. Hätte die Polizei sie in diesem Bereich gehalten, hätte sie es den Demonstranten erlaubt, ihre Demonstration abzuhalten, sowie den Gläubigen, ihr Gebet mit minimaler Störung fortzusetzen, und vor allem hätte sie jede Gefahr von Gewalt zwischen den beiden Gruppen soweit wie möglich reduziert. In der Tat besaß die Polizei die Macht, die Demonstration auf diese Weise zu kontrollieren [...].
(106) Unter den gegebenen Umständen erlaubte die Nähe der Demonstranten zur Moschee diesen, die von den Gläubigen durch so wenige Polizisten getrennt waren, die betreffende Störung zu verursachen, und [...] ermöglichte es einigen von ihnen, über den einstöckigen Anbau in die Moschee zu klettern. An diesem Punkt waren mehrere hundert Demonstranten und Gläubige durch nicht mehr als ein dutzend Polizisten getrennt, die einen improvisierten und sichtbar unzureichenden Kordon formten. Der Umstand, dass die Demonstranten Zugang zu dem Anbau erlangen konnten, zeigt, wie unangemessen der Kordon war: hätten sich noch mehr Demonstranten entschlossen, den Anbau zu besteigen, wäre die Polizei machtlos gewesen, sie zu stoppen oder den Ausbruch umfassender Gewalt zu verhindern, der beinahe sicher gefolgt wäre. Es trifft zwar zu, dass die Polizei es schaffte, gewisse Demonstranten zu inhaftieren, die auf den Anbau geklettert waren, aber es scheint, dass die Situation nur dadurch entschärft wurde, dass die Demonstranten den Bereich der Moschee auf eigene Faust verließen, und erst nachdem sie [...] einige Gebetsteppiche der Gläubigen in Brand gesteckt hatten. Die Polizei tat nichts, um diesen letzten Akt zu verhindern: tatsächlich ist nicht klar, wie die dafür verantwortlichen Demonstranten in der Lage waren, an der Polizei vorbeizukommen, welche die Demonstranten und Gläubigen zuvor [...] getrennt hatte. Weiters reagierte die Polizei gar nicht, als die Teppiche einmal in Brand standen, außer dass sie die Feuerwehr rief.
(107) In Summe war das Ergebnis der Reaktion der Polizei an diesem Tag, dass eine große Zahl von Demonstranten in der Lage war, in Reichweite der Banja-Baschi-Moschee zu stehen, den betenden Gläubigen Beleidigungen zuzurufen, sich in drohenden und provokativen Gesten und Aktionen zu ergehen und letztlich Zugang zur Moschee zu erlangen. Sie genossen an diesem Tag ein praktisch unbeschränktes Recht, bei der Moschee zu protestieren, während die Gebete des Bf. und der anderen Gläubigen gänzlich gestört wurden. Es ist deshalb klar, dass sich die Handlungen der Polizei einfach darauf beschränkten, die Gewalt zu begrenzen, die an diesem Tag ausbrach und dass keine gebührende Beachtung geschenkt wurde, wie ein angemessener Ausgleich geschaffen werden konnte, um die Achtung für die wirksame Ausübung der Rechte der Demonstranten sowie des Bf. und der anderen Gläubigen sicherzustellen.
(108) Da der Bf. zusammen mit den anderen Gläubigen Opfer einer Verletzung seiner Freiheit der Religionsausübung war und dies Folge der Handlungen der Demonstranten war, oblag es den Behörden, wirksam auf diese Handlungen zu reagieren.
(109) Diesbezüglich akzeptiert der GH, dass die Verurteilung der Handlungen der Demonstranten sowohl durch den Präsidenten als auch durch das Parlament [...] nicht nur Missbilligung und Entschlossenheit dahingehend ausdrückte, dass sichergestellt werden musste, dass dieser Vorfall einmalig blieb, sondern auch darauf beharrte, dass alle zuständigen staatlichen Behörden, darunter auch die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, die notwendigen Maßnahmen setzten, um die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze der Republik sicherzustellen [...]. Dies steht zum Fehlen irgendeiner bedeutsamen Antwort der Behörden in den Fällen Mitglieder der Zeugen Jehovahs von Gldani u.a./GE und Begheluri/GE im Widerspruch [...], von welchem der GH festgestellt hat, dass es zu einer Verschärfung und Generalisierung religiöser Gewalt gegen die Zeugen Jehovahs in Georgien beigetragen hatte.
(110) Der GH akzeptiert auch, dass die zur betreffenden Zeit einschlägigen Straftatbestände im StGB einen geeigneten rechtlichen Rahmen für den Schutz der Rechte des Bf. und der anderen Gläubigen vor gewaltsamen Verletzungen durch bestimmte Demonstranten dargestellt hätten. Es trifft auch zu, dass die polizeiliche Untersuchung der Ereignisse an der Moschee zur Anklage von sieben Einzelpersonen wegen Rowdytum [...] führte. Diese Untersuchung scheint allerdings nur auf die Akte körperlicher Gewalt gerichtet gewesen zu sein, welche bestimmte Demonstranten auf dem Dach des Anbaus setzten. Die Untersuchung des Nationalen Ermittlungsdienstes sollte sich auf die durch die Handlungen der Demonstranten verursachten Eingriffe in die religiösen Rechte des Bf. und der anderen Gläubigen konzentrieren. Sie wurde am 25.5.2011 eröffnet. Trotz zahlreicher einvernommener Zeugen wurde diese Untersuchung fast vier Jahre nach den Ereignissen immer noch nicht abgeschlossen. Es ist von besonderer Aussagekraft, dass im Hinblick auf die provokativsten von Seiten der Demonstranten [...] erfolgten Gesten keine Aktion gesetzt wurde. Kein Fortschritt wurde bei der Identifizierung und Anklage derjenigen gemacht, welche die Gebetsteppiche der Gläubigen [...] in Brand setzten, obwohl die betreffenden Individuen auf den dem GH von beiden Parteien vorgelegten Videoaufzeichnungen klar zu sehen sind. Auch wurde keine Handlung betreffend das Zerschneiden des Fez (und der Drohung, dass den Gläubigen dasselbe passieren würde) gesetzt, obwohl Herr M. gegenüber Ermittlern eine Aussage machte, mit der er seine diesbezügliche Verantwortlichkeit eingestand. Letztlich konnte mit Ausnahme von Herrn Chukolov keine der Einzelpersonen vernommen werden, die an diesem Tag eine führende Rolle bei der Demonstration hatten [...]. Aus diesen Gründen kann die Untersuchung des Nationalen Ermittlungsdienstes nicht als wirksame Reaktion auf die Ereignisse des 20.5.2011 an der Banja-Baschi-Moschee gesehen werden.
(111) Alles in allem bedeutet das Versäumnis der nationalen Behörden, einen gerechten Ausgleich bei den Maßnahmen zu schaffen, welche sie setzten, um die wirksame und friedliche Ausübung der Rechte der Demonstranten sowie der Rechte des Bf. und der anderen Gläubigen, zusammen zu beten, sicherzustellen, wie auch ihr späteres Versäumnis, eine angemessene Reaktion auf die Ereignisse zu zeigen, dass der Staat seine positiven Verpflichtungen unter Art. 9 EMRK nicht erfüllt hat. Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Weitere behauptete Konventionsverletzungen
(112) Der Bf. rügt, dass dieselben Ereignisse vom 20.5.2011 und die Reaktion der Behörden darauf auch eine Verletzung von Art. 9 iVm. Art. 14 EMRK begründen würden. Er beschwert sich daneben über eine Verletzung von Art. 8 EMRK alleine oder iVm. Art. 14 EMRK. Angesichts dessen, dass der GH die Umstände des Falles bereits unter Art. 9 EMRK untersucht und eine Verletzung dieser Bestimmung festgestellt hat, erachtet er es nicht für notwendig, die Zulässigkeit oder den Inhalt dieser Rügen zu prüfen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 3.000,– für immateriellen Schaden; € 4.668,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Mitglieder der Zeugen Jehovahs von Gldani u.a./GE v. 3.5.2007
P. F. und E. F./GB v. 23.11.2010 (ZE)
Begheluri/GE v. 7.10.2014
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.2.2015, Bsw. 30587/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 135) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_2/Karaahmed.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.