Bsw59552/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Rohlena gg. Tschechien, Urteil vom 27.1.2015, Bsw. 59552/08.
Spruch
Art. 7 EMRK - Rückwirkende Anwendung eines neuen Strafbestands.
Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft Brünn erhob am 29.5.2006 Anklage gegen den Bf., weil er zwischen dem Jahr 2000 und dem 8.2.2006 seine Ehefrau wiederholt physisch und psychisch misshandelt hatte. Sie habe dadurch Hämatome, Abschürfungen und einen Nasenbeinbruch erlitten und sich mehrmals medizinisch behandeln lassen müssen. Der Bf. hätte daher das Dauerdelikt des Missbrauchs einer im selben Haushalt lebenden Person iSv. § 215a Abs. 1 und Abs. 2 lit. b des tschechischen Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) begangen.
Das Stadtgericht Brünn erklärte den Bf. am 18.4.2007 des Delikts der Misshandlung einer im selben Haushalt lebenden Person für schuldig, das er zumindest vom Jahr 2000 bis zum 8.2.2006 begangen hatte. Das Gericht stützte sich auch auf die in der Anklage erwähnte Tatsache, dass der Missbrauch wiederholt stattgefunden hatte, und verhängte eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren, die bedingt nachgesehen wurde. Das Stadtgericht subsumierte auch die vor dem 1.6.2004 begangenen Handlungen unter den erst an diesem Tag in Kraft getretenen Tatbestand des § 215a Abs. 1 und Abs. 2 lit. b StGB, da diese schon zur Zeit ihrer Begehung als Gewaltanwendung gegen eine Person gemäß § 197a StGB strafbar gewesen waren.
Das BG Brünn wies die dagegen gerichtete Berufung des Bf. am 6.9.2007 ab.
Die Nichtigkeitsbeschwerde, die sich gegen die Anwendung von § 215a StGB auf vor dessen Inkrafttreten begangene Handlungen richtete, wurde vom Obersten Gerichtshof am 21.2.2008 abgewiesen. Der Oberste Gerichtshof verwies auf seine ständige Rechtsprechung, wonach die strafrechtliche Beurteilung einer fortgesetzten Straftat, die als eine einzige Handlung betrachtet wird, nach dem zur Zeit der Vollendung der letzten Tathandlung geltenden Recht zu erfolgen hat. Dieses Recht sei daher auch auf die früheren Handlungen anwendbar, vorausgesetzt sie waren auch nach dem früher geltenden Recht strafbar. Im vorliegenden Fall sei das vor der Änderung des StGB mit 1.6.2004 gesetzte Verhalten des Bf. zumindest nach § 197a oder § 221 Abs. 1 StGB strafbar gewesen. Die ihm vorgeworfenen Taten würden alle rechtlichen Elemente des Tatbestands des Missbrauchs einer im selben Haushalt lebenden Person iSv. § 215a Abs. 1 StGB verwirklichen. Auch die Voraussetzungen für die Qualifikation der langen Dauer des Missbrauchs nach § 221 Abs. 2 lit. b StGB wären erfüllt, da die Straftat zumindest von 2000 bis zum 8.2.2006 angedauert hätte.
Eine Verfassungsbeschwerde wurde am 10.6.2008 als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
(41) Der Bf. rügt, dass das StGB in seinem Fall rückwirkend angewendet worden sei. Er wäre für das Dauerdelikt des Missbrauchs einer im selben Haushalt lebenden Person verurteilt worden, das den Gerichten zufolge selbst sein vor Einführung dieses Tatbestands im StGB gesetztes Verhalten umfasste. [...] Er sieht darin eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).
Allgemeine Grundsätze
(50) Der GH erinnert daran, dass er in Del Rio Prada/E [...] die folgenden allgemeinen Grundsätze festgehalten hat, die für die Lösung des vorliegenden Falls relevant sind: [...] Art. 7 EMRK beschränkt sich nicht darauf, die rückwirkende Anwendung des Strafrechts zu Ungunsten des Angeklagten zu verbieten. Er umfasst allgemeiner auch den Grundsatz, dass nur das Gesetz eine Straftat definieren und eine Strafe vorsehen kann. [...] Straftaten und die entsprechenden Strafen müssen gesetzlich klar umschrieben sein. Dieser Anforderung ist entsprochen, wenn der Einzelne aufgrund des Wortlauts der jeweiligen Bestimmung, wenn notwendig unter Heranziehung der gerichtlichen Auslegung und nach Einholung rechtlichen Rats, erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen werden und welche Strafe ihm dafür droht.
(52) [...] Art. 7 Abs. 1 EMRK verlangt vom GH zu prüfen, ob eine zeitlich gültige rechtliche Grundlage für die Verurteilung des Bf. vorlag. [...]
Anwendung im vorliegenden Fall
(56) Im vorliegenden Fall ist die Funktion des GH unter Art. 7 Abs. 1 EMRK eine doppelte. Erstens muss er prüfen, ob die Handlungen des Bf., einschließlich jener, die vor dem Inkrafttreten von § 215a StGB mit 1.6.2004 gesetzt wurden, zur Zeit ihrer Begehung eine vom innerstaatlichen Recht mit ausreichender Vorhersehbarkeit definierte Straftat begründeten [...]. Zweitens muss der GH entscheiden, ob die Anwendung dieser Bestimmung durch die innerstaatlichen Gerichte auch auf vor dem 1.6.2004 gesetzte Handlungen eine Möglichkeit mit sich brachte, dass der Bf. in Verletzung von Art. 7 EMRK einer schwereren Strafe unterworfen wurde.
War die Straftat mit ausreichender Vorhersehbarkeit definiert?
(59) Im vorliegenden Fall wurde der Bf. wegen der wiederholten physischen und psychischen Misshandlung seiner Frau im Sinne der Anklage verurteilt [...]. Der Oberste Gerichtshof bestätigte in seinem Urteil vom 21.2.2008 die von den Untergerichten vorgenommene rechtliche Beurteilung der Straftaten als Missbrauch einer im selben Haushalt lebenden Person im Sinne des am 1.6.2004 in Kraft getretenen § 215a StGB und wendete diese Bestimmung auch auf die vom Bf. vor diesem Datum begangenen Misshandlungen seiner Ehefrau an. In diesem Zusammenhang verwies der Oberste Gerichtshof auf seine Entscheidung vom 8.12.1993, wonach ein Dauerdelikt als einzelne Handlung zu betrachten sei und ihre rechtliche Beurteilung nach dem im Zeitpunkt der Vollendung der letzten Tathandlung geltenden Recht zu erfolgen habe. Daher sei § 215a StGB auch auf die früheren Angriffe anwendbar, [...] weil das Verhalten des Bf. vor dem 1.6.2004 zumindest den Tatbestand des § 197a oder § 221 Abs. 1 StGB erfüllt hätte.
(60) Wie der GH weiters feststellt, impliziert die oben ausgeführte Begründung des Obersten Gerichtshofs [...], dass die Auslegung den in § 89 Abs. 3 StGB enthaltenen besonderen Standard berücksichtigte, wodurch das in der Rechtsprechung entwickelte Konzept der Fortsetzung einer Straftat 1994 – und damit vor der ersten Tätlichkeit, für die der Bf. verurteilt wurde – in das StGB aufgenommen wurde. Wie der Bf. in seiner Stellungnahme an den GH bestätigte, bestritt er nicht die Vorhersehbarkeit der Anwendung des Standards des § 89 Abs. 3 StGB auf seinen Fall.
(61) Nach dieser Bestimmung wurde ein Dauerdelikt definiert als zusammengesetzt aus einzelnen Handlungen, die auf demselben Motiv beruhen, denselben Straftatbestand erfüllen und dadurch verbunden sind, dass sie in derselben oder einer ähnlichen Art und Weise begangen wurden, zeitlich eng auf einander folgten und dasselbe Ziel verfolgten. Aus der klaren und ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs und den in der Lehre vertretenen Ansichten geht hervor, dass ein Dauerdelikt als einzelne Tat angesehen wurde, deren Beurteilung nach dem tschechischen Strafrecht nach jenen Regeln zu erfolgen hatte, die zur Zeit der Vollendung der letzten Begehung des Delikts galten, vorausgesetzt die unter einem früheren Recht begangenen Handlungen wären auch nach dem älteren Recht strafbar gewesen.
(62) Da das Verhalten des Bf. vor dem 1.6.2004 strafbaren Delikten gemäß § 197a und § 221 Abs. 1 StGB entsprach und die entscheidenden Elemente des Tatbestands des § 215 StGB umfasste, akzeptiert der GH, dass es keine von der Konvention verbotene rückwirkende Anwendung einer ungünstigeren strafrechtlichen Bestimmung darstellte, den Bf. unter der genannten Vorschrift auch für vor diesem Datum gesetzte Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem stellte der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 10.6.2008 fest, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte im Fall des Bf. logisch und kohärent gewesen wären und keinen von der Verfassung verbotenen rückwirkenden Effekt gehabt hätten. Der GH sieht keinen Hinweis dafür, dass dieser Standpunkt in irgendeiner Weise mit einer von Art. 7 EMRK verbotenen Unvorhersehbarkeit behaftet gewesen wäre.
(63) Da der Bf. sein Verhalten nach dem 1.6.2004 (dem Tag, an dem der Tatbestand des Missbrauchs einer im selben Haushalt lebenden Person eingeführt wurde) fortsetzte, ist der GH unter diesen Umständen und angesichts der Klarheit, mit der die innerstaatlichen Vorschriften formuliert und durch die Auslegung der Gerichte weiter verdeutlicht waren, der Ansicht, dass er – wenn nötig mit angemessener rechtlicher Beratung – erwarten konnte und erwarten hätte müssen, für ein nach dem zur Zeit der Begehung des letzten Angriffs geltenden Recht, das heißt konkret § 215a StGB, beurteiltes fortgesetztes Delikt vor Gericht gestellt zu werden. Der GH sieht keinen Grund zu bezweifeln, dass der Bf. vorhersehen konnte, [...] dass er auch hinsichtlich der Zeit zwischen 2000 und dem 1.6.2004 für ein oben beschriebenes Dauerdelikt strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnte, und dass er sein Verhalten entsprechend anpassen konnte.
(64) Vor diesem Hintergrund ist der GH überzeugt, dass die Straftat, für die der Bf. verurteilt wurde, nicht nur im Zeitpunkt ihrer Begehung eine Grundlage im innerstaatlichen Recht hatte, sondern auch, dass dieses Recht die Straftat ausreichend eindeutig definierte, um der aus der autonomen Bedeutung des Begriffs »Recht« unter Art. 7 EMRK resultierenden Anforderung an die Vorhersehbarkeit zu genügen.
War die gemäß § 215a StGB über den Bf. verhängte Strafe strenger?
(65) Der GH kann dem Argument des Bf. nicht zustimmen, die Verhängung einer Strafe unter § 215a StGB auch hinsichtlich der vor dem 1.6.2004 begangenen Handlungen hätte zu einer schwereren Strafe geführt [...].
(66) Wie bereits erwähnt, kann aus der Begründung der innerstaatlichen Gerichte und insbesondere des Obersten Gerichtshofs geschlossen werden, dass alle konstitutiven Elemente des Tatbestands des § 215a Abs. 1 und Abs. 2 lit. b EMRK auch in Hinblick auf die vom Bf. vor Inkrafttreten dieser Bestimmung am 1.6.2004 begangenen Handlungen festgestellt wurden. Die Gerichte sprachen zu diesen Handlungen auch ausdrücklich aus, dass sie nach dem alten Recht strafbar gewesen wären.
(67) Nichts deutet darauf hin, dass dieser Zugang der innerstaatlichen Gerichte den nachteiligen Effekt einer Verschärfung der Bestrafung des Bf. gehabt hätte. Wären diese von ihm vor dem 1.6.2004 begangenen Handlungen getrennt von den nach diesem Datum begangenen beurteilt worden, hätte die geltende Vorschrift über die Strafbemessung in § 35 Abs. 1 StGB vielmehr zur Verhängung einer Strafe aufgrund der das schwerwiegendste Delikt betreffenden Bestimmung, nämlich § 215a StGB, geführt. In diesem Fall hätte er zumindest dieselbe Strafe wie die tatsächlich verhängte erhalten, wenn nicht eine strengere, weil das Vorliegen mehrerer Straftaten wahrscheinlich nach § 34k StGB als erschwerender Umstand gewertet worden wäre.
(69) Im Lichte dieser Überlegungen ist der GH überzeugt, dass die Tatsache, dass die vor Inkrafttreten des neuen Rechts gesetzten Handlungen nach diesem beurteilt wurden, sich nicht zum Nachteil des Bf. hinsichtlich der Strafbemessung auswirkte. Tatsächlich wurde nur eine einzige Strafe verhängt, die auf jeden Fall auch für die nach Inkrafttreten des neuen Rechts begangenen Handlungen angefallen wäre.
Schlussfolgerung
(70) [...] Es gab keine rückwirkende Anwendung des Strafrechts und der Bf. wurde keiner strengeren Strafe unterworfen als jener, die im Fall einer Verurteilung wegen mehrerer getrennter Delikte anwendbar gewesen wäre.
(71) Der GH ist der Ansicht, dass der von den tschechischen Gerichten angewandte Zugang mit dem Ziel und Zweck von Art. 7 Abs. 1 EMRK, nämlich sicherzustellen, dass niemand willkürlicher Strafverfolgung, Verurteilung oder Bestrafung unterworfen wird, vereinbar ist. Indem er den innerstaatlichen rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt verstärkt [...], entspricht er auch den grundlegenden Zielen der Konvention, deren Kern die Achtung der Menschenwürde und Freiheit ist.
(72) [...] Es ist erwähnenswert, dass der Begriff des Dauerdelikts, wie er im tschechischen Strafrecht definiert wird, auf einer Linie mit der in den nationalen Gesetzen der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarats widergespiegelten europäischen Tradition liegt. Die Situation hinsichtlich der im vorliegenden Fall aufgeworfenen Frage der Vorhersehbarkeit unterscheidet sich somit nicht wesentlich von jener, die in den nationalen Rechtsordnungen anderer Konventionsstaaten hinsichtlich solcher Straftaten auftritt. [...]
(73) Zusammengefasst hat keine Verletzung von Art. 7 EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richterin Ziemele und Richter Pinto de Albuquerque).
Anmerkung
Die V. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 18.4.2013 einstimmig keine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt.
Vom GH zitierte Judikatur:
Achour/F v. 29.3.2006 (GK) = NL 2006, 81
Korbely/H v. 19.9.2008 (GK) = NL 2008, 262 = EuGRZ 2010, 577
Kononov/LV v. 17.5.2010 (GK) = NL 2010, 151
Maktouf und Damjanovic/BIH v. 18.7.2013 (GK) = NL 2013, 270
Del Rio Prada/E v. 21.10.2013 (GK) = NL 2013, 358
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.1.2015, Bsw. 59552/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 32) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_1/rohlena.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.