Bsw43730/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Gajtani gg. die Schweiz, Urteil vom 9.9.2014, Bsw. 43730/07.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Falsche Rechtsmittelbelehrung in Fall nach HKÜ.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 4.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. wohnt in Skopje (Mazedonien). Sie hat zusammen mit einem Mazedonier – mit dem sie nicht verheiratet ist – zwei Kinder, nämlich einen 1995 geborenen Sohn und eine 2002 geborene Tochter. Sie lebten ursprünglich zusammen in Tetovo in Mazedonien und übten die elterliche Sorge gemeinsam aus.
Nach einer Verschlechterung der Beziehung zwischen der Bf. und dem Vater der Kinder verließ sie mit den Kindern am 12.11.2005 Mazedonien, um zu ihrer Familie im Kosovo zurückzukehren. Dort heiratete sie am 28.12.2005 einen Italiener und zog mit ihren Kindern im April 2006 nach Agno im Schweizer Kanton Tessin, wo Letzterer und auch ihr Vater, ihre Brüder und ihre Schwestern lebten.
Der Vater der Kinder beantragte am 9.10.2006 bei der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde des Kantons Tessin die Anordnung der sofortigen Rückkehr der Kinder.
Am 19.12.2006 wurden die beiden Eltern von der vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde angehört. Am 22.12. wurde von dieser auch der Sohn der beiden vernommen. Dieser sprach sich vehement gegen eine Rückkehr zu seinem Vater aus und weigerte sich sogar, ihn zu treffen oder am Telefon mit ihm zu sprechen. Sein Vater sei ein gewalttätiger Mann, der die Bf. oft geschlagen habe. Er wolle daher bei seiner Mutter bleiben und habe Angst davor, von dieser getrennt zu werden.
Die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde wies daraufhin am 13.3.2007 den Antrag des Vaters auf Rückgabe der Kinder ab.
Nach Erhebung einer Berufung durch den Vater entschied das Berufungsgericht Tessin mit Urteil vom 12.6.2007 auf Basis des Protokolls der Anhörung des Sohnes im Dezember 2006, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Rückkehr der Kinder nach Mazedonien anzuordnen. Es verwies auf die gemeinsame Obsorge der Eltern, aufgrund derer die Bf. nicht ohne Zustimmung des Vaters mit den Kindern Tetovo verlassen durfte. Von einer möglichen Ausnahme von dem allgemeinen Erfordernis der Rückgabe der Kinder aus besonderen Gründen nahm das Berufungsgericht Abstand, da der Sohn noch keine ausreichende Reife besitze, damit seine Weigerung berücksichtigt werden könne. Zudem zog es dessen Glaubwürdigkeit in Zweifel. Das Gericht befand, dass die Trennung der damals fünfjährigen Tochter von der Mutter zwar problematisch, doch als Folge der Rückgabeverpflichtung zu akzeptieren sei.
In der Entscheidung des Berufungsgerichts wurde zudem angegeben, dass eine Beschwerde an das Bundesgericht »binnen dreißig Tagen« möglich sei. Diese Angabe war allerdings falsch, da seit dem Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) am 1.1.2007 nach dessen Art. 100 Abs. 2 lit. c im vorliegenden Fall nur noch eine zehntägige Frist vorgesehen war.
Am 19.6.2007 wurde das Urteil dem früheren Vertreter der Bf. zugestellt, dessen Mandat inzwischen beendet worden war. Laut der Bf. und dem Wortlaut des Urteils des Bundesgerichts hatte der Anwalt plötzlich sein Mandat zurückgelegt. Am 12.7.2007 (somit innerhalb der 30-tägigen, aber außerhalb der zehntägigen Frist) brachte die nicht mehr anwaltlich vertretene Bf. eine Beschwerde beim Bundesgericht ein. Dieses erklärte die Beschwerde am 29.8.2007 für unzulässig, weil sie nicht innerhalb der nach dem BGG geltenden Frist eingebracht worden war. Trotz der falschen Angabe im Urteil des Berufungsgerichts hätten die Bf. oder ihr Anwalt den Fehler einfach durch Konsultation des Gesetzestextes (und zwar schon bei alleiniger Lektüre des Art. 100 Abs. 2 lit. c BGG) bemerken können.
Am 18.10.2007 wurden die Kinder von der Polizei aufgehalten und ohne die Bf. nach Mazedonien zurückgeführt. Die Bf. hat bekanntgegeben, dass sie nunmehr offiziell den Wohnsitz im Kosovo habe, aber de facto in Mazedonien bei den Kindern lebe. Es gebe einen regelmäßigen Kontakt zwischen dem Vater und den Kindern, doch würden die Kinder unter der Situation leiden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügt unter Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesgerichts vom 29.8.2007, wonach sie bemerken hätte müssen, dass die von der Vorinstanz angegebene Beschwerdefrist falsch war.
Die Bf. rügt zudem eine schwerwiegende Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) durch die zwangsweise Verbringung der Kinder, zumal sich die Kinder stark gegen eine Rückkehr nach Mazedonien ausgesprochen hätten.
Zu den Einreden der Regierung
Zum Fehlen eines erheblichen Nachteils
(42) Der vorliegende Fall eignet sich nicht für die Anwendung dieses Zulässigkeitskriteriums. Die Bf. rügt einerseits die Rückkehranordnung im Hinblick auf die Kinder und andererseits den Umstand, dass das Bundesgericht ihre Beschwerde für unzulässig erklärt hat. Der GH erinnert daran, dass die Bf. noch bei ihrem italienischen Mann in der Schweiz lebte, als das Berufungsgericht die Rückkehr der Kinder nach Mazedonien anordnete. Die Möglichkeit, weiterhin mit ihren zwei Kindern zusammenzuleben, stellte in den Augen der Bf. ein grundlegendes Element des Rechts auf Achtung ihres Familienlebens iSv. Art. 8 EMRK dar. Was die Rüge betreffend die Unzulässigerklärung der Beschwerde durch das Bundesgericht anbelangt, so hatte diese Entscheidung zur Folge, dass das Urteil des Berufungsgerichts rechtskräftig wurde.
(43) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass die Bf. behaupten kann, einen erheblichen Nachteil erlitten zu haben.
(44) Der GH weist daher die Einrede wegen Fehlens eines erheblichen Nachteils zurück.
Zum Antrag auf Streichung aus dem Register
(50) Der GH erinnert daran, dass die Kinder der Bf. am 18.10.2007 von der Polizei aufgehalten und nach Mazedonien gebracht wurden. Die Bf. ihrerseits hat sich am 19.11.2008 nach Skopje begeben, um bei ihren Kindern und deren Vater zu leben. Deshalb muss festgestellt werden, dass sie auf Grund der Entscheidungen der Schweizer Instanzen von ihren Kindern für eine gewisse Dauer getrennt war. Die Entscheidung der Mutter, ihren Kindern nachzufolgen und nach Skopje zurückzukehren, begründet keinen Fall des Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK.
Zudem ist der Fall nicht nach Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK aus dem Register zu streichen. Die Bf. hat tatsächlich keine Entscheidung zu ihren Gunsten erhalten, die mit der expliziten oder inhaltlichen Anerkennung einer Verletzung der Konvention durch die nationalen Behörden und einer angemessenen und ausreichenden Entschädigung im Sinne der Rechtsprechung des GH einhergegangen wäre.
(51) Der GH kommt somit zum Schluss, dass es nicht angebracht ist, die Beschwerde aus dem Register zu streichen. Er weist daher die diesbezügliche Einrede der Regierung zurück [...].
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK
(53) Was das Verfahren in Mazedonien über die Zuerkennung des Sorgerechts an den Kindesvater betrifft, so konnte dieses Verfahren die Verantwortlichkeit der Schweiz nach Art. 1 EMRK nicht begründen [...].
(54) Daraus folgt, dass diese Beschwerde mit der Konvention ratione personae unvereinbar und als unzulässig zurückzuweisen ist (einstimmig).
(55) Was die Beschwerde im Hinblick auf die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesgerichts vom 29.8.2007 angeht, stellt der GH fest, dass diese nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).
(67) Die strittige Maßnahme verfolgte legitime Ziele, nämlich die geordnete Rechtspflege und die Achtung des Prinzips der Rechtssicherheit. Es muss daher untersucht werden, ob die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesgerichts zu diesen Zielen verhältnismäßig war. Bei dieser Prüfung muss Art. 49 BGG im Auge behalten werden, wonach den Parteien »aus mangelhafter Eröffnung, insbesondere wegen unrichtiger oder unvollständiger Rechtsmittelbelehrung oder wegen Fehlens einer vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung ... keine Nachteile erwachsen« dürfen.
(69) Die Frage, die sich dem GH stellt, ist, ob das Bundesgericht [...] von der Annahme abgehen hätte können, dass die Bf. die Fehlerhaftigkeit der vom Berufungsgericht angegebenen Frist bemerken hätte müssen oder können. Das Bundesgericht hat sich dabei auf seine eigene gefestigte Rechtsprechung gestützt, wonach ein Bf. sich nicht auf den Schutz des Art. 49 BGG berufen kann, wenn er die Unrichtigkeit allein durch die Lektüre des Gesetzestextes erkennen konnte oder erkennen hätte können. Für den GH steht diese Rechtsprechung nicht notwendigerweise im Widerspruch zum Recht auf Zugang zu einem Gericht iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK, aber sie bindet den GH auch nicht bei der konkreten Untersuchung der Frage, ob es im vorliegenden Fall zu einer Verletzung dieser Bestimmung kam.
(70) Der GH erinnert zunächst daran, dass er gerade im Zusammenhang mit dem Recht auf Zugang zu einem Gericht erarbeitet hat, dass die Bestimmungen der Konvention als Instrument zum Schutz der Menschenrechte auf eine Weise auszulegen und anzuwenden sind, die ihre Erfordernisse konkret und wirksam werden lässt. Er hat zudem – wenn auch unter ganz anderen Umständen – präzisiert, dass die Besonderheiten eines jeden konkreten Falles berücksichtigt werden müssen, um eine mechanische Anwendung der Gesetzesbestimmungen auf eine spezielle Situation zu vermeiden.
(71) Nach dem von der Regierung nicht bestrittenen Vorbringen der Bf. wurde das fragliche Urteil ihrem früheren Anwalt zugestellt, der sein Mandat plötzlich niedergelegt hätte. Der GH gesteht – dem Bundesgericht und der Regierung folgend – ein, dass es zum Teil am ehemaligen Vertreter der Bf. liegt, der diese offensichtlich nicht von der Fehlerhaftigkeit der angegebenen Frist informiert hatte, dass die Beschwerde verspätet eingebracht wurde. Ohne die exakten Gründe und Umstände für diese abrupte Kehrtwende des Anwalts zu kennen und im Bewusstsein, dass die von Vertretern der Bf. begangenen Fehler grundsätzlich nicht die Verantwortlichkeit der Behörden nach der Konvention begründen, befindet der GH dennoch, dass es sich hier nur um ein Element unter anderen handelt und dass es nötig ist, die Gesamtheit der Umstände des Falles zu berücksichtigen.
(72) Die Regierung bringt sodann in Anlehnung an das Bundesgericht vor, dass der Fehler bei der Beschwerdefrist durch alleinige Lektüre des Art. 100 BGG erkennbar gewesen wäre. Nach Ansicht des GH widerspricht dieser Argumentation der Umstand, dass das Bundesgericht selbst in der Zwischenzeit eingestanden hat, dass der Gehalt des Art. 100 BGG »nicht für jeden juristischen Laien ohne weiteres verständlich« ist. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass sich die Bf. erst seit kurzer Zeit in der Schweiz, einem ihr fremden Land, befand, ist der GH nicht überzeugt, dass man vernünftigerweise von ihr erwarten konnte, dass sie der im Urteil des Berufungsgerichts angegebenen Frist misstraute und diese in der Folge überprüfte, indem sie das einschlägige Gesetz heraussuchte und konsultierte.
(73) Zudem beobachtet der GH, dass das Vorbringen der Regierung, wonach die Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht zwischen einer vertretenen und einer unvertretenen Partei unterscheide, seit dem neuen Grundsatzurteil des Bundesgerichts vom 12.3.2009 überholt ist.
(74) In Anknüpfung an seine bisherige Rechtsprechung befindet der GH, dass zwar nichts die Schweiz dazu verpflichtete, gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts ein Rechtsmittel vor dem Bundesgericht einzurichten, wenn der Gesetzgeber einen anderen Weg gewählt hat, doch müssen die Behörden darauf achten, dass dessen Funktion mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar ist und es nicht illusorisch oder theoretisch bleibt. Daraus erfließt insbesondere die Pflicht des Bundesgerichts, eine gewisse Flexibilität unter Beweis zu stellen, wenn es mit einer von einer nicht vertretenen Partei eingebrachten Beschwerde befasst wird, soweit diese Nichtvertretung zulässig ist.
(75) Der GH kommt zum Schluss, dass das Bundesgericht die besonderen Umstände des Falles nicht ausreichend berücksichtigt und seine einschlägige – per se Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht widersprechende – Rechtsprechung zu starr angewendet hat. Im Endeffekt hat es die Bf. die Folgen eines Fehlers tragen lassen, für den primär die Unterinstanz verantwortlich war, welche die neue Frist von zehn Tagen verkannt hatte, die seit dem 1.1.2007 anwendbar war. Das erscheint unverhältnismäßig im Hinblick auf die verfolgten legitimen Ziele, im gegenständlichen Fall die geordnete Rechtspflege und die Achtung des Prinzips der Rechtssicherheit. Dies gilt umso mehr, als es sich um ein Verfahren zur Rückführung von Kindern nach dem Haager Übereinkommen vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) handelte, das zugleich komplex und geeignet war, sehr schwerwiegende und empfindliche Konsequenzen für die betroffenen Personen zu haben.
(76) Davon ausgehend befindet der GH, dass die auf den Zugang der Bf. zum Bundesgericht angewendeten Restriktionen dieses Recht in seinem Wesensgehalt eingeschränkt haben.
(77) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richter Lemmens, Kuris und Spano).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
(80) Die Regierung macht geltend, dass die gegenständliche Beschwerde vom Bundesgericht für verspätet und daher unzulässig erklärt wurde. Deshalb hätte die Bf. die innerstaatlichen Rechtsbehelfe im Hinblick auf eine Beschwerde unter Art. 8 EMRK nicht erschöpft.
(85) Der GH befindet aus denselben Gründen wie jenen, die ihn dazu geführt haben, eine Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK festzustellen, dass die innerstaatlichen Rechtsbehelfe im Hinblick auf eine behauptete Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Bf. sehr wohl erschöpft worden sind. Im Übrigen hält er die Sichtweise der Regierung für zu eng, wonach die Bf. nach Art. 50 BGG eine »Wiederherstellung« der Frist beantragen bzw. erlangen hätte können, obwohl die Regierung selbst kein einziges Beispiel nennt, wo eine solche Wiederherstellung unter ähnlichen Umständen gewährt worden wäre.
(86) Die Beschwerde ist somit nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
(102) [...] Es geht aus der Entscheidung des Berufungsgerichts des Kantons Tessin hervor, dass die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zukam. Es gibt im vorliegenden Fall kein Element, das erlauben würde zu glauben, dass sie vom Vater nicht tatsächlich ausgeübt wurde. Nach der von der Bf. nicht bestrittenen Ansicht der Regierung umfasste die elterliche Sorge insbesondere auch das Recht, den Wohnort des Kindes zu bestimmen. Sie entsprach daher dem »Sorgerecht« nach Art. 5 lit. a HKÜ. Angesichts des Vorgesagten erachtet der GH die Ansicht der Schweizer Gerichte und der Regierung nicht für offensichtlich falsch oder willkürlich, wonach das Verbringen der Kinder durch die Bf. in die Schweiz sehr wohl eine »widerrechtliche Verbringung« iSd. Art. 3 HKÜ begründete.
(103) [...] Der GH befindet, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts, welche die Rückkehr der Kinder anordnete, das legitime Ziel verfolgte, die Rechte und Freiheiten der Kinder und ihres Vaters zu schützen.
(104) Die hauptsächliche Rüge der Bf. besteht darin, die erzwungene Rückkehr der Kinder wäre unerlaubt und die Maßnahmen der Vollstreckung unverhältnismäßig gewesen, umso mehr, als die Kinder sich ihrer Rückkehr nach Mazedonien stark widersetzt hätten. In diesem Zusammenhang behauptet sie insbesondere, dass die Meinung der Kinder und vor allem des Sohnes nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Der GH muss diese Fragen im Hinblick auf die Notwendigkeit der Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft untersuchen.
(106) Im vorliegenden Fall ist somit die einzige Frage, ob die zuständigen Behörden die Meinung der Kinder ausreichend berücksichtigt haben. [...] Der gegenständliche Fall unterscheidet sich daher vom Fall X./LV, wo sich die konkrete Behauptung einer »schwerwiegenden Gefahr« nach Art. 13 lit. b HKÜ auf die Bescheinigung durch einen Experten stützte, wonach die Gefahr eines psychischen Traumas für das Kind bestünde, sollte es sofort von seiner Mutter getrennt werden.
(107) Der GH erinnert daran, dass die vormundschaftliche Aufsichtsbehörde den Sohn gebührend angehört hat, bevor sie ihre Entscheidung fällte. Das Berufungsgericht befand nach sorgfältiger Untersuchung seiner Erklärungen, dass er nicht ausreichend reif gewesen sei, damit seine kategorische Weigerung gegen eine Rückkehr berücksichtigt [...] und seine Meinung als ausreichend selbstständig angesehen werden könne. Es machte auf seine Absicht aufmerksam, seine Mutter vor ihrer Verantwortlichkeit zu schützen, insbesondere was die Entführung anbelangte. Das Gericht hat im Übrigen bemerkt, dass sich das Kind in einem Loyalitätskonflikt befunden hätte und wahrscheinlich befürchtete, den Bezug zu seiner Mutter zu verlieren, sollte es wieder Kontakt mit dem Vater aufnehmen.
(108) Grundsätzlich obliegt es den nationalen Gerichten, die ihnen vorliegenden Elemente zu beurteilen. Der GH unterstreicht, dass die Sichtweise der Kinder zwar berücksichtigt werden muss, ihr Widerstand im Rahmen der Anwendung des HKÜ jedoch nicht notwendigerweise ein Hindernis für ihre Rückkehr darstellt. Zudem sieht Art. 13 Abs. 3 HKÜ vor, dass das Gericht oder die Verwaltungsbehörde es ablehnen kann, »die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.« Aus der Formulierung dieses Absatzes folgt einerseits, dass die Behörden gewiss die Möglichkeit haben, die Rückkehr eines Kindes zu verweigern, falls dieses sich widersetzt, doch dass es sich für sie nicht um eine Verpflichtung handelt. Andererseits geht daraus hervor, dass die Beurteilung der Frage, ob es angebracht ist, die Meinung eines entführten Kindes zu berücksichtigen, in erster Linie den nationalen Behörden obliegt, welche in diesem Bereich einen gewissen Spielraum genießen.
(109) Weiters erinnert der GH daran, dass im Bereich der internationalen Kindesentführung die Verpflichtungen, die Art. 8 EMRK den Staaten auferlegt, auch unter Berücksichtigung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes aus 1989 ausgelegt werden müssen, das in der Schweiz am 26.3.1997 in Kraft getreten ist. Gemäß dessen Art. 12 Abs. 1 sichern die Vertragsstaaten »dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.« Abs. 2 präzisiert daneben, dass »dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben [wird], in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.«
(110) Soweit er für die Entscheidung der Frage zuständig ist, befindet der GH die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts nicht für unvernünftig, wonach man die Erklärungen des Sohns der Bf. in der Entscheidung über die Rückkehr der Kinder nicht berücksichtigen konnte. Die Entscheidung des Gerichts, die auf Grundlage der Anhörung des Sohns durch die Unterinstanz erfolgte, ist ausreichend und detailliert begründet.
(111) Unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums, den die nationalen Behörden – die in einer besseren Lage sind als der GH – in diesem Bereich genießen, konnte das Berufungsgericht vernünftigerweise befinden, dass es weder notwendig noch angebracht war, den Sohn noch einmal anzuhören. Dies gilt umso mehr, als dieser sich in einem Loyalitätskonflikt befand und solche Anhörungen eine traumatisierende Wirkung auf ein Kind haben und das Verfahren beträchtlich verzögern können.
(112) Was die Tochter des Paares anbelangt, die fünf Jahre alt war, so scheint nicht, dass diese von den Gerichten des Kantons Tessin gehört wurde. Der GH hat [...] bereits festgestellt, dass es ihm weder zusteht, seine eigene Einschätzung an die Stelle jener der nationalen Gerichte zu setzen, was die Angemessenheit einer Anhörung [...] anbelangt, noch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der internationalen Übereinkommen, gegenständlich Art. 13 HKÜ und Art. 12 Abs. 1 Kinderrechtskonvention, zu überprüfen. Es muss auch betont werden, dass die Große Kammer im Fall X./LV die Ansicht der lettischen Gerichte gebilligt hat, wonach das junge Alter des Kindes, das damals vier gewesen war, es hindern würde, seine Präferenz im Hinblick auf seinen Wohnort sinnvoll anzugeben.
(114) Angesichts des Vorgesagten kann man dem Berufungsgericht seine Weigerung, den Widerstand insbesondere von Seiten des Sohns der Bf. gegen die Rückkehr zu berücksichtigen, nicht vorwerfen. Daher genügte der Entscheidungsprozess im nationalen Recht den verfahrensrechtlichen Erfordernissen des Art. 8 EMRK.
(115) Die Anordnung zur Rückkehr der Kinder war daher nicht unverhältnismäßig und es kam zu keiner Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
Die Rüge der Bf. nach dieser Bestimmung, wonach sowohl sie als auch ihre Kinder durch die erzwungene Verbringung der Kinder gegen ihren Willen in ihrer Würde verletzt worden wären, ist offensichtlich unbegründet und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden, € 4.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Eskinazi und Chelouche/TR v. 6.12.2005 (ZE)
Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK) = NL 2010, 211
Assunção Chaves/P v. 31.1.2012
X./LV v. 26.11.2013 (GK) = NL 2013, 429
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.9.2014, Bsw. 43730/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 397) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/14_5/gajtani.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.