Bsw26587/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Krupko u.a. gg. Russland, Urteil vom 26.6.2014, Bsw. 26587/07.
Spruch
Art. 5 EMRK, Art. 9 EMRK - Polizeiliche Auflösung einer religiösen Versammlung.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 5 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 EMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 9 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,– für immateriellen Schaden, € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vier Bf. sind Angehörige verschiedener Gemeinden der Zeugen Jehovas in Moskau. 2004 wurden deren lokale religiöse Organisationen gerichtlich verboten.
Anfang 2006 unterzeichnete einer der Bf. im Namen des Verwaltungszentrums der Zeugen Jehovas einen Mietvertrag mit der Landwirtschaftsakademie über die regelmäßige Abhaltung religiöser Treffen in deren Versammlungshalle.
Für den 12.4.2006 wurde das »Abendmahl des Herrn« geplant, das nach Sonnenuntergang gegen 20:00 Uhr beginnen sollte. Dabei handelt es sich um das feierlichste und bedeutendste religiöse Treffen der Zeugen Jehovas. Etwa 400 Personen, darunter die Bf., versammelten sich für diesen Gottesdienst. Um 20:50 Uhr wurde das Gebäude von uniformierten Polizisten und einer Spezialeinheit abgeriegelt. Der Leiter der Operation erklärte die Versammlung für rechtswidrig und forderte die Teilnehmer auf, sich zu zerstreuen. Dieser Aufforderung wurde Folge geleistet. Die Polizei brachte 14 Teilnehmer zur Polizeistation Lyublino, wo sie erkennungsdienstlich behandelt wurden. Ihrem Anwalt wurde der Zutritt zu den Angehaltenen verweigert. Kurz nach Mitternacht durften sie die Polizeistation verlassen.
Die vier Bf. klagten beim Moskauer BG Lyublinskiy auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbrechung des Gottesdienstes, der Anhaltung auf der Polizeistation und der Behinderung der Arbeit ihres Anwalts. Sie begehrten immateriellen Schadenersatz. Das BG stellte fest, dass die Auflösung der Versammlung rechtmäßig erfolgt sei. Da sie in einem weltlichen Gebäude stattgefunden habe, wäre sie den Vorschriften des allgemeinen Versammlungsrechts unterlegen und daher spätestens zehn Tage vorher behördlich anzumelden gewesen. Die Anhaltung der Bf. wurde für rechtswidrig erklärt, da keine Verwaltungsübertretung vorgelegen sei.
Am 22.3.2007 behob das Stadtgericht Moskau dieses Urteil hinsichtlich der Anhaltung der Bf. mit der Begründung, diese könne aufgrund der Dauer von nur drei Stunden nicht als Freiheitsentziehung betrachtet werden. Der Antrag der Bf. wurde zur Gänze abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und von Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK
(29) Die Bf. rügen, dass ihre Festnahme und Anhaltung ohne rechtmäßigen Grund erfolgt sei und gegen Art. 5 EMRK verstoßen habe. [...]
(32) Der GH erachtet die Beschwerde nicht als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da sie auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
(33) [...] Jede Freiheitsentziehung muss nicht nur in Befolgung der materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts erfolgt sein, sondern auch mit dem eigentlichen Zweck von Art. 5 EMRK im Einklang stehen, nämlich dem Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Anhaltung.
(34) Die Parteien sind uneinig darüber, ob den Bf. iSv. Art. 5 EMRK die Freiheit entzogen wurde. Um zu bestimmen, ob eine Freiheitsentziehung stattgefunden hat, muss der GH von der konkreten Situation der betroffenen Person ausgehen und eine Reihe von Faktoren berücksichtigen, wie die Art, Dauer, Wirkungen und Umsetzung der umstrittenen Maßnahme. Die Unterscheidung zwischen Freiheitsentziehung und -beschränkung ist lediglich eine der Intensität und nicht eine der Natur oder Substanz.
(35) Der Schutz vor willkürlicher Anhaltung ist auf eine Freiheitsentziehung jeder Dauer anwendbar, wie kurz sie auch gewesen sein mag. [...]
(36) [...] Die Bf. wurden in Begleitung der Polizei in Minibussen zu einer Polizeistation gebracht, wo sie bis nach Mitternacht, also etwa drei Stunden lang blieben. [...] Die Behauptung, sie hätten sich aus eigenem zur Polizeistation begeben, wurde vom BG als nicht den Tatsachen entsprechend zurückgewiesen. Diese Feststellung wurde insofern vom Berufungsgericht nicht verworfen, als dieses die Klage der Bf. nur mit der Begründung abwies, ihr Aufenthalt in der Polizeistation wäre nicht lang genug gewesen, um nach russischem Recht als Anhaltung qualifiziert werden zu können. Nach dem Vorbringen der Regierung an den GH konnten die Bf. innerhalb der Polizeistation herumgehen. Sie behauptete jedoch nicht, dass es ihnen freigestanden wäre, das Gebäude zu verlassen. Unter diesen Umständen erachtet es der GH als erwiesen, dass ein Element des Zwangs vorlag, das ungeachtet der kurzen Dauer der Anhaltung auf eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 EMRK hinweist.
(38) Unter Berücksichtigung der Tatsachen des vorliegenden Falls und seiner ständigen Rechtsprechung stellt der GH fest, dass den Bf. iSv. Art. 5 EMRK die Freiheit entzogen wurde. [...]
(39) Die Freiheitsentziehung fiel eindeutig nicht unter lit. a, d, e oder f des Art. 5 Abs. 1 EMRK. Auch von lit. b war sie nicht gedeckt, da kein Hinweis darauf besteht, die Bf. hätten eine rechtmäßige gerichtliche Anordnung oder eine gesetzliche Verpflichtung nicht befolgt. Sie wiesen wie von den Polizisten verlangt ihre Identitätsdokumente vor, beantworteten deren Fragen und befolgten ihre Anweisungen. Es bleibt zu prüfen, ob die Freiheitsentziehung in den Anwendungsbereich von lit. c fallen könnte.
(40) Die Bf. wurden weder formell der Begehung einer Straftat verdächtigt noch wurde ein Straf- oder Verwaltungsverfahren gegen sie eingeleitet. Der Vertreter der Polizeidienststelle räumte im innerstaatlichen Verfahren ein, dass kein Element einer Verwaltungsübertretung festgestellt worden sei. [...] Die Festnahme der Bf. konnte daher nicht auf Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gestützt werden. Somit hatte sie keinen rechtmäßigen Zweck nach Art. 5 Abs. 1 EMRK und war willkürlich.
(41) Der GH gelangt zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Art. 5 EMRK stattgefunden hat (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK
(42) Die Bf. rügen die vorzeitige Auflösung ihres religiösen Treffens, in der sie eine Verletzung von Art. 5, 8, 9, 10 und 11 EMRK jeweils alleine und iVm. Art. 14 EMRK sehen. Nach Ansicht des GH ist eine Beschwerde über die Auflösung eines Treffens alleine vom Standpunkt des Art. 9 EMRK zu prüfen, wenn das Treffen in erster Linie religiös ist. [...]
(46) Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
(48) Die Bf. versammelten sich am 12.4.2006 mit ihren Glaubensbrüdern zu einem Gottesdienst. Dieser war eine Form der Religionsausübung, der unter den Schutz von Art. 9 EMRK fällt.
(49) [...] Die vorzeitige Beendigung des Gottesdienstes stellt einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Religionsfreiheit dar, weshalb der GH prüfen muss, ob dieser gerechtfertigt war. [...]
(50) Die Parteien sind uneins darüber, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen war. Die Regierung brachte mehrere Gründe für das Einschreiten der Polizei vor, die der GH prüfen wird.
(51) Die Behauptung, die Polizei wäre wegen Beschwerden über Lärm und eine Störung der öffentlichen Ordnung eingeschritten, wurde im innerstaatlichen Verfahren nicht erhoben oder überprüft, sondern erstmals in der Stellungnahme an den GH vorgebracht. Die Regierung legte keine Belege vor, die diese Behauptung stützen könnten. [...]
(52) Auch die Rechtfertigung, die Versammlung hätte dem Verbot von Aktivitäten religiöser Bewegungen in staatlichen und schulischen Einrichtungen widersprochen, wurde nicht vor den innerstaatlichen Gerichten vorgebracht. [...] Außerdem verbietet die genannte Vorschrift nicht die Benützung schulischer Gebäude durch Dritte, sondern eher die Klerikalisierung von Schulen durch die Gründung religiöser Strukturen unter Einbeziehung von Schülern oder Angestellten. Im vorliegenden Fall wurde der Gottesdienst außerhalb der normalen Betriebsstunden der Akademie abgehalten und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie in irgendeiner Weise den Erziehungsprozess beeinträchtigt oder Schüler und Lehrer einbezogen hätte. [...]
(53) Schließlich behauptet die Regierung, dass die religiöse Versammlung illegal gewesen wäre, weil die Organisatoren die lokalen Behörden nicht im Voraus schriftlich informiert hätten, was angeblich nach den Bestimmungen des Religionsgesetzes iVm. jenen des Gesetzes über öffentliche Versammlungen vorgeschrieben gewesen wäre. [...]
(54) § 16 Abs. 2 des Religionsgesetzes sieht vor, dass Gottesdienste »ohne Behinderung« in religiösen Gebäuden, aber auch »in anderen Einrichtungen, die religiösen Organisationen zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurden«, durchgeführt werden können. Der Oberste Gerichtshof Russlands interpretiert diese Bestimmung dahingehend, dass religiöse Versammlungen, auch wenn sie in gemieteten Gebäuden stattfinden, weder durch die Behörden genehmigt noch diesen angezeigt werden müssen. [...] Weder die Urteile der innerstaatlichen Gerichte noch die Stellungnahme der Regierung weisen auf Änderungen des Gesetzes oder auf eine Entwicklung der Rechtsprechung hin, die diese Feststellungen des Obersten Gerichtshofs obsolet machen und eine andere Auslegung des § 16 Abs. 2 Religionsgesetz erfordern hätten können. Der GH sieht in dessen Wortlaut keine Unterstützung für die Auslegung des BG, das die Bestimmung für unanwendbar erklärte, weil die Landwirtschaftsakademie eine weltliche Einrichtung wäre. Der Wortlaut legt nicht fest, dass es sich um nicht weltliche Einrichtungen handeln muss. Die Auslegung des Religionsgesetzes durch die innerstaatlichen Gerichte entsprach daher nicht dem Wortlaut des Gesetzes oder der ständigen Rechtsprechung und war somit für die Bf. nicht vorhersehbar.
(55) Zu den Anforderungen des Gesetzes über öffentliche Versammlungen stellt der GH fest, dass sich die Bf. mit ihren Glaubensbrüdern in einem Gebäude versammelt hatten. Es scheint daher, dass es sich um eine »Versammlung« iSv. § 2 Abs. 2 des Gesetzes handelte, die offenbar gemäß § 7 des Gesetzes keiner vorherigen Verständigung der Behörden bedurfte. Der GH erachtet es allerdings nicht für notwendig zu entscheiden, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, weil er aus den unten genannten Gründen jedenfalls nicht »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.
(56) Wie der GH durchgehend festgestellt hat, kann selbst in Fällen, in denen die Behörden von einer öffentlichen Veranstaltung nicht angemessen informiert wurden, die Teilnehmer aber keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen, die polizeiliche Auflösung einer friedlichen Versammlung nicht als »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« angesehen werden. Diese Feststellung gilt a fortiori auch unter den Umständen des vorliegenden Falles, wo die fragliche Versammlung kein tumultartiges Ereignis unter freiem Himmel war, sondern eine feierliche religiöse Zeremonie in einer Versammlungshalle, die keine Störung oder Gefährdung der öffentlichen Ordnung mit sich brachte. Das Einschreiten bewaffneter Polizisten in erheblicher Zahl mit dem Ziel, die Zeremonie abzubrechen, gefolgt von der Festnahme und dreistündigen Anhaltung der Bf. war – selbst wenn die Behörden wirklich glaubten, dass die fehlende vorherige Anzeige die Versammlung rechtswidrig machte – unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung.
(57) Angesichts dieser Überlegungen stellt der GH eine Verletzung von Art. 9 EMRK fest (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 30.000,– für immateriellen Schaden, € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Kuznetsov u.a./RUS v. 11.1.2007
Gillan und Quinton/GB v. 12.1.2010 = NL 2010, 26
Zeugen Jehovas in Moskau u.a./RUS v. 10.6.2010
Nada/CH v. 12.9.2012 (GK) = NL 2012, 293
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.6.2014, Bsw. 26587/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 227) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/14_3/Krupko.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.