Bsw16032/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Velyo Velev gg. Bulgarien, Urteil vom 27.5.2014, Bsw. 16032/07.
Spruch
Art. 2 1. Prot. EMRK - Weigerung der Behörden, einem Untersuchungshäftling den Pflichtschulabschluss im Gefängnis zu ermöglichen.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 1.406,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. war 2003 wegen eines Betrugsdelikts strafrechtlich verurteilt worden und verbüßte eine sechsmonatige Freiheitsstrafe. Im Oktober 2004 wurde er wegen illegalen Besitzes einer Feuerwaffe festgenommen. Die Zeit zwischen 29.11.2004 und 20.4.2007 verbrachte er als Untersuchungshäftling im Gefängnis von Stara Zagora.
Da der Bf. seinen Grundschulabschluss bis dahin noch nicht gemacht hatte, suchte er bei der Gefängnisleitung um Erlaubnis zum Besuch der gefängniseigenen Schule ab Herbst 2005 an, dies allerdings ohne Erfolg. Er wandte sich daraufhin an das Unterrichtsministerium, welches ihm bescheinigte, dass Häftlinge berechtigt wären, ihren Bildungsweg im Gefängnis fortzusetzen. Der Bf. stellte hierauf ein neuerliches Gesuch, welches am 7.12.2005 vom Leiter der Strafvollzugssektion beim Justizministerium mit der Begründung abgewiesen wurde, dass die Einbeziehung von Rückfallstätern in das Unterrichtsprogramm eines für Nicht-Rückfallstäter eingerichteten Gefängnisses wie jenes von Stara Zagora zu einem Verstoß gegen die gesetzliche Vorgabe führen würde, verschiedene Kategorien von Häftlingen getrennt unterzubringen und sie an unterschiedlichen Unterrichtsprogrammen teilhaben zu lassen.
Der Bf. erhob dagegen Einspruch bei den Gerichten, wobei er sich auf das von der bulgarischen Verfassung und von Art. 2 1. Prot. EMRK geschützte Recht auf Bildung sowie auf Regel 77 der UN-Mindeststandardregeln für die Behandlung von Häftlingen berief. Seiner Ansicht nach lege das Strafvollzugsgesetz den Behörden die Verpflichtung auf, sowohl strafrechtlich verurteilten als auch in Untersuchungshaft befindlichen Häftlingen den Zugang zur Weiterbildung zu ermöglichen. Im Zuge des Verfahrens räumte der Gefängnisdirektor ein, man habe früher allen Häftlingen den Zugang zur gefängniseigenen Schule gewährt, jedoch sei diese Praxis wegen des befürchteten schlechten Einflusses von Rückfallstätern auf Nicht-Rückfallstäter eingestellt worden. Dem Bf. sei der Zugang zur Schule verweigert worden, da er als Rückfallstäter iSd. StVG 1969 zu behandeln sei.
Mit Urteil vom 24.3.2006 gab das Landesgericht Stara Zagora dem Einspruch des Bf. statt und trug der Gefängnisleitung auf, ihn in das Unterrichtsprogramm aufzunehmen. Begründend führte es aus, der Bf. könne nicht als Rückfallstäter iSv. § 158 StVG 1969 betrachtet werden, da ungeachtet einer früheren strafrechtlichen Verurteilung das gegenwärtige Strafverfahren noch nicht beendet und er noch nicht ein weiteres Mal verurteilt worden sei. Die Regel der Trennung von Rückfallstätern und Nicht-Rückfallstätern finde daher im vorliegenden Fall keine Anwendung. Gegen das Urteil legte der Gefängnisdirektor ein Rechtsmittel ein.
Am 26.9.2006 entschied das Oberste Verwaltungsgericht mit rechtskräftigem Urteil über die Angelegenheit. Es hielt fest, dass das Recht auf Bildung gemäß bulgarischem Recht nur von rechtskräftig verurteilten, nicht aber von in Untersuchungshaft befindlichen Personen in Anspruch genommen werden könne. In der Folge teilte die Strafvollzugssektion dem Bf. mit, dass er nicht für das Schuljahr 2006/2007 eingeschrieben werden könne.
Der Bf. wurde schließlich des ihm zur Last gelegten Delikts schuldig gesprochen und zwecks Antritt seiner Haftstrafe in das Gefängnis von Pazardjik verlegt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung) und von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK
Der Bf. behauptet, ihm sei der Zugang zur gefängniseigenen Schule in willkürlicher Weise verweigert worden.
Zur Zulässigkeit
(25) Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
(32) Der GH erinnert daran, dass das Recht auf Bildung trotz seiner fundamentalen Bedeutung nicht absolut ist, sondern Einschränkungen unterworfen werden kann.
(34) Ungeachtet der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats Nr. 12 aus 1989 über die Ausbildung im Gefängnis, wonach grundsätzlich jeder Häftling Zugang zu Bildung und Unterricht haben sollte, ist jedoch festzuhalten, dass Art. 2 1. Prot. EMRK die Staaten nicht dazu verpflichtet, Bildungsmöglichkeiten für Häftlinge vorzusehen, wenn solche (noch) nicht vorhanden sind. Im gegenständlichen Fall beklagt sich der Bf. jedoch über die Verweigerung des Zugangs zu einer bereits existierenden gefängniseigenen Schule. Art. 2 1. Prot. EMRK ist somit anwendbar. Jede Beschränkung dieses Rechts muss daher vorhersehbar sein, ein legitimes Ziel verfolgen und im Hinblick auf dieses verhältnismäßig sein. Ferner sollte die Möglichkeit, eine Ausbildung im Gefängnis zu bekommen, nicht willkürlichen und unangemessenen Einschränkungen unterworfen werden.
(35) Der GH hegt Zweifel, dass die dem Bf. auferlegten Einschränkungen ausreichend vorhersehbar waren. Die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen normieren, dass strafrechtlich verurteilte Häftlinge, wenn sie 16 Jahre oder älter sind, ein Recht geltend machen können, in das Bildungsprogramm aufgenommen zu werden. In Ermangelung präziser gegenteiliger Regelungen sind diese Bestimmungen auch auf Untersuchungshäftlinge anzuwenden. Die einzige Bestimmung, die explizit auf das Recht von Untersuchungshäftlingen auf Bildung Bezug nimmt, fordert die Gefängnisbehörden dazu auf, diese zur Teilnahme an Fortbildungsprogrammen im Gefängnis zu ermutigen (§ 157 Abs. 2 StVG 2009).
(36) Die mangelnde Klarheit, was die einschlägigen gesetzlichen Rahmenbedingungen anbelangt, spiegelt sich in dem Umstand wider, dass die bulgarischen Behörden während des innerstaatlichen Verfahrens unterschiedliche Gründe angegeben haben, um die Nichtteilnahme des Bf. am Bildungsprogramm des Gefängnisses zu rechtfertigen.
(37) Im Verfahren vor dem EGMR brachte die bulgarische Regierung drei Gründe zur Rechtfertigung des Vorgehens der Behörden vor: Erstens sei es für einen Untersuchungshäftling nicht angemessen, dass er die Schule gemeinsam mit strafrechtlich verurteilten Häftlingen besuche. Zweitens könne dem Bf., der sich auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft befinde, nicht zugemutet werden, den Schulunterricht für Strafhäftlinge zu besuchen, die ein oder mehr als ein Jahr Haft verbüßen würden. Drittens wäre es nicht im Interesse von erst einmal verurteilten Nicht-Rückfallstätern, dass der Bf., der in Gefahr sei, als Rückfallstäter verurteilt zu werden, gemeinsam mit ihnen am Unterricht teilnehme.
(38) Für den GH ist es bezeichnend, dass die Regierung ihre Argumente auf keinerlei Beweise betreffend die im Gefängnis von Stara Zagora vorherrschenden Verhältnisse gestützt hat. Zum ersten Argument ist zu sagen, dass die Notwendigkeit, den Bf. wegen seines Status als Untersuchungshäftling von den strafrechtlich verurteilten Häftlingen abzusondern, von der Gefängnisleitung nicht als Grund für die Ablehnung seines Gesuchs angeführt worden war. Den zahlreichen Ansuchen des Bf. ist zu entnehmen, dass er selbst keine Einwände gegen einen gemeinsamen Unterricht mit Strafhäftlingen hatte. Dem GH liegen auch keinerlei Hinweise vor, dass Untersuchungshäftlinge innerhalb des überwachten und beaufsichtigten Klassenzimmers zu Schaden hätten kommen können oder dass sie im Gefängnis getrennt von Straf- oder rückfälligen Häftlingen angehalten worden wären, und, falls ja, ob diese Trennung auf alle Aspekte des Gefängnisregimes Anwendung fand.
(39) Zum zweiten Argument ist zu sagen, dass die Regierung keine Erklärung dazu abgeliefert hat, warum die ungewisse Dauer der Untersuchungshaft und die Verbüßung einer (mehr als) einjährigen Freiheitsstrafe notwendige Voraussetzung für den Besuch der Gefängnisschule sein sollten. Der GH ist der Meinung, dass gerade bei Untersuchungshäftlingen wie dem Bf. die zu Beginn ungewisse Dauer der Untersuchungshaft nicht als Rechtfertigung für den Ausschluss von Bildungseinrichtungen dienen sollte, außer eventuell in Fällen, in denen klar ist, dass die Anhaltung nicht lange dauern wird.
(40) Was schließlich das dritte und letzte Argument der Regierung angeht, hält der GH es nicht für legitim, den Bf. von anderen Häftlingen wegen des Risikos einer Verurteilung als Rückfallstäter abzusondern, da er zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht verurteilt war und Anspruch auf Wahrung der Unschuldsvermutung hatte.
(41) Der GH erachtet somit keinen der von der Regierung vorgebrachten Gründe für den Ausschluss von der Gefängnisschule für überzeugend – dies auch deshalb, weil sie durch keinerlei Beweise hinsichtlich der präzisen Modalitäten für den Zugang zur Bildung in der Gefängnisschule von Stara Zagora untermauert wurden. Auf der anderen Seite steht das unbestrittene Interesse des Bf., seinen Grundschulabschluss zu machen. Der Stellenwert, Zugang zu Bildung und Unterricht im Gefängnis zu bekommen, kommt letztlich auch in diversen Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats zum Ausdruck.
(42) Im vorliegenden Fall hat die bulgarische Regierung weder praktische Gründe (zum Beispiel fehlende Ressourcen an der Gefängnisschule) noch eine einleuchtende Erklärung zu den rechtlichen Gründen für die dem Bf. auferlegten Einschränkungen vorgebracht. Unter diesen Umständen war die Weigerung, den Bf. in die Gefängnisschule einzuschreiben, nicht ausreichend vorhersehbar, verfolgte auch kein legitimes Ziel und war diesem gegenüber nicht verhältnismäßig. Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK
Der Bf. bringt vor, die vor seiner strafrechtlichen Verurteilung getroffene Annahme seitens der Gefängnisbehörden, er wäre schuldig, habe zu seinem Ausschluss von der Gefängnisschule und dazu geführt, dass er gemeinsam mit Rückfallstätern untergebracht worden sei.
(47) Im gegenständlichen Fall wurden die Anträge des Bf. auf Erlaubnis zum Besuch der Gefängnisschule von den Gefängnisbehörden mit der Begründung zurückgewiesen, der Bf. würde – sobald er verurteilt worden sei – in ein Gefängnis für Rückfallstäter überstellt werden. Ein Schulbesuch würde ihn aber in Kontakt zu Nicht-Rückfallstätern bringen.
(48) Der GH nimmt Notiz von der Schlussfolgerung des Landesgerichts Stara Zagora, wonach der Bf. nicht als Rückfallstäter iSv. § 158 StVG angesehen werden könne. Diese Frage wurde vom Obersten Verwaltungsgericht als irrelevant für seine Einschreibung in die Gefängnisschule betrachtet.
(49) Vor diesem Hintergrund und angesichts der bereits festgestellten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK hält der GH eine gesonderte Prüfung dieses Beschwerdepunkts nicht für notwendig (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 4.000,– für immateriellen Schaden, € 1.406,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Entscheidungsanmerkung
In Österreich enthält das StVG eigene Bestimmungen zur Berufsausbildung (§ 48 StVG) und zu Unterricht und Fortbildung von Strafgefangenen (§ 57 StVG).
Einem Erlass des Bundesministeriums für Justiz zufolge stellen Aus- und Fortbildungsangebote in den österreichischen Justizanstalten eine zentrale Resozialisierungsaufgabe dar und sind ein wesentlicher Beitrag zur Erreichung der Vollzugsziele. Die angebotenen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen in den Justizanstalten sollten möglichst klientenzentriert und ein wesentlicher Teil der Vollzugsplangestaltung (siehe §§ 20 und 56 StVG) sein. Jede Justizanstalt sollte eine Angebotspalette vorliegen haben, die jedem Insassen/jeder Insassin die gleichen Zugriffschancen mit den gleichen Bildungsinhalten ermöglicht. In jeder Justizanstalt sind verpflichtende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen – wie Deutschkurse, Basisbildungsprogramme (Vorbereitung zum Hauptschulabschluss, Grundkenntnisse der EDV, Computerkurse etc.), Gesundheitsprogramme (Erste Hilfe-Kurse, Ernährungsberatung, Entspannungstraining, Raucherinformation usw.) und berufsbildende Maßnahmen (Bewerbungstraining, Schnupperlehren, Kurzausbildungen) – anzubieten. Diese Maßnahmen sollen bedarfsabhängig angeboten werden und zertifizierte Abschlüsse ermöglichen. Um die Umsetzung dieser Maßnahmen zu gewährleisten, sind die Justizanstalten aufgefordert, geeignete Räumlichkeiten – sofern sie nicht schon vorhanden sind – zur Verfügung zu stellen.
Zusammengefaßt gesagt kann in Österreich somit jeder Gefängnisinsasse individuell zugeschnittene Aus- und Fortbildungsangebote in Anspruch nehmen.
Laut Auskunft von Hofrätin Mag. Andrea Moser-Riebniger, Vollzugsdirektion beim Bundesministerium für Justiz, ist die (Dauer der) U-Haft kein Ausschließungsgrund für die Inanspruchnahme derartiger Angebote.
Vom GH zitierte Judikatur:
Catan u.a./MD und RUS v. 19.10.2012 (GK) = NL 2012, 335
Epistatu/RO v. 24.9.2013
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.5.2014, Bsw. 16032/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 241) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/14_3/Velev.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.