JudikaturAUSL EGMR

Bsw70945/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. April 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Magyar Keresztény Mennonita Egyház u.a. gg. Ungarn , Urteil vom 8.4.2014, Bsw. 70945/11 u.a..

Spruch

Art. 9 EMRK, Art. 11 EMRK - Verlust des Rechtsstatus als Kirche.

Unzulässigkeit der Bsw. 41462/12.

Unzulässigkeit der Beschwerden unter Art. 13 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich der übrigen Beschwerdepunkte.

Verletzung von Art. 11 EMRK, gelesen im Lichte des Art. 9 EMRK (5:2 Stimmen).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (5:2 Stimmen).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung für die von Einzelpersonen geltend gemachten immateriellen Schäden dar. Im Übrigen sind die Fragen der gerechten Entschädigung nicht entscheidungsreif und werden daher für einen späteren Zeitpunkt vorbehalten (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegenden neun Beschwerden wurden von verschiedenen Religionsgemeinschaften und ihren Mitgliedern bzw. Würdenträgern erhoben. Ursprünglich bestanden sie als gemäß dem Gesetz Nr. IV aus 1990 (Kirchengesetz 1990) anerkannte Kirchen.

Mit 1.1.2012 trat das Gesetz Nr. CCVI aus 2011 über das Recht auf Freiheit des Gewissens und der Religion und den Rechtsstatus von Kirchen, Glaubensgemeinschaften und Religionsgemeinschaften (Kirchengesetz 2011) in Kraft. Durch dieses Gesetz verloren alle zuvor als Kirchen registrierte Religionsgemeinschaften, die nicht in dem 14 Kirchen auflistenden Anhang zum Gesetz genannt waren, ihren Status als Kirche. Sie konnten jedoch ihre Aktivitäten als Religionsgesellschaften fortsetzen. Wenn sie die Absicht hatten, weiterhin als Kirche tätig zu sein, mussten religiöse Organisationen um eine individuelle Anerkennung durch das Parlament ansuchen.

Mit Erkenntnis Nr. 6/2013 erklärte der ungarische Verfassungsgerichtshof jene Bestimmungen des Kirchengesetzes 2011 für verfassungswidrig, mit denen der Status der Bf. als Kirche beseitigt worden war. Auch die Befugnis des Parlaments, Religionsgemeinschaften den Status als Kirche zuzuerkennen, wurde als verfassungswidrig erachtet. Die entsprechenden Bestimmungen wurden rückwirkend aufgehoben.

Einige der Bf. erlangten nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs wieder den Status als »Kirche«, mit dem allerdings nicht jene Privilegien verbunden waren, die »eingetragenen Kirchen« gewährt wurden.

Nachdem der Verfassungsgerichtshof die Bestimmungen im Kirchengesetz 2011 über die Kompetenz des Parlaments zur Entscheidung über die Gewährung des besonderen Status von Kirchen aufgehoben hatte, wurde diese Befugnis mit 1.4.2013 in der Verfassung selbst verankert. Mit 1.8.2013 wurde auch das Kirchengesetz 2011 novelliert. Damit eine religiöse Gemeinschaft eine »eingetragene Kirche« werden kann, muss sie nunmehr nachweisen, dass sie seit mindestens 100 Jahren international besteht oder seit mindestens 20 Jahren in Ungarn in organisierter Form tätig ist und ihre Mitgliederzahl zumindest 0,1 % der Bevölkerung beträgt.

Eingetragene Kirchen genießen eine Reihe von Privilegien gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. Insbesondere können Gläubige nur eingetragenen Kirchen einen Anteil von 1 % ihrer Einkommenssteuer widmen. Außerdem kooperiert der Staat bei der Erfüllung gemeinnütziger Aufgaben nur mit eingetragenen Kirchen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 11 EMRK (hier: Vereinigungsfreiheit), gelesen im Licht von Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit). Außerdem bringen sie vor, in ihren durch Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) garantierten Rechten verletzt worden zu sein.

Verbindung der Beschwerden

Da die Beschwerden im Wesentlichen dieselbe Sache betreffen, werden sie zur gemeinsamen Behandlung verbunden (einstimmig).

Zur Zulässigkeit

Die Regierung beantragte aus einer Reihe von Gründen die Zurückweisung der Beschwerden als unzulässig.

Zunächst wendet sie ein, einige der Bf. hätten nicht die Anerkennung durch das Parlament beantragt und damit nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft. Außerdem wären nicht alle an dem verfassungsgerichtlichen Verfahren beteiligt gewesen. Dazu stellt der GH fest, dass der Verfassungsgerichtshof die angefochtenen Bestimmungen rückwirkend aufhob, wodurch die Bf. ihren formalen Status als Kirchen wiedererlangten. Hinsichtlich der Fähigkeit von Kirchen, Spenden und Subventionen zu empfangen, wurde der Missstand jedoch nicht behoben. Die Verfassungsbeschwerde war somit nicht geeignet, den von den Bf. erlittenen Nachteil vollständig zu beseitigen, egal ob sie sich dieses Rechtsbehelfs bedienten oder nicht. Die Beschwerden können daher nicht wegen Nichterschöpfung dieses Rechtsmittels zurückgewiesen werden. Soweit jene Bf. betroffen sind, welche die gesetzlichen Anforderungen dafür nicht erfüllten, kann der offensichtlich aussichtslose Antrag auf Anerkennung durch das Parlament nicht als zu erschöpfender Rechtsbehelf angesehen werden. Zudem hängt die Frage, ob die parlamentarische Anerkennung geeignet war, Abhilfe zu schaffen, eng zusammen mit der Begründetheit der Beschwerde und ist daher mit der Entscheidung in der Sache zu verbinden.

Soweit die Regierung einwendet, eine der Bf. sei nicht Opfer einer Verletzung, da sie ihren Sitz in London habe und ihr Rechtsstatus daher von der Gesetzesänderung nicht berührt worden sei, ist der Einrede stattzugeben. Die Bsw. Nr. 41.462/12 der European Union for Progressive Judaism wird für unzulässig erklärt (einstimmig).

Die Regierung wendet weiters ein, jene Bf., die an dem verfassungsgerichtlichen Verfahren beteiligt waren, könnten nicht länger als Opfer iSv. Art. 34 EMRK angesehen werden, da der Verfassungsgerichtshof die ihren Rechtsstatus beeinträchtigenden Bestimmungen aufgehoben hat. Obwohl die durch das Kirchengesetz 2011 erfolgte Umwandlung von bestehenden Kirchen in Gesellschaften für verfassungswidrig erklärt wurde, haben die Bf. nach Ansicht des GH keine angemessene Wiedergutmachung erhalten. Selbst wenn kein Nachteil und Schaden entstanden ist, kann eine Religionsgemeinschaft behaupten, Opfer zu sein, wenn die Verweigerung der Wiedereintragung ihre Rechtsstellung direkt betraf. Die Beschwerde kann daher nicht wegen Wegfalls der Opfereigenschaft zurückgewiesen werden.

Schließlich wendet die Regierung ein, die Beschwerden wären unzulässig ratione materiae, da die Rechtsfähigkeit der Bf. unberührt geblieben sei und sie ihre Aktivitäten als Gesellschaften fortsetzen hätten können. Dazu stellt der GH fest, dass Gegenstand der Beschwerde nicht die Rechtsfähigkeit der Bf. ist, sondern ihre Anerkennung als Kirche mit Anspruch auf die entsprechenden Privilegien. Das autonome Bestehen der bf. religiösen Gemeinschaften und damit die kollektive Religionsausübung war unbestreitbar durch das neue System der Registrierung betroffen. Die Beschwerde kann daher nicht als unzulässig ratione materiae zurückgewiesen werden.

Da die Beschwerden auch nicht offensichtlich unbegründet oder aus einem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie – mit Ausnahme der Bsw. Nr. 41.462/12 – für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Soweit mit den Beschwerden eine Verletzung von Art. 13 EMRK geltend gemacht wird, erklärt sie der GH wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 und Art. 11 EMRK

Die Bf. bringen vor, der Verlust des Status als Kirche durch das Kirchengesetz 2011 habe einen Eingriff in ihr Recht auf Religionsfreiheit begründet, da sie damit Privilegien eingebüßt hätte, die ihre religiösen Aktivitäten erleichtert hatten. Die Voraussetzungen für die neuerliche Anerkennung als Kirche und das entsprechende Verfahren wären willkürlich und unfair.

Zum Vorliegen eines Eingriffs

Wie der GH in vorangegangenen Fällen entschieden hat, stellt die Verweigerung der neuerlichen Registrierung einen Eingriff in das Recht einer religiösen Organisation auf Vereinigungsfreiheit und auf Religionsfreiheit dar.

Die umstrittene Maßnahme läuft auf eine Aberkennung des Status der Bf. als Kirchen hinaus und stellt daher einen Eingriff in ihre durch Art. 9 und Art. 11 EMRK garantierten Rechte dar. Dieser war unbestritten gesetzlich vorgesehen. Er diente dem legitimen Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten, insbesondere durch den Versuch der Bekämpfung betrügerischer Aktivitäten.

Zur Verhältnismäßigkeit des Eingriffs

Zum Ermessensspielraum

Die Staaten genießen bei der Beurteilung von Religionen und religiösen Organisationen einen gewissen Ermessensspielraum. Dieser läuft jedoch nicht auf eine uneingeschränkte Achtung der nationalen Einschätzung hinaus. Die von einem Mitgliedstaat verabschiedeten rechtlichen Lösungen müssen mit der Judikatur des GH vereinbar sein und unterliegen seiner Überprüfung.

Positive Verpflichtungen

Art. 11 iVm. Art. 9 EMRK gewährt kein Recht religiöser Organisationen auf einen bestimmten Rechtsstatus. Der Staat muss nur sicherstellen, dass religiöse Gemeinschaften die Möglichkeit haben, Rechtsfähigkeit als juristische Personen nach dem Zivilrecht zu erlangen. Es ist nicht erforderlich, dass ihnen ein bestimmter öffentlich-rechtlicher Status zugesprochen wird.

Die Unterschiede im Rechtsstatus, der religiösen Gemeinschaften zugesprochen wird, darf deren Anhänger in der öffentlichen Meinung nicht in einem schlechten Licht darstellen. Die Öffentlichkeit ist empfindlich für die offizielle Einschätzung einer Religion und der sie verkörpernden Kirche durch den Staat. In der Tradition vieler Staaten ist die Bezeichnung als Kirche und ihre staatliche Anerkennung der Schlüssel zur gesellschaftlichen Anerkennung. Ohne diese könnte eine religiöse Gemeinschaft als verdächtige Sekte angesehen werden. Mit anderen Worten kann die Nicht-Anerkennung einer religiösen Gemeinschaft als Kirche Vorurteile gegen die Anhänger solcher oft kleiner Gemeinschaften verstärken, insbesondere wenn es sich um Religionen mit neuen oder ungewöhnlichen Lehren handelt.

Hinsichtlich des unterschiedlichen Rechtsstatus religiöser Gemeinschaften und der daraus resultierenden Behandlung bei der Zusammenarbeit mit dem Staat stellt der GH fest, dass diese Unterscheidungen Auswirkungen auf die Organisation der Gemeinschaft und damit auf ihre individuelle oder kollektive Religionsausübung haben können.

Der GH kann die Gefahr nicht übersehen, dass ein Anhänger einer Religion sich lediglich geduldet – aber nicht willkommen – fühlen könnte, wenn der Staat die Anerkennung und Unterstützung seiner religiösen Organisation verweigert, diese zugleich aber anderen Glaubensrichtungen gewährt. Dies ist so, weil die kollektive Religionsausübung in der von den Lehren dieser Religion vorgeschriebenen Form essentiell für die ungehinderte Ausübung der Religionsfreiheit sein kann. In den Augen des GH berührt eine solche Situation der empfundenen Minderwertigkeit die Freiheit, die eigene Religion zu bekennen.

Deregistrierung der bf. religiösen Gemeinschaften

Das Kirchengesetz 2011 hatte den unmittelbaren Effekt, dass die bf. Vereinigungen, die bis dahin vollwertige Kirchen und als solche fähig waren, von Privilegien, Subventionen und Spenden zu profitieren, diesen Status verloren und bestenfalls zu Gesellschaften herabgestuft wurden, denen diese Möglichkeiten weitgehend fehlten. Das Ergebnis des umstrittenen Gesetzes bestand demnach darin, bestehende und funktionierende Kirchen ihres rechtlichen Rahmens zu entkleiden, was zum Teil weitreichende Konsequenzen hinsichtlich ihrer materiellen Lage und ihres Ansehens hatte.

Möglichkeit der neuerlichen Registrierung

Die nun geltende Rechtslage sieht ein zweigliedriges System der Anerkennung von Kirchen vor. Eine Reihe von Kirchen genießt als sogenannte »eingetragene Kirchen« vollen kirchlichen Status mit entsprechenden Privilegien, Subventionen und Steuerzuwendungen. Die übrigen religiösen Gemeinschaften können zwar seit August 2013 die Bezeichnung »Kirche« verwenden, sind aber in einer weit weniger privilegierten Situation und haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, in die Kategorie der eingetragenen Kirchen zu wechseln.

Ein solches zweigliedriges System kann als solches in den Ermessensspielraum des Staates fallen. Allerdings gehört ein derartiges System zu den historisch-konstitutionellen Traditionen jener Länder, die an ihm festhalten. Ein Staatskirchensystem kann als mit Art. 9 EMRK vereinbar angesehen werden, wenn es Teil einer Situation ist, die bei der Ratifikation der EMRK durch diesen Staat bereits bestanden hat.

Im vorliegenden Fall hat die Regierung keine überzeugenden Nachweise dafür vorgelegt, dass die im Anhang zum Kirchengesetz 2011 enthaltene Liste der eingetragenen Kirchen die historische Tradition Ungarns wiederspiegelt, da sie die bf. religiösen Gemeinschaften nicht umfasst und als Rückgriff auf die 1895 herrschende Situation unter Missachtung der jüngeren geschichtlichen Entwicklungen verstanden werden kann.

Die Entscheidung über die Anerkennung als eingetragene Kirche liegt beim Parlament, einem ausgesprochen politischen Organ, das solche Entscheidungen mit Zweitdrittelmehrheit fällen muss. Die Venice Commission stellte fest, dass diese Abstimmungen von den Wahlergebnissen abhängen. Die Gewährung oder Verweigerung der Anerkennung als Kirche kann daher mit politischen Ereignissen und Situationen zusammenhängen. Dieses System trägt von Haus aus eine Missachtung der Neutralität und die Gefahr der Willkür in sich. Eine Situation, in der religiöse Gemeinschaften darauf reduziert werden, politische Parteien zu umwerben, um ihre Zustimmung zu erhalten, ist unvereinbar mit der erforderlichen staatlichen Neutralität auf diesem Gebiet.

Es kann von den Bf. nicht erwartet werden, dass sie sich einem Verfahren unterziehen, das nicht den Garantien einer objektiven Evaluierung in einem fairen Verfahren vor einem unpolitischen Organ entspricht. Das Versäumnis, diesen Rechtsweg zu beschreiten, kann daher nicht zur Unzulässigkeit ihrer Beschwerden wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe führen, vor allem wenn die betreffenden Bf. die Anforderungen an die Dauer des Bestehens und die Zahl der Mitglieder nicht erfüllen. Die dahingehende Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).

Die Regierung hat nicht vorgebracht, dass die neuerliche Beurteilung bestehender Kirchen unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Gefährlichkeit für die Gesellschaft notwendig gewesen wäre. Die Gründe für die Notwendigkeit einer neuerlichen Registrierung hätten daher besonders schwerwiegend und zwingend sein müssen. Im vorliegenden Fall wurden keine solchen Gründe vorgebracht.

Selbst unter der Annahme, dass solche schwerwiegenden und zwingenden Gründe vorgelegen hätten, wurde den Bf. angesichts des politischen Charakters des Verfahrens keine faire Gelegenheit geboten, die angestrebte Stufe der rechtlichen Anerkennung zu erlangen.

Möglichkeiten der Bf., materielle Vorteile zu erlangen

Die Religionsfreiheit gewährt religiösen Gemeinschaften keinen Anspruch auf finanzielle Mittel aus dem staatlichen Budget. Subventionen, die verschiedenen religiösen Gemeinschaften – und damit indirekt verschiedenen Religionen – in unterschiedlicher Weise gewährt werden, verlangen jedoch nach der strengsten Überprüfung.

Privilegien religiöser Gesellschaften, insbesondere im Bereich der Besteuerung, erleichtern ihre Verfolgung religiöser Ziele, weshalb Art. 9 EMRK die staatlichen Behörden dazu verpflichtet, bei der Verteilung dieser Ressourcen und der Gewährung dieser Privilegien neutral zu bleiben. Wenn sich ein Staat freiwillig entschieden hat, religiösen Organisationen ein Recht auf Subventionen und andere Vorteile zu gewähren, darf er bei der Gewährung dieser Vorteile nicht diskriminieren. Entscheidet sich der Staat umgekehrt dazu, bestimmte Vorteile zu reduzieren oder zu entziehen, darf auch eine solche Maßnahme nicht diskriminierend sein.

Bei der Wahl von Partnern, an die im öffentlichen Interesse liegende Aufgaben ausgelagert werden, darf der Staat nicht zwischen religiösen Gemeinschaften diskriminieren. Die Neutralität des Staates verlangt, dass der Staat, wenn er sich dazu entscheidet, mit religiösen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, seine Partner nach bestimmbaren Kriterien wie etwa ihren materiellen Fähigkeiten auswählt. Unterscheidungen seitens des Staates bei der Anerkennung, Zusammenarbeit und Förderung dürfen keine Situation herbeiführen, in der sich die Anhänger einer religiösen Gemeinschaft aus religiösen Gründen als Bürger zweiter Klasse fühlen, weil der Staat ihrer Gemeinschaft gegenüber einen weniger vorteilhaften Standpunkt einnimmt.

Nach ungarischem Recht genießen eingetragene Kirchen eine bevorzugte Behandlung, insbesondere bei der Besteuerung und bei Subventionen. Der Vorteil eingetragener Kirchen ist beträchtlich und erleichtert die Verfolgung ihrer religiösen Ziele durch ihre spezielle Organisationsform.

Die den Staaten bei der Regulierung ihrer Beziehungen zu Kirchen zukommende Freiheit schließt die Möglichkeit ein, derartige Privilegien durch gesetzliche Maßnahmen umzugestalten. Diese Freiheit kann aber nicht so weit gehen, dass die in diesem Bereich geforderte Neutralität und Unparteilichkeit beeinträchtigt wird. Im vorliegenden Fall betraf der Entzug von Begünstigungen (der mit der Deregistrierung als Kirche und der folgenden Verweigerung des Status einer eingetragenen Kirche einherging) nur bestimmte Glaubensgemeinschaften, einschließlich der Bf. Es trifft zu, dass die Bf. die vom Gesetzgeber vorgesehenen Kriterien nicht zu erfüllen scheinen, insbesondere hinsichtlich der Mindestzahl an Mitgliedern und der Dauer ihres Bestehens. Diese Bedingungen versetzten die Bf., von denen einige neue und/oder kleine Gemeinschaften sind, in eine nachteilige Situation, die in Widerspruch zur geforderten Neutralität und Unparteilichkeit steht. Was die Frage der Dauer des Bestehens einer religiösen Gruppe betrifft, akzeptiert der GH, dass eine bestimmte Mindestdauer im Fall von neu gegründeten und unbekannten Gruppen notwendig sein kann. Sie ist aber kaum gerechtfertigt für religiöse Gruppen, die gegründet wurden, sobald sich das konfessionelle Leben mit dem Ende des kommunistischen Regimes in Ungarn ungehindert entfalten konnte, und die den zuständigen Behörden inzwischen vertraut sein müssen, auch wenn sie kürzer bestehen, als es die gesetzliche Mindestdauer verlangt.

Der GH sieht keinen Hinweis darauf, dass die Bf. daran gehindert werden, ihre Religion als juristische Personen auszuüben, was ihre formale Autonomie gegenüber dem Staat sicherstellt. Allerdings sind bestimmte von Kirchen durchgeführte religiöse Aktivitäten den religiösen Gesellschaften nicht verfügbar, was sich auf deren Recht auf kollektive Religionsausübung auswirkt. Insbesondere haben nur eingetragene Kirchen einen Anspruch auf den Anteil von 1 % der Einkommenssteuer, der von Gläubigen gewidmet werden kann, bzw. der entsprechenden staatlichen Förderung. Diese Beträge dienen der Unterstützung religiöser Aktivitäten. Eine solche Differenzierung entspricht daher nach Ansicht des GH nicht den Anforderungen der staatlichen Neutralität und entbehrt objektiven Gründen. Eine derartige Diskriminierung belastet die Gläubigen kleinerer religiöser Gemeinschaften ohne einen objektiven und gerechtfertigten Grund.

Schlussfolgerung

Durch die völlige Beseitigung des Status der Bf. als Kirche, die Einrichtung eines politisch belasteten Verfahrens zur neuerlichen Anerkennung, dessen Rechtfertigung schon als solche zweifelhaft ist, und schließlich durch die unterschiedliche Behandlung der Bf. gegenüber eingetragenen Kirchen missachteten die Behörden ihre Pflicht zur Neutralität gegenüber den bf. Gemeinschaften. Aufgrund dieser Faktoren kommt der GH zu dem Schluss, dass die umstrittene Maßnahme keinem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach und damit eine Verletzung von Art. 11 EMRK, gelesen im Licht des Art. 9 EMRK, begründete (5:2 Stimmen; im Ergebnis abweichendes Sondervotum von Richter Spano, gefolgt von Richter Raimondi).

Zu den sonstigen behaupteten Verletzungen

Eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK und von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nicht erforderlich (5:2 Stimmen; im Ergebnis abweichendes Sondervotum von Richter Spano, gefolgt von Richter Raimondi).

Dasselbe gilt für die behauptete Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von den Einzelpersonen geltend gemachten immateriellen Schaden dar (5:2 Stimmen; im Ergebnis abweichendes Sondervotum von Richter Spano, gefolgt von Richter Raimondi).

Im Übrigen sind die Fragen der gerechten Entschädigung nicht entscheidungsreif und werden daher für einen späteren Zeitpunkt vorbehalten (5:2 Stimmen; im Ergebnis abweichendes Sondervotum von Richter Spano, gefolgt von Richter Raimondi).

Vom GH zitierte Judikatur:

Hasan und Chaush/BG v. 26.10.2000 = NL 2000, 216

Metropolitan Church of Bessarabia u.a./MD v. 13.12.2001 = NL 2001, 250

Moskauer Zweig der Heilsarmee/RUS v. 5.10.2006 = NL 2006, 237 = EuGRZ 2006, 24

Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./Av. 31.7.2008 = NL 2008, 232 = ÖJZ 2008, 865

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.4.2014, Bsw. 70945/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 135) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_2/Magyar.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise