JudikaturAUSL EGMR

Bsw27510/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
17. Dezember 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Perinçek gg. die Schweiz, Urteil vom 17.12.2013, Bsw. 27510/08.

Spruch

Art. 10, 17 EMRK - Verurteilung wegen Leugnung des 1915 am armenischen Volk begangenen Völkermords.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 (5:2 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung von Art. 7 EMRK (einstimmig).

Feststellung der Verletzung von Art. 10 EMRK als ausreichende Entschädigung für immateriellen Schaden (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Doktor der Rechte und Präsident der Türkischen Arbeiterpartei. Er nahm im Mai, Juli und September 2005 an diversen Konferenzen in der Schweiz teil, im Zuge derer er öffentlich die Existenz des vom Osmanischen Reich beginnend mit 1915 am armenischen Volk begangenen Völkermords abstritt und die Idee eines armenischen Genozids als »internationale Lüge« bezeichnete.

In der weiteren Folge wurde von der »Gesellschaft Schweiz-Armenien« Strafanzeige gegen den Bf. erstattet. Mit Urteil vom 9.3.2007 sprach ihn das Polizeigericht Lausanne des Verbrechens der Rassendiskriminierung iSv. Art. 261bis Abs. 4 StGB (Anm: Danach ist, wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstoßenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe zu bestrafen.) schuldig und verurteilte ihn zur Zahlung einer Geldstrafe im Ausmaß von 90 Tagessätzen à € 85,– sowie eines Bußgeldes von € 2.500,– sowie zur Entrichtung einer Entschädigung für immateriellen Schaden in der Höhe von € 850,– (jeweils umgerechnet in Euro) an die obige Gesellschaft. Begründend führte es aus, der armenische Völkermord sei eine von der öffentlichen Meinung in der Schweiz und auch allgemein anerkannte Tatsache. In diesem Zusammenhang verwies es auf das »Postulat von Buman« (Anm: Benannt nach dem Schweizer Politiker Dominique de Buman, dessen Antrag auf Anerkennung des 1915 an den Armeniern begangenen Völkermords vom schweizerischen Nationalrat am 16.12.2003 angenommen worden war.), auf mehrere rechtswissenschaftliche Publikationen, auf einschlägige Erklärungen von Kantonal- und Bundesbehörden sowie auf die Anerkennung des armenischen Völkermordes durch internationale Stellen wie den Europarat (Anm: Fakt ist jedoch, dass der Europarat selbst – im Gegensatz zu manchen Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung – den armenischen Genozid nicht anerkannt hat.) und das Europäische Parlament. Dazu komme, dass die Motive des Bf. rassistischer Natur gewesen seien und nicht zu einer historischen Debatte beigetragen hätten.

Der Bf. erhob dagegen ein Rechtsmittel, worin er unter anderem begehrte, man möge Erkundigungen hinsichtlich des Stands der Forschung und der Position von Historikern zur »armenischen Frage« einholen. Der Strafkassationshof des Kantons Waadt wies das Rechtsmittel am 13.6.2007 mit der Begründung ab, genauso wie der Völkermord an den Juden sei der an den Armeniern begangene ein historischer Fakt, dem der nationale Gesetzgeber mit der Erlassung von Art. 261bis Abs. 4 StGB Rechnung getragen habe. Insofern müssten die Gerichte nicht Rückgriff auf die Arbeit von Historikern nehmen, um dessen Existenz zu beweisen. Außerdem habe sich der Bf. lediglich der Qualifikation als Völkermord verwahrt, während er das Massaker an und die Deportation von Armeniern niemals in Abrede gestellt habe.

Eine Beschwerde an das Bundesgericht verlief erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) und von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Der Bf. bringt vor, seine strafrechtliche Verurteilung wegen öffentlicher Leugnung des Völkermords an den Armeniern habe weder ein legitimes Ziel verfolgt noch sei sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen und habe ihn daher in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Darüber hinaus sei Art. 261bis Abs. 4 StGB nicht ausreichend vorhersehbar gewesen.

Zur Zulässigkeit und Anwendung von Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte)

Der GH erinnert daran, dass Art. 17 EMRK es ihm erlaubt, eine Beschwerde für unzulässig zu erklären, wenn er der Ansicht ist, dass eine der Verfahrensparteien rechtsmissbräuchlich Konventionsrechte geltend macht. Zwar hat die Regierung keinerlei Einwände unter dieser Bestimmung vorgebracht, jedoch wird der GH aus eigenem Ermessen eine Prüfung dahingehend vornehmen, ob die Stellungnahmen des Bf. vom Schutz seiner Meinungsäußerungsfreiheit ausgenommen werden sollten.

Der GH hat bereits in den Fällen Lehideux und Isorni/F und Orban u.a./F festgestellt, dass Äußerungen gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte iSv. Art. 17 EMRK keinen Schutz durch Art. 10 EMRK genießen. Genannt sei auch der Fall Garaudy/F, in dem es um die Verurteilung des Autors eines Buches wegen Abstreitung von durch die Nationalsozialisten an den Juden systematisch begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere der »Endlösung«, ging. In diesem Fall sah der GH die von Letzterem unter Art. 10 EMRK eingebrachte Beschwerde als unvereinbar mit der Konvention ratione materiae an. Zum selben Schluss kam er in seinen Zulässigkeitsentscheidungen Norwood/GB und Pavel Ivanov/RUS, in denen die Bf. ihre islamfeindlichen bzw. antisemitischen Ziele missbräuchlich auf ihre Meinungsäußerungsfreiheit stützten. Im Fall Leroy/F vertrat der GH die Auffassung, dass die vom Bf. getätigte Meinungsäußerung dem Anwendungsbereich von Art. 17 EMRK entzogen war. Die in humoristischer Art und Weise (hier: in Form einer umstrittenen Karikatur) übermittelte Grundbotschaft, nämlich der Niedergang des amerikanischen Imperialismus, sei weder auf die Negierung fundamentaler Rechte gerichtet noch mit Äußerungen gleichzusetzen gewesen, die gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte verstoßen hätten, wie dies etwa beim Rassismus, dem Antisemitismus und der Islamophobie der Fall sei. Auch im Fall Kern/D (Kündigung eines Beamten und gleichzeitigen Ortsvorsitzenden des rechtsextremen »Bündnisses Rechts« wegen Bezeichnung der Terroranschläge vom 11.9.2001 als »längst überfällige Befreiungsaktion gegen die USA«) hat der GH von einer Anwendung des Art. 17 EMRK Abstand genommen und die Äußerungen am Maßstab des – nicht absolut geltenden – Art. 10 EMRK gemessen. Einen solchen Ansatz vertrat der GH auch im Fall Molnar/RO, wo es um die Verurteilung wegen Verteilung von zu interethnischem Hass, Diskriminierung und Anarchie aufrufendem Propagandamaterial ging.

Im Lichte dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob die strittigen Äußerungen vom Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK ausgeschlossen sind.

Vorab ist festzustellen, dass manche Aussagen des Bf. durchaus als provokant aufgefasst werden konnten. Von den nationalen Instanzen wurden die Motive, die ihn zu deren Äußerung bewegten, als »nationalistisch« und »rassistisch« eingestuft. In den Konferenzen, an denen er teilnahm, sprach er mehrmals vom armenischen Genozid als »internationale Lüge«. Nun ist es aber so, dass auch Meinungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen können, unter den Schutz von Art. 10 EMRK fallen. Besondere Bedeutung kommt hier aber der Tatsache zu, dass der Bf. die Existenz von Massakern und Deportationen während dieser Jahre niemals bestritten hat. Er widerspricht lediglich der rechtlichen Qualifikation dieser Ereignisse als »Genozid«.

Der GH hat in den obigen Fällen wiederholt festgestellt, dass die Grenzlinie, ab der Äußerungen unter Art. 17 EMRK fallen, bei der Frage zu ziehen ist, ob eine Stellungnahme oder Rede zu Hass oder Gewalt aufstacheln wollte. Er vermag nicht festzustellen, dass die Zurückweisung der rechtlichen Qualifikation der Ereignisse von 1915 als »Genozid« per se auf das Schüren von Hass gegen das armenische Volk gerichtet war. Der Bf. wurde auch niemals wegen öffentlichem Aufruf zu Hass gegen eine Gruppe von Personen strafrechtlicht verfolgt bzw. verurteilt – ein Delikt, das übrigens unter Art. 261bis Abs. 1 StGB fällt. Es hat auch nicht den Anschein, als ob er sich über die Opfer der fraglichen Ereignisse geringschätzig geäußert hätte. Der Bf. hat folglich nicht sein Recht missbraucht, offen über diese Fragen zu debattieren, mögen sie auch delikat und geeignet sein, Missfallen zu erregen. Zwar hat der Strafkassationshof des Kantons Waadt festgehalten, dass der Bf. sich auf Tâlat Pascha (Anm: Der Genannte war Führer der »Jungtürken« und von 1915 bis 1918 Innenminister des Osmanischen Reichs.) – laut dem Gericht einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern – berief. Der GH will nicht ausschließen, dass diese Identifikation mit einem Urheber der Gräueltaten in gewisser Weise mit dem Versuch der Rechtfertigung von vom Osmanischen Reich begangenen Handlungen gleichgesetzt werden kann. Er sieht sich jedoch nicht zur Beantwortung dieser Frage veranlasst, da der Bf. sich nicht wegen des Versuchs der Rechtfertigung von Völkermord iSv. Art. 261bis Abs. 4 StGB strafrechtlich verantworten musste.

Der GH kommt daher zum Schluss, dass der Bf. sein Recht auf freie Meinungsäußerung nicht für Ziele verwendet hat, die gegen Text und Geist der Konvention verstoßen. Art. 17 EMRK ist daher nicht anzuwenden. Die Beschwerde ist für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Unter den Parteien ist unstrittig, dass ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. vorliegt.

War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

Was die von Art. 10 Abs. 2 EMRK geforderte Rechtsgrundlage angeht, bringt der Bf. vor, Art. 261bis Abs. 4 StGB spreche von der Leugnung von Völkermord, ohne zu präzisieren, ob es sich dabei um den an den Juden oder an den Armeniern begangenen gehandelt habe.Diese Bestimmung würde nicht den vom GH geforderten Grad an Präzision und Vorhersehbarkeit aufweisen.

Die strafrechtliche Verurteilung beruhte zweifellos auf einer zugänglichen Rechtsgrundlage. Es ist nun zu prüfen, ob der Bf. im konkreten Fall vorhersehen konnte, dass seine bei Konferenzen in der Schweiz getätigten Äußerungen Anlass zu einer strafrechtlichen Untersuchung bis hin zu seiner Verurteilung geben konnten.

Das Bundesgericht hielt fest, dass eine am Wortlaut, am Entstehungszeitpunkt und an der Wortstruktur orientierte Auslegung der strittigen Strafbestimmung die Feststellung gestatte, dass sie sich auf kein bestimmtes historisches Ereignis beziehe. Art. 261bis Abs. 4 StGB spreche von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, damit seien also nicht nur die vom Nazi-Regime begangenen Massenmorde gemeint.

Der GH hegt Zweifel, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff »Völkermord« die von Art. 10 Abs. 2 EMRK geforderte Präzision aufweist. Er ist dennoch der Meinung, dass die strafrechtliche Sanktion für den Bf. unter diesen besonderen Umständen vorhersehbar war. Als Jurist und über politische Fragen informierte Person hätte er ahnen müssen, dass er sich bei derartigen »Reden« strafrechtlichen Sanktionen aussetzen könnte, hatte doch der Schweizer Nationalrat 2003 die Existenz eines armenischen Völkermords ausdrücklich anerkannt. Der Bf. selbst gestand ein, ihm sei Art. 261bis Abs. 4 StGB nicht unbekannt, jedoch erklärte er in aller Öffentlichkeit, seine Haltung zu dieser Frage niemals ändern zu wollen – und zwar auch dann nicht, wenn eine unabhängige Kommission eines Tages feststellen würde, dass es sich tatsächlich um Völkermord handelte. Der GH teilt insofern die Ansicht des Bundesgerichts, dass der Bf., indem er den armenischen Völkermord als »internationale Lüge« bezeichnete, sich bewusst einer strafrechtlichen Sanktion auf Schweizer Territorium aussetzte. Der Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen.

Lag ein legitimes Ziel vor?

Die Regierung legt dar, die strafrechtliche Verurteilung des Bf. habe mehrere Ziele verfolgt, insbesondere den Schutz der Ehre der Opfer, die der Bf. öffentlich als Instrumente imperialistischer Mächte bezeichnet habe, gegen deren Attacken die Türken ihr Heimatland hätten verteidigen müssen, und die Verteidigung der Ordnung.

Der GH ist der Auffassung, dass die strittige Maßnahme dem Schutz der Rechte anderer, nämlich der Ehre der Familien und Angehörigen der Opfer der vom Osmanischen Reich ab 1915 begangenen Gräueltaten diente.

War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

Der GH hält vorab fest, dass er sich nicht dazu aufgerufen fühlt, über die Massaker und Deportationen, denen das armenische Volk durch das Osmanische Reich ausgeliefert war, zu befinden. Dies gilt auch für die von den nationalen Gerichten vorgenommene rechtliche Einstufung dieser Ereignisse als »Völkermord« iSv. Art. 261bis Abs. 4 StGB. Er wird lediglich untersuchen, ob die strafrechtliche Verurteilung des Bf. durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt war.

Charakterisierung der Äußerungen und Ausmaß des staatlichen Ermessensspielraums

Die Frage, ob die Ereignisse von 1915 und danach als Genozid qualifiziert werden konnten, war zweifellos von großem öffentlichen Interesse. Mögen auch die Äußerungen des Bf., der sich selbst als Historiker und Schriftsteller ansieht, von den Gerichten eher als »nationalistisch« und »rassistisch« eingestuft worden sein, bewegten sich dessen Thesen doch in einem historischen Rahmen. Außerdem nahm er zu einer Frage, die das Verhältnis Türkei – Armenien betraf, in seiner Eigenschaft als Politiker Stellung. Seine Äußerungen waren somit von historischer, rechtlicher und politischer Tragweite. Angesichts des öffentlichen Interesses daran war der behördliche Ermessensspielraum daher reduziert.

Die von den Gerichten angewendete Methode: die Frage des »Konsenses«

Die nationalen Gerichte wie auch die Regierung begründeten die Verurteilung des Bf. im Wesentlichen mit dem allgemeinen Konsens, der vor allem in der akademischen Fachwelt hinsichtlich der rechtlichen Qualifikation der fraglichen Ereignisse vorherrsche. Zwar kommt die Auslegung und Anwendung innerstaatlichen Rechts in erster Linie den Behörden bzw. Gerichten zu, jedoch räumte selbst das Bundesgericht ein, dass in diesem Punkt keine Einigkeit innerhalb der Gemeinschaft existiere. Dem Bf. und der türkischen Regierung als drittbeteiligter Partei zufolge sei es sehr schwierig, hier eine Übereinstimmung auszumachen. Der GH stimmt dem zu, gibt es doch sogar in der Schweiz unterschiedliche Ansichtspunkte der politischen Organe in dieser Frage: Während der Nationalrat den armenischen Völkermord ausdrücklich anerkannt hat, hat der Bundesrat dessen Anerkennung wiederholt abgelehnt. Im Übrigen dürften zur Zeit lediglich 20 von mehr als 190 Staaten auf der ganzen Welt diesen offiziell anerkannt haben. Wie auch in der Schweiz erfolgte die Anerkennung nicht durch die Regierung selbst, sondern oftmals lediglich durch das Parlament oder durch eine Abgeordnetenkammer.

Wie auch der Bf. ist der GH der Ansicht, dass der Begriff »Völkermord« einem präzise definierten rechtlichen Konzept unterliegt. (Anm: Vgl. Art. 2 der UN-Völkermordkonvention und Art. 5 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.) Laut der Rechtsprechung des IGH und des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda müssen gegen eine Gruppe gerichtete Handlungen, um als Genozid qualifiziert zu werden, in der Absicht erfolgen, sie zum Teil oder in ihrer Gesamtheit zu vernichten. Es handelt sich also um ein sehr enges rechtliches Konzept, bei dem eine Beweisführung schwierig ist. Der GH ist nicht davon überzeugt, dass der allgemeine Konsens, auf den die Schweizer Gerichte verwiesen, die Verurteilung des Bf. unter Zugrundelegung dieses spezifischen Rechtskonzepts zu rechtfertigen vermag. Jedenfalls ist zweifelhaft, dass über Ereignisse wie die hier vorliegenden insbesondere ein wissenschaftlicher Konsens besteht, ist doch die historische Suche per definitionem kontrovers und diskussionswürdig und eignet sich kaum für endgültige Schlussfolgerungen und objektive und absolute Wahrheitsansprüche. Der vorliegende Fall unterscheidet sich daher klar von Fällen betreffend die Leugnung des Holocausts. (Anm: Vgl. die Sachentscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses vom 8.11.1996 im Fall Robert Faurisson/F.) Hier hatten die Bf. konkrete historische Fakten – wie etwa die Existenz der Gaskammern – und die vom Nazi-Regime begangenen Verbrechen, für deren Ahndung es eine klare Rechtsgrundlage gab (Art. 6 Abs. C des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg), geleugnet und waren die von ihnen bestrittenen Handlungen von einem internationalen Gerichtshof einhellig als belegt eingestuft worden.

Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die von den Schweizer Gerichten zur Stützung der Verurteilung des Bf. gewählte Methode mit Vorsicht zu betrachten ist.

Existenz eines dringenden sozialen Bedürfnisses

Der GH ist der Ansicht, dass die Leugnung des Holocausts als maßgeblichem Motor für Antisemitismus von der internationalen Gemeinschaft größte Entschlossenheit und Wachsamkeit verlangt. Was nun die tragischen Ereignisse von 1915 und danach angeht, vermag er nicht zu bestätigen, dass die Zurückweisung der rechtlichen Qualifikation als »Völkermord« ähnliche Auswirkungen haben könnte. Einer Studie des Schweizer Instituts für Rechtsvergleichung vom 19.12.2006 zufolge stellen lediglich zwei von insgesamt 16 untersuchten Staaten, nämlich Luxemburg und Spanien, die Leugnung von Völkermord allgemein, also ohne sich auf die vom Nazi-Regime begangenen Verbrechen zu beschränken, unter Strafe. Alle anderen Staaten sahen offensichtlich kein »dringendes soziales Bedürfnis«, derart vorzugehen. Die Schweiz vermochte somit nicht zu beweisen, dass in ihrem Fall ein größeres soziales Bedürfnis als in anderen Ländern existierte, eine Person wegen rassischer Diskriminierung zu bestrafen, weil diese sich dagegen aussprach, dass auf dem Territorium des Osmanischen Reichs gegen das armenische Volk gerichtete Handlungen rechtlich als »Völkermord« einzustufen seien.

Seit der Veröffentlichung dieser Studie haben sich zwei bedeutende Entwicklungen ereignet: Zum einen hat das spanische Verfassungsgericht im November 2007 die von Art. 607 Abs. 2 StGB unter Strafe gestellte Leugnung von Völkermord mit der Begründung als verfassungswidrig aufgehoben, dass die bloße Negation eines solchen Verbrechens nicht als direkte Aufforderung zur Anwendung von Gewalt zu verstehen und die simple Verbreitung von Schlussfolgerungen hinsichtlich des Bestehens oder Nichtbestehens von spezifischen Fakten, ohne darüber ein Werturteil abzugeben, von der Freiheit der Wissenschaft geschützt sei. Zum anderen hat das französische Verfassungsgericht ein Gesetz, mit dem die Leugnung von gesetzlich anerkannten Völkermorden strafrechtlich geahndet wurde, wegen Widerspruchs zur Meinungsäußerungs- bzw. Wissenschaftsfreiheit für verfassungswidrig erklärt.

Mag es sich dabei auch nicht um Präzedenzfälle im formellen Sinn handeln, kann sich der GH diesen zwei Entwicklungen nicht verschließen. Er erinnert daran, dass Frankreich den armenischen Völkermord mit Gesetz Nr. 70 vom 29.1.2001 öffentlich anerkannt hat. Seiner Ansicht nach macht die Entscheidung des französischen Verfassungsgerichts klar, dass zwischen der öffentlichen Anerkennung gewisser Ereignisse wie Völkermord und der Schlussfolgerung, es sei verfassungswidrig, Personen strafrechtlich zu verfolgen, welche die offizielle Sichtweise in Frage stellen, im Prinzip kein Widerspruch besteht. Die Staaten, welche den armenischen Völkermord – hauptsächlich über ihre Parlamente – anerkannt haben, hielten es übrigens nicht für notwendig, Gesetze zwecks strafrechtlicher Ahndung zu verabschieden, war ihnen doch offenbar bewusst, dass eines der wesentlichen Ziele der Meinungsäußerungsfreiheit der Schutz von Minderheitenmeinungen ist, die Debatten über Fragen von allgemeinem Interesse, die sich nicht vollständig etabliert haben, anregen können.

Ferner hat der UN-Menschenrechtsausschuss in seiner allgemeinen Stellungnahme Nr. 34/2011 zu Art. 19 IPBPR (Recht auf freie Meinungsäußerung) hervorgehoben, dass Gesetze, welche die Äußerung von Ansichten über historische Fakten pönalisieren, mit den Verpflichtungen der Staaten unter diesem Pakt nicht vereinbar seien und dass der Pakt ein Verbot von auf irrigen Meinungen beruhenden Äußerungen oder einer inkorrekten Interpretation vergangener Ereignisse nicht gestatte.

Schließlich ist noch zu bemerken, dass es sich im vorliegenden Fall um die erste Verurteilung einer Person auf der Grundlage des Art. 261bis StGB, was die »armenische Frage« anbelangt, handelt.

Mit Rücksicht auf das Vorgesagte hegt der GH daher Zweifel, dass die Verurteilung des Bf. durch ein dringendes soziales Bedürfnis geboten war.

Verhältnismäßigkeit der Maßnahme

Die über den Bf. verhängten Sanktionen, von denen eine in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden kann, waren zwar nicht gravierend, jedoch vermochten sie abschreckende Auswirkungen auf ihn haben, indem sie diesen nach Art einer Zensur davon abhielten, sich zu Fragen von allgemeinem Interesse kritisch zu äußern.

Ergebnis

Die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung der Verurteilung des Bf. angeführten Gründe waren in ihrer Gesamtheit betrachtet unzureichend. Letztere haben den engen Ermessensspielraum, der in einer das öffentliche Interesse erweckenden Debatte wie der vorliegenden vorgegeben ist, überschritten. Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes gemeinsames Sondervotum von Richter Raimondi und Sajó; teilweise abweichendes Sondervotum der Richterin Vucinic und von Richter Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK

Der Bf. behauptet, Art. 261bis Abs. 4 StGB sei von seinem Wortlaut her zu vage gehalten.

Dieser Beschwerdepunkt weist keine unterschiedliche Fragen wie jene bereits unter Art. 10 EMRK untersuchten auf. Eine gesonderte Prüfung ist daher nicht notwendig (einstimmig).

Zu den anderen gerügten Konventionsverletzungen

Der Bf. behauptet unterschiedliche Verletzungen von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht), die sich im Zuge des Strafverfahrens ereignet hätten. Ferner rügt er eine Verletzung von Art. 14, Art. 17 und Art. 18 EMRK.

Diese Beschwerdepunkte sind entweder offensichtlich unbegründet oder wurden nicht den nationalen In- stanzen, wie von Art. 35 Abs. 1 EMRK gefordert, unterbreitet. Sie sind daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt für sich eine ausreichend gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (5:2 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes gemeinsames Sondervotum von Richter Raimondi und Sajó; teilweise abweichendes Sondervotum der Richterin Vucinic und von Richter Pinto de Albuquerque).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lehideux und Isorni/F v. 23.9.1998 (GK) = NL 1998, 195 = ÖJZ 1999, 656

Garaudy/F v. 24.6.2003 (ZE)

Norwood/GB v. 16.11.2004 (ZE)

Pavel Ivanov/RUS v. 20.2.2007 (ZE)

Kern/D v. 29.5.2007 (ZE)

Leroy/F v. 2.10.2008 = NL 2008, 273

Orban u.a./F v. 15.1.2009

Molnar/RO v. 23.10.2012 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.12.2013, Bsw. 27510/08

entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 453) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_6/Perincek.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise