Bsw5786/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Söderman gg. Schweden, Urteil vom 12.11.2013, Bsw. 5786/08.
Spruch
Art. 8 EMRK - Heimliches Filmen einer nackten Minderjährigen.
Verletzung von Art. 8 EMRK (16:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 29.700,– für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. wurde 1987 geboren und entdeckte im September 2002, als sie 14 Jahre alt war, dass ihr Stiefvater im Wäschekorb im Badezimmer eine Videokamera versteckt hatte, die sich im Aufnahmemodus befand und auf jene Stelle gerichtet war, wo sie sich vor dem Duschen ausgezogen hatte. Unmittelbar nach dem Vorfall wurde der Film verbrannt, ohne dass ihn jemand gesehen hätte.
Zwei Jahre später, im September 2004, informierte die Mutter die Polizei von dem Vorfall. Der Staatsanwalt erhob gegen den Stiefvater Anklage wegen sexueller Belästigung gemäß Kapitel 6 Art. 7 Abs. 3 des schwedischen StGB. Der Stiefvater wurde weiters wegen zwei Fällen von sexueller Belästigung der Cousine der Bf. im Jahr 2003 angeklagt, weil er die damals 16-jährige am Oberschenkel gestreichelt und den Wunsch artikuliert hätte, mit ihr Sex haben zu wollen. Eine vierte Anklage gegen ihn wegen sexueller Belästigung erfolgte, weil er angeblich im Sommer 2003 durch das Fenster in das Zimmer der Bf. geschaut hatte, als diese sich auszog. Die Bf. brachte am 20.1.2006 auch eine Klage auf Schadenersatz für die Verletzung ihrer persönlichen Integrität und das ihr zuteil gewordene Leiden gegen ihren Stiefvater ein, die mit dem Strafverfahren verbunden werden sollte.
Das BG Falun verurteilte den Stiefvater am 14.2.2006 in allen vier Punkten wegen sexueller Belästigung gemäß Kapitel 6 Art. 7 Abs. 3 StGB. Es verhängte eine bedingte Haftstrafe über ihn und verpflichtete ihn zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 20.000,– Schwedischen Kronen (SEK).
Das Svea Berufungsgericht in Stockholm verurteilte den Stiefvater am 16.10.2007 lediglich hinsichtlich der zwei Anklagepunkte wegen sexueller Belästigung der Cousine der Bf. und sprach ihn bezüglich der übrigen Anklagepunkte frei. Die Geldstrafe wurde auf SEK 3.000,– verringert. Hinsichtlich des Filmens der Bf. durch den Stiefvater sah das Gericht es als gegeben an, dass der Stiefvater die Bf. zu einem sexuellen Zweck geheim filmen wollte. Für das mögliche Vorliegen einer sexuellen Belästigung im Sinne des Kapitels 6 Art. 7 Abs. 3 StGB verwies es jedoch auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofes, wonach keine sexuelle Belästigung vorläge, wenn keine Absicht auf Seiten des Filmenden gegeben war, dass das Opfer von dem Filmen Kenntnis erlangte. Der Oberste Gerichtshof betonte in diesem Urteil auch, dass das Filmen für sich allein kein Verbrechen darstellen würde, da es im schwedischen Recht kein allgemeines Verbot für das Filmen einer Person ohne deren Zustimmung gebe. Das Berufungsgericht befand daher, dass der Stiefvater nicht bereits für das – ohne deren Wissen erfolgte – Filmen der Bf. strafrechtlich verantwortlich gemacht werden könne. Die Bf. sei zwar des Versuches des Stiefvaters, sie zu filmen, gewahr geworden, dies sei aber nicht vom Vorsatz desselben umfasst gewesen.
Das Berufungsgericht verwies außerdem darauf, dass die Handlung des Stiefvaters womöglich den Tatbestand der versuchten Kinderpornografie erfüllte, doch könne es darüber nicht befinden, weil keine entsprechende Anklage gegen den Stiefvater erfolgt sei.
Was den Vorfall anbelangte, bei dem der Stiefvater die Bf. 2003 durch das Fenster beobachtet hatte, hätte es dem Stiefvater hier ebenfalls an einem Vorsatz gefehlt, dass die Bf. dies bemerken sollte.
Der Oberste Gerichtshof ließ am 12.12.2007 eine Beschwerde an ihn nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. bringt vor, der schwedische Staat hätte seine Verpflichtungen unter Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) nicht erfüllt, ihr Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer persönlichen Integrität durch ihren Stiefvater zur Verfügung zu stellen.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
Die Kammer hatte in ihrem Urteil festgestellt, dass das schwedische Recht zwar keine Bestimmung für geheimes Filmen enthielt, allerdings Gesetze in Kraft waren, die zumindest theoretisch Fälle wie den vorliegenden erfassen konnten. Daher kam sie zum Ergebnis, dass in der schwedischen Gesetzgebung und Praxis keine derart bedeutenden Mängel gegeben waren, dass dies auf eine Verletzung der positiven Verpflichtungen Schwedens aus Art. 8 EMRK hinauslief.
Der GH stützt die Feststellung des Berufungsgerichts, dass die Handlung des Stiefvaters eine Verletzung der persönlichen Integrität der Bf. darstellte. Erschwerend zu werten ist, dass die Bf. noch minderjährig war, der Vorfall bei ihr zuhause stattfand, wo sie sich eigentlich sicher fühlen sollte, und dass der Täter ihr Stiefvater war, also eine Person, der sie berechtigterweise vertrauen durfte. Dieses Ereignis betraf die Bf. in höchst intimen Aspekten ihres Privatlebens. Andererseits umfasste die Tat nicht Gewalt, Missbrauch oder Kontakte physischer Natur. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Bf. nicht behauptete, dass der Rückgriff auf das Strafrecht den einzigen Weg darstellte, auf dem Schweden seine Verpflichtung nach Art. 8 EMRK erfüllen konnte, sie gegen die Handlung ihres Stiefvaters zu schützen. Sie beschwerte sich vielmehr auch über das Fehlen eines zivilrechtlichen Rechtsbehelfs, der ihr zu Schadenersatz verhelfen hätte können.
Angesichts dieser Vorüberlegungen wird der GH untersuchen, ob Schweden unter den speziellen Umständen des vorliegenden Falles einen geeigneten rechtlichen Rahmen besaß, um die Bf. vor den konkreten Handlungen ihres Stiefvaters zu schützen, und wird zu diesem Zweck jedes der ihr angeblich zur Verfügung stehenden Rechtsmittel bewerten.
Der von der Kammer angelegte Test, der auf das Vorliegen bedeutender Mängel abzielte, wurde von dieser mit Verweis auf das Urteil M. C./BG angewendet, wo es um den Anwendungsbereich der positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 3 und Art. 8 EMRK beim Gewähren von Schutz gegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch ging. In diesem Urteil hatte der GH den genannten Test jedoch in Bezug auf »angebliche Mängel bei der Untersuchung« angewendet und darauf hingewiesen, dass er sich »nicht mit Behauptungen von Fehlern oder einzelnen Versäumnissen befasst«. Die Große Kammer befindet indes, dass einem solchen Test, der im Zusammenhang mit Untersuchungen verständlich ist, keine tragende Rolle bei der Beurteilung zukommt, ob der belangte Staat einen geeigneten rechtlichen Rahmen im Einklang mit seinen positiven Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK besaß. Vor dem GH geht es im vorliegenden Fall jedoch gerade um die Frage, ob das Recht der Bf. unter den gegebenen Umständen ein annehmbares Maß an Schutz bot.
Kinderpornografie
Ein beträchtlicher Teil des Vorbringens der Parteien vor dem GH bezog sich auf die nach schwedischem Recht bestehende Straftat der versuchten Kinderpornografie. Das hat damit zu tun, dass das Berufungsgericht in seinem Urteil vom 16.10.2007 in einem obiter dictum darauf hingewiesen hatte, dass in Anbetracht des Alters der Bf. die fragliche Handlung zumindest theoretisch den Tatbestand der versuchten Kinderpornografie nach Kapitel 16 Art. 10a StGB erfüllt haben könnte.
Die Regierung ist der Ansicht, dass die betreffende Handlung unter bestimmten Umständen nicht nur unter den Tatbestand der sexuellen Belästigung, sondern auch unter jenen der versuchten Kinderpornografie fallen konnte. Auch wenn keine Informationen darüber vorlagen, ob der Staatsanwalt Überlegungen angestellt hatte, den Stiefvater der Bf. wegen versuchter Kinderpornografie anzuklagen, führt die Regierung einige mögliche Gründe an, warum der Staatsanwalt entschieden haben könnte, dies nicht zu tun, insbesondere eine Reihe von Schwierigkeiten im Hinblick auf die Beibringung von ausreichenden Beweisen, um zu zeigen, dass es hier um ein »pornografisches« Bild ging. Sie wies etwa darauf hin, dass die Mutter der Bf. den Film sofort nach dem Vorfall im September 2002 zerstört habe und dass die Bf. und ihre Mutter erst im September 2004 – und daher lange Zeit nach dem Vorfall – die Polizei verständigt hätten.
Nach Ansicht der Bf., die unter anderem auf die vorbereitenden Arbeiten zur Bestimmung über Kinderpornografie und ein Rechtsgutachten Bezug nahm, hätte ihr Stiefvater selbst bei Weiterbestehen des Films nicht wegen versuchter Kinderpornografie verurteilt werden können. Die Grundvoraussetzung für die Straftat fehle, nämlich dass das vorliegende Bildnis pornografisch war. Bilder von einer 14-jährigen, die sich auszog, um zu duschen, sich ansonsten aber in einer alltäglichen Situation befand, könnten nicht als pornografisch im Sinne von Kapitel 16 Art. 10a StGB angesehen werden. Damit der Film dieses Kriterium erfüllte, hätte der Stiefvater den Film beeinflussen müssen, indem er zum Beispiel den Anschein erweckte, die Bf. hätte für ihn Modell gestanden, oder den Film auf andere Weise in einen pornografischen Kontext rückte. Eine Anklage wegen versuchter Kinderpornografie hätte daher keine Aussicht auf Erfolg gehabt.
Der GH beobachtet, dass der Begriff »pornografisches Bild« im StGB nicht definiert war und dass die Gesetzesmaterialien, auf welche sich die Bf. bezog, ausführten, dass »eine gewisse Vorsicht angebracht war, um den kriminalisierten Bereich nicht zu weit zu fassen oder schwer beurteilbar zu machen. Es war nicht beabsichtigt, jede Aufnahme von nackten Kindern oder alle Bilder, auf welchen die Genitalien von Kindern wahrgenommen werden können, zu kriminalisieren, auch wenn solche Bilder den Sexualtrieb mancher Leute stimulieren mögen. Damit der Gebrauch eines Bildes unrechtmäßig ist, wurde vorausgesetzt, dass es nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und den allgemeinen Werten pornografisch ist«.
Vor diesem Hintergrund scheint die Möglichkeit, dass die Straftat der versuchten Kinderpornografie der Bf. Schutz gegenüber der Handlung im vorliegenden Fall gewährt haben könnte, eher theoretisch. Der GH ist nicht überzeugt davon, dass die Handlung des Stiefvaters von dem genannten Tatbestand umfasst war und sieht unter den speziellen Umständen keinen Bedarf, darüber zu spekulieren, welche Auswirkungen es auf den Schutz des Privatlebens der Bf. gehabt hätte, wäre auch eine dahingehende Anklage eingebracht worden.
Sexuelle Belästigung
Nach dem Urteil des Berufungsgerichts im vorliegenden Fall, das sich auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs stützte, war es daher – um die Straftat der sexuellen Beläs tigung nach Kapitel 6 Art. 7 Abs. 3 StGB vertreten zu können – erforderlich, dass der Täter, wenn er die strafbare Handlung vornahm, den Vorsatz hatte, dass das Opfer von der sexuellen Belästigung erfuhr oder dass dem Täter egal war, dass ein Risiko bestand, dass das Opfer ihm auf die Schliche kommen würde. Das Opfer musste sich daher der sexuellen Belästigung bewusst sein.
Diese Auslegung der Bestimmung über sexuelle Beläs tigung durch das Berufungsgericht wurde vom Obersten Gerichtshof in einem Urteil vom 23.10.2008 zu einem anderen Fall bestätigt. Der Oberste Gerichtshof sprach eine Person von sexueller Belästigung frei und wiederholte gleichzeitig, dass das schwedische Recht kein allgemeines Verbot gegen heimliches Filmen vorsah. Er bemerkte auch, dass der Bedarf nach einem diesbezüglichen stärkeren rechtlichen Rahmen in der schwedischen Legislative zwar bereits in den 1960ern anerkannt worden war, dies jedoch bis dato zu keinen konkreten Ergebnissen geführt habe. Er sah es als höchst fragwürdig an, ob es mit den Erfordernissen von Art. 8 EMRK vereinbar war, dass das Filmen eines Individuums in Situationen, in denen ein solches Filmen die persönliche Integrität der betreffenden Person ernsthaft verletzte, nach schwedischem Recht völlig unbestraft blieb.
Der GH stimmt mit der Bf. überein, dass der Stiefvater nicht von der sexuellen Belästigung freigesprochen wurde, weil es – wie von der Regierung behauptet – an den erforderlichen Beweisen fehlte, sondern weil dessen Handlung zur betreffenden Zeit rechtlich betrachtet keine sexuelle Belästigung darstellen konnte, worauf auch das Berufungsgericht hinwies.
Die Bestimmung über sexuelle Belästigung wurde am 1.4.2005 geändert, also nach der Vornahme der strafbaren Handlung durch den Stiefvater und vor dessen Freispruch. Die geänderte Bestimmung umfasste nunmehr auch Handlungen, die »in einer Weise, die voraussichtlich die sexuelle Integrität der betreffenden Person verletzt«, durchgeführt wurden. Die Kommission für Sexualverbrechen äußerte sich dahingehend, dass die geänderte Bestimmung ihrer Ansicht nach Handlungen umfasste, die gegen Personen gerichtet waren, die bewusstlos waren oder schliefen, und dass sie auch auf Situationen angewendet werden könnte, wo eine Person eine andere in sexuell zudringlicher Weise heimlich filmte oder fotografierte.
Der GH beobachtet, dass die Regierung nicht auf irgendeine nationale Rechtsprechung hingewiesen hat, mit welcher die geänderte Bestimmung über sexuelle Belästigung auf nach dem 1.4.2005 erfolgtes heimliches Filmen angewendet wurde. Es reicht jedenfalls aus, dass die Bestimmung über sexuelle Belästigung mit dem vor dem 1.4.2005 bestehenden Wortlaut und so wie sie im vorliegenden Fall vom Berufungsgericht in seinem Urteil vom 16.10.2007 interpretiert wurde, die fragliche Handlung des Stiefvaters rechtlich nicht umfassen konnte und die Bf. daher nicht gegen die fehlende Achtung ihres Privatlebens schützte.
Jüngere Gesetzgebung zum heimlichen Filmen
Es scheint auch nicht, dass die oben genannten Lücken durch andere nationale Bestimmungen kompensiert wurden. In diesem Zusammenhang muss der GH feststellen, dass das Fehlen entsprechender Bestimmungen in Schweden schon lange im Fokus stand und dass viele andere Mitgliedstaaten über eine Gesetzgebung verfügen, die das alleinige heimliche oder nicht der Einwilligung des Betroffenen unterliegende Filmen/Fotografieren einer Person, egal ob Kind oder Erwachsener, aus anderen als sexuellen Gründen entweder über das Straf- oder das Zivilrecht erfasst.
Seit 1.7.2013 ist eine neue Bestimmung in Kraft, wonach das heimliche Filmen einer Person ohne deren Erlaubnis in einer Dusche oder einem Bad als »Zudringliches Fotografieren« strafbar wäre. Das Platzieren oder Zurechtbasteln einer Kamera mit dem Ziel, eine solche Straftat zu begehen, wäre als Vorbereitung zu so einem Delikt ebenso strafbar.
Diese Gesetzgebung soll eine Handlung wie die des vorliegenden Falles umfassen. Die Bf. konnte sich im Hinblick auf einen Vorfall aus 2002 jedoch nicht auf die neue Gesetzgebung berufen und sich daher keinen derartigen Schutz ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens zunutze machen.
Zivilrechtliche Rechtsbehelfe
Im gegenständlichen Fall war der Rückgriff auf das Strafrecht nach Ansicht des GH nicht notwendig der einzige Weg, auf dem der belangte Staat seine Verpflichtungen unter Art. 8 EMRK erfüllen konnte. Daher stellt sich die Frage, ob für die Bf. ein zivilrechtlicher Rechtsbehelf verfügbar war.
In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, dass die Bf. ihre zivilrechtliche Entschädigungsklage gegen ihren Stiefvater mit dem strafrechtlichen Verfahren gegen ihn verbunden hatte. Sie stützte diese »auf die Straftat, wegen derer der Stiefvater verfolgt wurde«. Laut der Regierung ist der Anspruch teils auf § 1 und teils auf § 3 des Kapitels zwei des Gesetzes über die Verschuldenshaftung gestützt.
Das Berufungsgericht wies, als es den Stiefvater in seinem Urteil vom 16.10.2007 freisprach, auch die Schadenersatzklage der Bf. ab. Die Regierung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gemäß Kapitel 29, § 6 Gerichtsverfahrensgesetz dann, wenn eine zivilrechtliche Klage mit einer Strafverfolgung verbunden wird, die Feststellung des Gerichts zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit bindend im Hinblick auf die Entscheidung der privaten Klage ist. Daher war es dem Berufungsgericht nicht möglich, Schadenersatz auf Basis von Kapitel 2 § 3 Verschuldenshaftungsgesetz zuzusprechen, da kein Verbrechen im Sinne des StGB vorlag. Diese Schlussfolgerung steht im Einklang mit der Aussage des Obersten Gerichtshofes in seinem Urteil vom 23.10.2008, wonach das schwedische Recht kein allgemeines Verbot heimlichen Filmens enthielt und dass in Fällen, in welchen ein solches Filmen kein Verbrechen darstellte, keine Entschädigung zugesprochen werden konnte.
Trotzdem behauptet die Regierung, dass sich die Bf. in den Strafverfahren auf andere Gründe stützen hätte können, um den Schadenersatzanspruch gegen ihren Stiefvater zu untermauern, nämlich insbesondere dass er ihr persönlichen Schaden zugefügt habe, indem er gemäß Kapitel 2 § 1 Verschuldenshaftungsgesetz fahrlässig gehandelt hätte. Damit hätte jeder körperliche oder psychische Schaden umfasst werden können.
Diesbezüglich muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Stiefvater zu keiner Zeit während der Ermittlungen oder des Strafverfahrens behauptete, dass er die Kamera versehentlich im Aufnahmemodus im Wäschekorb im Badezimmer gelassen hatte. Ganz im Gegenteil dazu erkannte er an, dass dies eine vorsätzliche, wenn auch spontane Handlung gewesen sei. Daher konnte nach Ansicht des GH von der Bf. und ihrem Anwalt nicht erwartet werden, sich auf Fahrlässigkeit zu berufen, nur um sicherzustellen, dass ihr Anspruch behandelt würde, sollte die fragliche Handlung nicht als vom Tatbestand der sexuellen Belästigung erfasst gesehen werden.
Deshalb ist der GH nicht überzeugt davon, dass der Bf. in der besonderen Situation des Falles, in welcher die fragliche Handlung von der Bestimmung über sexuelle Belästigung rechtlich nicht umfasst war und heimliches Filmen allgemein kein Verbrechen darstellte, ein zivilrechtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand.
Entschädigung nach der Konvention
Zu guter Letzt hat der GH die Behauptung der Bf. berücksichtigt, dass die nationalen Gerichte ihr im Strafverfahren eine Entschädigung allein auf Grundlage der Konvention zuerkennen hätten können, dies aber verabsäumt hätten.
Obwohl der Oberste Gerichtshof einen Grundsatz aufgestellt hatte, wonach eine Person vom Staat für Verletzungen der Konvention ohne Berufung auf eine spezielle Bestimmung des schwedischen Rechts Schadenersatz zuerkannt bekommen konnte, konnte dieser Grundsatz – wie von der Regierung bemerkt – nicht auf Ansprüche zwischen Individuen angewendet werden, da es für den Einzelnen schwer wäre, aus der Rechtsprechung des GH vorherzusehen, wann er oder sie zur Zahlung von Schadenersatz verpflichtet sein könnte. Mit Blick auf die schwedische Praxis zur Entschädigung für Verletzungen der Konvention ist der GH daher nicht überzeugt, dass diese Abhilfsmöglichkeit tatsächlich existierte und das Fehlen eines zivilrechtlichen Rechtsbehelfs in der besonderen Situation des Falles ausgleichen konnte.
Ergebnis
Unter Berücksichtigung aller obigen Erwägungen kann der GH nicht anerkennen, dass das einschlägige schwedische Recht mit Stand September 2002, als es zu dem Versuch durch den Stiefvater kam, die Bf. nackt für einen sexuellen Zweck zu filmen, den Schutz von deren Recht auf Achtung des Privatlebens auf eine Weise sicherstellte, die ungeachtet des Ermessensspielraums des Staates dessen positive Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK erfüllte. Die fragliche Handlung verletzte die Integrität der Bf. und wurde durch die Umstände erschwert, dass sie minderjährig war, dass der Vorfall in ihrem Zuhause stattfand, wo sie sich sicher fühlen sollte, und dass der Täter ihr Stiefvater war, eine Person, der sie berechtigterweise vertrauen konnte. Wie der GH jedoch oben festgestellt hat, gab es unter schwedischem Recht weder ein straf- noch ein zivilrechtliches Rechtsmittel, das es der Bf. unter den konkreten Umständen des Falles ermöglichte, wirksamen Schutz gegen die genannte Verletzung ihrer persönlichen Integrität zu erlangen. Verletzung von Art. 8 EMRK (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Kalaydjieva; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 29.700,– für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Kalaydjieva).
Vom GH zitierte Judikatur:
X. und Y./NL v. 26.3.1985 = EuGRZ 1985, 297
M. C./BG v. 4.12.2003 = NL 2003, 316
C. A. S. und C. S./RO v. 20.3.2012
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.11.2013, Bsw. 5786/08
entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 413) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_6/Soderman.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.