Bsw29369/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Morice gg. Frankreich, Urteil vom 11.7.2013, Bsw. 29369/10.
Spruch
Art. 6 Abs. 1, 10 EMRK - Überschießende Kritik an U-Richterin durch Anwalt.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 6.000,– für immateriellen Schaden (6:1 Stimmen); € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Vorgeschichte
Der Bf. ist praktizierender Rechtsanwalt in Paris. Er vertrat die Witwe des französischen Richters Bernard Borrel, der Berater am Justizministerium von Dschibuti war und dessen Leiche am 19.10.1995 nahe der gleichnamigen Stadt in teilweise verkohltem Zustand aufgefunden worden war. Die von der örtlichen Polizei durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass er Suizid durch Selbstverbrennung begangen hatte.
Im Februar 1997 erstattete die Witwe, welche sich dieser These nicht anschließen wollte, Strafanzeige gegen unbekannt wegen Mordes und schloss sich dem daraufhin eingeleiteten Strafverfahren als Privatbeteiligte an. Ein von ihr in Auftrag gegebenes Privatgutachten kam zu dem Schluss, dass ihr Mann zum Zeitpunkt der Verbrennung bereits tot gewesen sein musste, da sich keine Kohlepartikel in seinen Lungen fanden. Der Fall wurde in der Folge der am Pariser Tribunal de grande instance tätigen Untersuchungsrichterin M., die von ihrem Kollegen L. L. unterstützt wurde, übertragen. Im März 1999 begaben sich die beiden Untersuchungsrichter nach Dschibuti. Die Witwe von Richter Borrel bzw. der Bf. wurden dem dortigen Lokalaugenschein nicht beigezogen.
Im März 2000 reisten M. und L. L. zwecks Rekonstruktion der strittigen Ereignisse ein zweites Mal nach Dschibuti. Am 21.6.2000 wurden sie vom Pariser Cour d’appel aufgrund ihrer als ungerechtfertigt erachteten Weigerung, sich in Gegenwart der privatbeteiligten Parteien nach Dschibuti zu begeben, vom Fall abgezogen. Der Akt wurde Untersuchungsrichter P. übertragen.
Das Strafverfahren gegen den Bf.
Am 6.9.2000 wandte sich der Bf. mit einem Brief an den Justizminister und kündigte an, das Justizministerium über das »der Unparteilichkeit und Loyalität krass zuwiderlaufende Verhalten der Richter M. und L. L.« informieren zu wollen, ferner möge der Justizminister eine »generelle Untersuchung hinsichtlich der zahlreichen Missstände, die im gegenständlichen Ermittlungsverfahren aufgetreten sind,« einleiten. Begründend führte er aus, die beiden Untersuchungsrichter hätten eine Videokassette mit von vor Ort gemachten Aufnahmen ungeachtet ihres Abzugs vom Fall zurückbehalten und sie P. erst einen Monat später übermittelt. Beim Öffnen der Kassette habe Letzterer einen an M. adressierten Brief vorgefunden, der allem Anschein nach vom Generalprokurator der Republik Dschibuti stamme und in dem Folgendes stehe: »Hallo, Marie-Paule! Ich schicke Dir anbei die Videokassette vom Transport in Goubet. [...] Ich habe die Sendung ›Ohne jeden Zweifel‹ auf TF1 gesehen. Frau Borrel und ihre Anwälte haben sich also entschieden, mit ihren Manipulationen fortzufahren. [...] Ich umarme Dich, Djama.« Dieser Brief enthülle, erstaunlich und bedauerlich, eine intime Komplizenschaft zwischen der französischen Richterin und dem dschibutischen Generalprokurator, welcher direkt dem Regierungschef unterstehe. Letzterer stehe im Verdacht, hinter der Ermordung von Bernard Borrel zu stecken.
Am 7.9.2000 erschien in der Tageszeitung »Le Monde« ein Artikel mit dem Titel »Die Affaire Borrel: Die Unparteilichkeit von Richterin M. steht in Frage!«, in dem über die vorgefundene Videokassette und den Brief berichtet wurde. Am 12. bzw. 15.10.2001 erstatteten M. und L. L. gegen den Direktor von »Le Monde«, den Autor des Artikels und den Bf. Strafanzeige wegen öffentlicher Diffamierung. Mit Urteil vom 4.6.2002 wurde der Bf. vom Tribunal de grande instance Nanterre der Beitragstäterschaft schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von € 4.000,– sowie zu einer – gemeinsam mit den Mitangeklagten zu tragenden – Entschädigung in der Höhe von jeweils € 7.500,– verurteilt. Ferner wurde ihm die Einschaltung einer Mitteilung über die Verurteilung in »Le Monde« aufgetragen. Das Urteil wurde vom Cour d’appel Rouen bestätigt, eine Beschwerde an den Cour de cassation – beisitzender Richter war J. M. – verlief erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren vor einem unparteiischen Gericht) und von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Der Bf. rügt, Richter J. M., der jenem Senat des Cour de cassation angehörte, der über seine Beschwerde entschied, habe zuvor, nämlich während einer Versammlung der Richter des Pariser Tribunal de grande instance am 4.7.2000, öffentlich seine Unterstützung für M. erklärt.
Zur Zulässigkeit
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe nicht den innerstaatlichen Instanzenzug ausgeschöpft, da er einen Antrag auf Ablehnung von J. M. hätte stellen können.
Den vorgelegten Dokumenten ist zu entnehmen, dass die Angelegenheit von einem eingeschränkten Senat der ersten Strafkammer des Cour de cassation geprüft wurde und dass nicht im Vorhinein daran gedacht war, J. M. heranzuziehen. Der Bf. konnte somit nicht wissen, dass dieser Mitglied jenes Senats sein würde, der über seine Beschwerde entschied. Was die Möglichkeit anging, diese Frage in der Verhandlung anzusprechen, ist zu vermerken, dass das Verfahren vor dem Cour de cassation im Wesentlichen schriftlich war und aus den Akten nicht ersichtlich ist, dass dem Bf. von seinem Verteidiger hierbei Unterstützung geleistet worden wäre. Da der Bf. somit keinen Grund hatte, J. M. im Vorhinein abzulehnen bzw. einen Ablehnungsantrag zu stellen, ist der Einwand der Regierung zurückzuweisen (einstimmig).
In der Sache
Anlässlich einer Versammlung am 4.7.2000 hatte J. M. Richterin M. seine Unterstützung versichert. Deren Person war Gegenstand von Diskussionen aufgrund der Art und Weise, wie sie eine Untersuchung hinsichtlich der Scientologen-Kirche führte. Der Bf. vertrat damals einige Nebenkläger genau in dieser Sache und hatte den Justizminister eingeschaltet, weil es Schwierigkeiten mit M. gab.
Dem GH ist nicht ersichtlich, dass J. M. gegenüber dem Bf. persönlich voreingenommen war. Er wird den Fall daher hinsichtlich dessen objektiver Unparteilichkeit prüfen.
J. M. war Mitglied eines Senats des Cour de cassation, der über das Rechtsmittel des Bf. absprach und es abwies, also die strafrechtliche Verurteilung wegen öffentlicher Diffamierung von M. bestätigte. Neun Jahre zuvor hatte er eine öffentliche Unterstützungserklärung für M. in einer anderen Gerichtsangelegenheit abgegeben, in der sie Untersuchungsrichterin war, während der Bf. einen Nebenkläger vertrat.
M. war zum Zeitpunkt der Abgabe der öffentlichen Erklärung des J. M. Untersuchungsrichterin in der »Affäre Borrel«, die bedeutende politische und mediale Aufmerksamkeit erregte. Für den GH scheint somit klar zu sein, dass der Bf. und M. sowohl in dem Fall, wo J. M. Richterin M. einige Jahre zuvor öffentlich seine Unterstützung zugesagt hatte, als auch in dem Fall, wo J. M. als beratender Richter des Cour de cassation fungierte, zueinander in Opposition standen. Darüber hinaus war die Unterstützungserklärung in einem offiziellen Rahmen erfolgt und war von allgemeinem Charakter.
Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass an der Unparteilichkeit des Cour de cassation ernsthafte Zweifel aufkommen konnten. Die dahingehenden Zweifel des Bf. waren somit objektiv gerechtfertigt. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Der Bf. bringt vor, die Einschränkungen in seine Meinungsäußerungsfreiheit durch die strafrechtliche Verurteilung seien weder in einer demokratischen Gesellschaft notwendig noch verhältnismäßig gegenüber den damit verfolgten Zielen gewesen.
Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).
Vorab ist festzuhalten, dass sich der Bf. im strittigen Artikel in »Le Monde« nicht auf faktische Erklärungen betreffend das Fehlen der Videokassette und die Auffindung eines Briefes vom Generalprokurator der Republik Dschibuti beschränkte. Er fügte diesen Tatsachenbehauptungen Werturteile hinzu, in denen er die Unparteilichkeit und Loyalität von M. in Frage stellte und auf die Existenz einer geheimen Absprache zwischen beiden hinwies. Am Vortag hatte sich der Bf. – mit denselben Bedenken – schriftlich an den Justizminister gewandt und eine generelle Untersuchung hinsichtlich der zahlreichen Missstände, die im Ermittlungsverfahren in der »Affaire Borrel« aufgetreten seien, beantragt.
Der GH stellt fest, dass M. bereits mit Beschluss des Pariser Cour d’appel vom 21.6.2000 vom Fall abgezogen worden war. Zum Zeitpunkt, zu dem der Bf. Erklärungen hinsichtlich ihrer Vorgangsweise in der »Affaire Borrel« abgab, war sie für den Fall nicht mehr zuständig. Somit bleibt festzuhalten, dass der Bf. öffentlich – und zwar in einer Tageszeitung mit hoher Auflagenzahl – eine Untersuchungsrichterin attackierte und das Funktionieren der Justiz in Frage stellte, ohne abzuwarten, wie der Justizminister auf seinen tags zuvor gestellten Antrag reagieren würde. Ungeachtet des mutmaßlichen Ziels, die Öffentlichkeit über ein eventuelles Versagen der Justiz zu informieren (was vom GH als eine im öffentlichen Interesse geführte Debatte anerkannt wird), verwendete der Bf. dabei eine besonders heftige Wortwahl und nahm damit das Risiko auf sich, nicht nur den Justizminister, sondern auch die Untersuchungskammer, die mit seinem Antrag betreffend den vom M. bearbeiteten Akt über die Scientologen-Kirche befasst war, zu beeinflussen.
Der GH hat bereits festgestellt, dass Anwälten Meinungsäußerungsfreiheit zusteht und sie sich öffentlich über Fehlfunktionen der Justiz äußern dürfen. Eine Kritik daran darf freilich gewisse Grenzen nicht überschreiten. Angesichts der Schlüsselrolle von Anwälten in diesem Bereich darf vielmehr erwartet werden, dass sie selbst zum guten Funktionieren der Justiz – und damit zum Vertrauen der Öffentlichkeit in diese – beitragen.
Während die Presse eines der Mittel repräsentiert, das den politisch Verantwortlichen und der öffentlichen Meinung zur Verfügung steht, um sich zu vergewissern, dass Richter ihrer großen Verantwortung betreffend den ihnen von der Verfassung anvertrauten Aufgaben nachkommen, ist es vordringliche Aufgabe der Anwälte, ihre Mandanten zu vertreten und Rechtsmittel einzulegen, um eventuellen Missständen in der Justiz abzuhelfen. Einen derartigen Weg hat der Bf. auch beschritten.
Dennoch ist zu konstatieren, dass der Bf. in der Art und Weise, wie er sich ausgedrückt hat, ein Verhalten an den Tag legte, welches die Grenzen überschritt, die Anwälte bei der öffentlichen Kritik der Justiz zu beachten haben. Die nationalen Gerichte konnten somit zu Recht davon überzeugt sein, dass die von ihm getätigten Äußerungen über M. schwerwiegend und ehrenrührig waren und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu untergraben vermochten – war doch der Akt mehrere Monate zuvor einem anderen Richter übergeben worden. Die vom Bf. abgegebenen Erklärungen ließen, von der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse her, zudem darauf schließen, dass er gegenüber M. Animositäten hegte. Es bestanden somit ausreichende Gründe für seine Verurteilung wegen Diffamierung.
Zur Verhältnismäßigkeit der über den Bf. verhängten Sanktionen ist zu sagen, dass eine strafrechtliche »Antwort« auf diffamierende Tatsachen dem gesetzlich verfolgten Ziel gegenüber nicht überzogen ist. Auch die Geldstrafe und die solidarisch zu entrichtende Entschädigung waren durchaus angemessen.
Unter diesen Umständen haben die nationalen Behörden ihren Ermessensspielraum nicht überschritten, indem sie den Bf. mit einer Sanktion belegten. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Yudkivska).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 6.000,– für immateriellen Schaden, € 6.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Lemmens).
Vom GH zitierte Judikatur:
Schöpfer/CH v. 20.5.1998 = NL 1998, 102 = ÖJZ 1999, 237
Lindon, Otchakovsky-Laurens und July/F (GK) v. 22.10.2007 = NL 2007, 261
Micallef/M v. 15.10.2009 (GK) = NL 2009, 294
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.7.2013, Bsw. 29369/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 254) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_4/Morice.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.